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Leiter zum Mond
"Ich hab mal irgendwo gelesen, dass wenn man alle Videos von Youtube auf CDs brennen würde..."
"Du meinst DVD, oder?"
"Nee, schon CDs."
"Aber da passen doch nur sechshun..."
"Ja, warts ab", unterbricht er. "Der Clou kommt gleich. Also, wenn man all diese Videos auf CDs... äh... schönen Dank auch, jetzt hab ich den Faden verloren."
"Wenn man die brennt", helfe ich aus, denn ich bin ja nicht so.
"Genau. Weißt du, was dann passiert?"
"Man stellt fest, dass man auf einmal keine Freunde mehr hat?"
"Was? Nee. Auch. Aber vor allem kann man diese CDs dann aufeinander stapeln. Und dieser Stapel, und jetzt kommts, der würde von hier bis rauf zum Mond reichen."
"Quatsch."
"Nix Quatsch. Hab ich gelesen. Im Internet nämlich."
"Aber mal ganz davon abgesehen, wo soll man denn überhaupt so viele CDs herkriegen?" In diesem Moment bemächtigt sich Stille unserer Konversation und hüllt sie ein in einen sanften Kokon aus Nachdenklichkeit, während Stirnen gefurcht, Hirne gemartert und Gedanken durch den ewigen Mikrokosmos aus unsagbarer Vorstellungskraft und universeller Kernkompetenz getrieben werden, bis schließlich in jenem erlösenden Moment die Inspiration auf uns hernieder prasselt, wie ein deviner Regenschauer auf den vor Dörre krustenden Nährboden unserer Ahnungslosigkeit.
"Ebay", sagt Bernie und Gott allein weiß, dass er verdammt nochmal Recht hat.
Man mag sich nun die berechtigte Frage stellen, wie Bernie überhaupt auf dieses Thema gekommen ist. Nun, der Martin, ein gemeinsamer Bekannter von uns beiden, hat vor ein paar Tagen mit der Idee angegeben, er wolle eine Leiter bauen. Nicht irgendeine, denn das könne ja jeder - nee, eine Leiter bis ganz hoch zum Mond sollte es werden. Und seitdem ist das halt ein Thema bei uns.
Aber das ist eigentlich auch wieder nur so ein uninteressantes Detail. Zurück zu der Sache mit dem diamantenen Pinguin der Liebe.
"Der ist echt wertvoll", hat der Rudi nämlich gesagt. Gestern Abend. Und Rudi musste es wissen, denn er war schließlich der viertbeste Hehler der Stadt. Zwar nur, weil Tortentoni mal wieder im Knast saß, aber immerhin.
"Wer baut denn einen Diamanten aus Pinguinen?", wollte Bernie wissen, weil er nicht mehr ganz nüchtern war. "Das ist dumm."
"Ich glaube", griff ich korrektativ ein, "Rudi meint das andersrum."
"Ach so. Trotzdem dumm."
"Ja. Aber wertvoll." Rudi nannte eine Zahl, Bernie ließ den Unterkiefer ungeniert runterklappen, ich fragte nochmal nach, weil ich auch nicht mehr ganz nüchtern war, Rudi wiederholte die Zahl und dann imitierte ich Bernie in Sachen Mimik und Manieren. Ja, so etwa war das.
Und nur aus diesem Grund, und weil wir beide gestern wie gesagt nicht ganz nüchtern waren, knien Bernie und ich jetzt also hinter dieser Glasvitrinie, in der eine Schildkröte aus Lapislazuli mit drögem Blick ihr weißblau marmoriertes Dasein fristet, sinnieren über die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten optischer Datenträger und warten darauf, dass diese roten Laserstrahlen endlich aufhören, so wirr durch den Raum zu huschen. Die machen einen nämlich ganz dröge im Kopf - mal ganz davon abgesehen, dass hier sofort der Alarm losgeht, sobald man einen davon berührt.
"Das ganze Geflirre hier macht einen ganz kirre", erkennt Bernie dann auch folgerichtig. Der Reim ist dabei keine Absicht, denn Bernie ist alles, aber kein Poet.
