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Leises Rieseln
Leises Rieseln
Es kommt ein Schiff geladen…was für ein wunderbares Weihnachtslied, dachte Marlene, drückte beide Kleider gegen ihre Brust und drehte sich vor dem Spiegelschrank im Schlafzimmer. Sie stemmte einen Fuß fest in den Teppichflor und zog das andere Bein ein wenig an, so hatte sie es schon in alten Filmen gesehen, mit Marylin Monroe zum Beispiel, oder Grace Kelly, deren Kleider weite Bögen beschrieben und federleicht über dem Boden schwebten.
Marlene geriet leicht aus dem Gleichgewicht. Eine halbe Drehung bis zum ersten Schwanken, das blaue Kleid versuchte noch den Schwung zu retten, bevor der Stoff sanft erschlaffte. Marlene nahm das rote, es lag enger an und sie lächelte in Vorfreude auf den wohlwollenden Kommentar ihrer Mutter. Sechs Kilo weniger konnte sie nicht so einfach übersehen.
Bis an sein höchsten Bord…Damit war sicher der Bug gemeint, dachte Marlene, während sie vorsichtig die Seidenstrümpfe ausrollte. Sie räusperte sich und summte die Melodie.
Hoffentlich nahm Dany das Piercing aus der Zunge, sie musste ihn unbedingt noch einmal daran erinnern. Sechzehn ist einfach ein schwieriges Alter, dabei hatten sie noch Glück. Er war gut in der Schule und trank wirklich nur auf Partys ein wenig Alkohol, nicht der Rede wert. Keine Schlägerein, keine Ausnüchterungszelle, das kannte Marlene nur von Erzählungen anderer Mütter, die Ärmsten! Marlene lauschte auf die stampfende Musik. Noch eine halbe Stunde konnte Dany sich die Ohren ruhig voll dröhnen.
Sie setzte sich auf die Bettkante und beugte sich zu ihren Füßen hinunter. Wenn sie einfach so in die Strümpfe schlüpfte und eine raue Stelle am Fuß oder einen eingerissenen Nagel übersähe, dann wären die teuren Seidenteile sofort hinüber.
Trägt Gottes Sohn voll Gnaden…das Summen klang abgehackt und gepresst, ihr Bauch war ein wenig eingeklemmt, ein bis zwei Kilos fehlten noch für das rote Kleid, doch es sah auf jeden Fall gut aus. Schwer atmend richtete Marlene sich auf, ihre Füße waren glatt und geschmeidig. Sie brauchte eine kleine Pause, rollte die Strümpfe vorsichtig auf und hob ein Bein an. Unter ihren Achseln spürte sie frische Feuchte, ebenso auf der Stirn. Es war stets der gleiche Fehler: Marlene zog sich nach der Dusche viel zu schnell an, daher diese Schweißausbrüche. Sie konzentrierte sich auf die Strümpfe und rollte sie langsam hoch, hüpfte wieder vor den Spiegel, stellte ein Bein kokett vor das andere und sah winzige Runzeln an den Oberschenkeln. Marlene hielt den Strumpf fest und trat einen Schritt nach hinten, das reichte schon. Sie durfte nicht genau unter dem Lichtkegel der Deckenstrahler stehen, dann sahen ihre Schenkel wunderbar glatt aus. Jeder Hollywoodstar wird doch ausgeleuchtet, bis er makellos aussieht.
Des Vater ew’ges Wort…oder ewig Wort? Marlene war sich nicht sicher. Sie wusste auch nicht, wie der Text weiter ging, egal, er wäre vielleicht doch zu schwermütig für nachher. Marlene richtete sich gerade auf, warf ihre Haare schwungvoll nach hinten und lächelte ihr Spiegelbild an. Die Nase glänzte schon wieder! Sie würde ihre Puderquaste in die Pailettentasche packen müssen.
Leise rieselt der Schnee…das hörte sich schon viel fröhlicher an! Jetzt sang Marlene sogar, lief zum Fenster und schaute in den regennassen Vorgarten. Egal, in zwei Stunden würde es stockdunkel sein.