"Weißt du, was ich nicht glaube?", frage ich und Bernie zuckt mit den Schultern. "Ich glaube nicht, dass das von alleine aufhört. Laser machen das nicht. Hab das mal in nem Film gesehen."
"Du guckst Filme über Laser? Nerd."
"Nee. Da gings um ne Alarmanlage. Und Sean Connery. Aber jedenfalls sind die Laser da auch nicht von alleine ausgegangen. Hat die ganze Nacht lang rumge... naja, was Laser halt so machen."
"Rumflirren?"
"Ja."
Okay, ich kürze mal ab: Bernie, in dessen Bierbauch sich seiner eigenen Auffassung zufolge irgendwo ein alter Ninja reinkarniert, hat nach fünf weiteren Minuten hinter der Vitrine keinen Bock mehr und fasst den nur im ersten Moment verwegen wirkenden Plan, sich einfach das Bewegungsmuster der Laser einzuprägen und dann zippi zappi zwischendurch zu huschen, scheitert dann bei der Ausführung jedoch ebenso grandios wie vorhersehbar, weil er erstens nicht in der Lage ist, sich das Muster einzuprägen, zweitens mit einem Ninja generell etwa soviel gemeinsam hat, wie eine Lapislazulischildkröte mit einer Dose Streichwurst und ihm drittens vom vielen Rumgehocke hinter der Vitrine der linke Fuß eingeschlafen ist.
Dann gibts Alarm, ein paar Typen mit Schlagstöcken, viel Geschrei und noch mehr Rumgerenne. Stressig.
"Ich kann nicht mehr", keucht Bernie.
"Ich auch nicht", gebe ich keuchenderweise zurück, weil ich es nicht anders kann.
"Mein Fuß ist eingeschlafen."
"Gut zu wissen."
"Und ich hab Nasenbluten."
"Wo?"
"Wie, wo? In der Nase. Krieg ich immer, wenn ich rennen muss."
Ach so, wir haben uns übrigens in einer Besenkammer versteckt.
Es hatte irgendwie etwas Hypnotisches an sich, wie Rudi dann gestern versucht hat, uns zu erklären, wie unsinnig Martins Plan mit der Leiter doch wäre. Er hielt zu Demonstrationszwecken eine Faust nach vorne ausgestreckt, die wohl die Erde darstellen sollte. Die zweite Faust war der Mond, wozu man noch anmerken muss, dass Rudi vorher geschlagene drei Minuten damit verbracht hatte, klarzustellen, wie viel Scheiß er auf Maßstabsgetreue gab. Einen nämlich.
Dann hat er, um verschiedene kosmische Gesetze zu verdeutlichen, mit der einen Faust eine Drehbewegung nebst Eigenrotation beschrieben, die zweite um die erste kreisen lassen, dabei einen Zeigefinger ausgestreckt, der nach einhelliger Meinung auf jeden Fall die Leiter darstellen sollte, und sich dabei nach wenigen Sekunden so sehr in sich selbst verheddert, dass es dann auch irgendwann nicht mehr lustig war.
Aber zurück zum Thema. Meine persönliche Liste, der Dinge, die zwar nach meinem gesunden Menschenverstand eigentlich unvermeidbar sein sollten, manchmal aber durch einen Wink des Schicksals oder die Poesie des Lebens oder wasweißich dann doch nicht passieren, ist ab jetzt etwas länger. Wenn man sich vor Nachtwächtern in einer Besenkammer versteckt, wird man nämlich gar nicht immer entdeckt. Bernie hats ja gleich gesagt.
"Hab ich doch gesagt."
"Ja, Punkt für dich. Die Besenkammer war doch ne gute Idee."
"Bin jahrelang selber Nachtwächter gewesen und weiß, wie die ticken. Die sind einfach dumm."
"Du musst es ja wissen. Wie gehts deiner Nase?"
"Blutet nicht mehr."
Nachdem wir also geklärt haben, dass nun alles wieder gut ist, trauen Bernie und ich uns wieder aus der Besenkammer heraus. Der zweite Anlauf in Sachen Pinguinbeschaffungsmaßnahme sollte, und da waren wir uns bemerkenswert einig, etwas durchgeplanter stattfinden und vor allem, und da habe ich drauf bestanden, keine Ninjas beinhalten. Schon gar nicht welche, die sich irgendwo in Bernies Bierbauch reinkarnieren.
"Okay", beginnt Bernie flüsterleise. "Ich suche den Sicherungskasten und schneide einfach das Kabel durch."
"Welches Kabel?"
"Kommt drauf an. Wenns ein rotes gibt, dann das rote."
"Und wenn nicht?"
"Dann das blaue."
"Und welche Rolle spiele ich in diesem ausgefuchsen Plan?"
"Du nimmst diesen Hammer hier", zu meiner Überraschung produziert Bernie tatsächlich einen Hammer aus seiner modischen Herrenhandtasche aus Kunstlederimitat hervor, "und kloppst damit die Vitrine kaputt."
"Und wenn dadurch noch ein Alarm ausgelöst wird?"
"Guter Punkt." Bernie legt seine Stirn in Falten, wie er es immer tut, wenn pure Konzentration in den Hohlraum zwischen Inspiration und Fachwissen strömt. In manchen Kreisen, in denen ich aus genau diesem Grund nicht verkehre, trägt der deshalb den Spitznamen "Bernie, die Denkerstirn". "Ich glaube", fährt er fort, "ich schneide am besten gleich beide Drähte durch."
Mal was Anderes. Gut aufpassen, das könnte später noch wichtig werden.
Das Universum an sich ist ja ziemlich groß. Es erstreckt sich von hier bis ganz da hinten, wobei ganz da hinten ein Ort ziemlich weit weg ist. Der springende Punkt ist jetzt, dass das Universum sich in alle Richtungen bis ganz da hinten erstreckt und ganz da hinten dabei immer ziemlich weit weg ist. Wenn das Universum sich nun aber in alle Richtungen gleichmäßig ausbreitet, lässt das nur den einen Schluss zu, dass das Universum kugelförmig ist. Klar soweit?
Und jede Kugel hat einen Mittelpunkt, der zugleich ihr Schwerpunkt ist. Das ist auch gut so, denn wäre der Schwerpunkt nicht genau in der Mitte, würde sie einfach umkippen.
Bernie schneidet also beide Drähte durch, die Laserstrahlen verschwinden und ich kloppe mit dem Hammer die Vitrine kaputt. Es gibt ein klirrendes Geräusch, wie es nun einmal entsteht, wenn Glas auf Hammer trifft und dabei mit Bedauern feststellt, dass es einfach nicht dafür gemacht ist.
"Gut gemacht", lobt Bernie und ich hasse ihn dafür. Fehlt nur noch, dass er mir gleich ein Leckerli zuwirft und mein Bein tätschelt. Wobei... wenn das Leckerli aus Wurst ist, immer her damit.
"Hast du dich eigentlich mal gefragt, warum das Ding ausgerechnet diamantener Pinguin der Liebe heisst?", frage ich.
"Nö. Ich finde ja das ganze Konzept von diesem Ding dumm. Hab ich auch gestern schon gesagt. Glaube ich. Ich war nicht mehr ganz nüchtern."
"Hast du und warst du nicht, ja."
"Aber ich schätze, dass es mit der Form zu tun hat. Und dem Material."
"Ja. Es sieht aus wie ein Pinguin, das ist klar. Und ist aus Diamant. Aber warum Liebe?"
"Weil jeder Diamanten liebt. Und Pinguine."
"Entschuldige, wenn ich da korrektativ widersprechen muss", widerspreche ich, "aber niemand liebt Pinguine. Man mag sie vielleicht, respektiert sie für ihre Lebensweise, schätzt sie unter Umständen sogar, aber lieben? Liebe ist ein großes Gefühl."
"Korrewas? Das ist nichtmal ein Wort, Typ. Auf der Grundlage diskutiere ich nicht. Komm, lass uns einfach das Ding einpacken und dann abhauen."
Bernie greift nach der kristallenen Pinguinheit, die dort auf ihrem roten Samtsockel thront, als könne sie kein Wässerchen trüben. Und in dem Moment, in dem er den Vogel an sich nimmt, passiert etwas Ungewöhnliches: alles bewegt sich.
Ein sanfter Ruck geht durch die Umgebung, als alles, und damit meine ich wirklich alles, die Vitrine, Bernie, die Lapislazulischildkröte und ich, um ein milliardstel Grad nach links kippt.
"Halt! Stehenbleiben!", schnauft der Nachtwächter, der vielleicht doch nicht ganz so dumm ist, wie Bernie. Moment. Wie Bernie vermutet hat, wollte ich sagen. Er trägt eine Taschenlampe in der linken Hand und, etwas bedrohlicher wirkend, eine Pistole in der rechten. Mit beidem zielt er in eine ungefähre Richtung, an deren anderem Ende Bernie und ich uns befinden.
"Wir stehen."
"Gut. Und jetzt legen Sie das Objekt zurück. Ganz langsam."
Das Objekt, wie der Wachmann es nennt, denkt ja gar nicht daran, sich einfach so wieder zurück legen zu lassen. Schon gar nicht, wenn die Verlockung der Schwerkraft droht, und mit der samtenen Stimme einer odyssischen Sirene das verführerische Lied von Freiheit und Adrenalin in jedes Ohr haucht, das bereit ist, zuzuhören. Und so nimmt der Pinguin die Chance wahr, die sich bietet, als Bernies schwitzige Hand sich ebenso zittrig wie unbewusst einen Millimeter öffnet und ergibt seinen diamantenen Körper den Fängen der Schwerkraft.
Es gibt einen Knall, gefolgt vom Geräusch eines über den Boden rollenden Pinguins aus gepresster Kohle. Und dann passiert schon wieder etwas Interessantes. Zugegeben nicht mehr ganz so interessant, wie beim ersten Mal, einfach weil man es jetzt schon mal gesehen hat, aber trotzdem nicht komplett uninteressant.
Das Universum, welches bekanntermaßen die Form einer Kugel hat, tut nämlich in diesem Moment das, was eine Kugel nun einmal tut, wenn ihr Mittelpunkt aus dem Gleichgewicht gebracht wird, und kippt um.
Und, egal aus welchem Standpunkt man es auch betrachtet, sowas kann keine gute Sache sein.
Der Wachmann verliert das Gleichgewicht und landet auf seinem Hintern. Ein Schuss löst sich aus seiner Pistole, aber im kosmischen Theater der Ereignisse ist es nicht mehr als unwichtige Randnotiz, dass die Kugel den rubinroten Seepferdchensmaragd der Chromatographie exakt in der Mitte spaltet. Bevor die anderen Wachmänner den Ausstellungssaal erreichen, nehmen Bernie und ich die Beine in die Hand, jeder seine eigenen, und sprinten nicht nur Richtung Fenster, nein, wir springen auch hindurch.
Der kurz darauf folgende Rumms ist übrigens nur das Ergebnis des Aufpralles des Mondes auf der anderen Seite der Erde.
"Ihr habt den diamantenen Pinguin der Liebe also zurückgelassen?", schäumt der fünftbeste Hehler der Stadt wütend.
"Er ist mir einfach aus der Hand gefallen. Ich war ein wenig schwitzig. Entschuldige bitte."
"Und danach hat alles gerumpelt", übernehme ich den Faden. "Und als dann der Mond auf die Erde geknallt ist, wurde es irgendwie... hektisch."
"Ja, schon okay. Wir sind alle nur Menschen und Fehler passieren." Rudi entspannt sich ein wenig und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Der knarrzt etwas, aber wir ignorieren es. "Entschuldigt bitte, dass ich so aufbrausend war. Aber seit Tortentoni aus dem Knast ausgebrochen ist, ist die Lage etwas angespannt."
"Schon okay. Hast du übrigens gehört, dass der Martin seine Leiter fertig hat?"
"Ja, hab ich gehört. Bis ganz hoch zum Mond. Teufelskerl."
"Teufelskerl", stimme ich zu. "Verfluchter Teufelskerl."