Sie war nur froh, dass der Baum in diesem Jahr mal nicht im Wohnzimmer stand, sondern in der Küche, weil sie dort ja doch den ganzen Abend saßen. Die Küche war eben das Zentrum, so liebte es Marlene. Dieter hatte sich schwer getan mit der Entscheidung, der Baum gehöre einfach ins Wohnzimmer, so sei das doch immer, aber schließlich konnte Marlene ihn überzeugen. Gemeinsam hatten sie den Esstisch leicht diagonal verschoben, damit jeder den Baum sehen konnte. Er stand an der Schmalseite neben der Tür und die unteren Zweige ragten ein wenig in den Raum; doch wenn sich alle vorsahen und einen kleinen Bogen beim Eintreten machten, konnte gar nichts passieren.
Stumm und starr ruht der See… oder still und starr? Sie sah richtig gut aus! Marlene zog das Kleid an den Hüften noch einmal glatt, beim Aufstehen würde sie das auch kurz machen müssen, sonst zog es sich doch etwas hoch, aber das war nicht der Rede wert.
Lisa würde Augen machen! Marlene fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sie musste gleich unbedingt Wasserschalen auf die Heizkörper stellen und ihren Glanzlippenstift suchen, der passte auch wunderbar zu dem Kleid.
Unten klappte die Haustür. Ein Rucksack wurde zu Boden geschleudert, die Toilettentür zugeschlagen. Das war Lisa. Marlene griff zur Haarbürste und zog langsame, kräftige Bahnen vom Scheitel bis zu den Haarspitzen.
Niemand müsste heute eine Bemerkung über Lisas Essverhalten machen. Marlene hatte Salate vorbereitet, ohne Öl, mageres Putenfleisch in Streifen geschnitten, Orangenschiffchen und Apfelscheibchen,(extra mit Zitrone beträufelt, damit sie nicht braun anliefen), alles würde sie zwanglos zwischen die anderen Speisen stellen, den Kalbsbraten mit Pfifferlingen, die rohen Klöße und die Schüssel mit Broccoli, (davon konnte Lisa ja auch essen), und alle könnten den Abend so richtig genießen. Dieters Eltern waren Gott sei Dank in Tirol; Marlene seufzte erleichtert und schlüpfte in die hochhackigen Schuhe. Ihre Fesseln waren immer noch schlank.
Weihnachtlich glänzet der Wald…Und dann würde Lisa endlich die ersehnten Klavierstunden bekommen! Es war doch wunderbar, dass sich eine Vierzehnjährige fürs Klavierspielen interessierte. Marlene machte ein paar Schritte vor dem Spiegel hin und her, ja, so war es gut, größere Schritte durfte sie nicht machen, dann spannte das Kleid.
Dieters Eltern beteiligten sich an den Kosten, Marlenes Eltern bezahlten den Klavierstimmer und die Noten. Wunderbar, dachte Marlene. Musik hat doch eine heilsame Wirkung. Jetzt musste sie nur darauf achten, dass Lisa was Langärmeliges anzieht, es sieht einfach besser aus.
Erneut klappte die Haustür. Dieter war gekommen. Marlene staunte. So pünktlich? War wohl nicht viel los in der Notaufnahme, Sylvester wird es sicher schlimmer.
Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und trat hinaus auf den Treppenabsatz, stellte sich ans Geländer und schickte eine Wolke Cacharel hinunter. Dieter schaute schnuppernd zu ihr hinauf, seine rechte Hand steckte in der Tasche seines Mantels, der auf dem Bügel an der Garderobe hing. Marlene wollte lachen, weil das zu komisch aussah, als in der Tasche Dieters Handy klingelte. Er warf ihr mit der Linken eine Kusshand zu, machte eine bedauernde Bewegung mit dem Kopf, zog das Handy hervor, meldete sich mürrisch und zog nach kurzem Lauschen überrascht die Augenbrauen hoch.
Marlenes Hände kribbelten ein wenig, sie ging langsam die Treppe hinunter, wacklig wegen der ungewohnt hohen Absätze. Lisa kam gerade aus dem Klo und mit ihr ein säuerlicher Geruch. Marlene fielen die Früchte des Gingkobaumes ein, die ähnlich ätzend stanken. Sie hätten ihn nicht so dicht ans Haus pflanzen sollen. Dieter ließ die Schultern hängen, steckte das Handy weg und sagte, dass Schwester Katrin ihn leider zurückholen müsse, gerade seien zwei Unfallopfer einliefert worden. Er würde sich aber beeilen, versprochen, und schon drängte er sich an Lisa vorbei und war zur Tür hinaus.
Marlene nickte geistesabwesend, hoffte, dass Lisa diesen unsäglichen Schlabberpulli gleich ausziehen würde und hörte ein leises Klirren aus der Küche. Es war nur einen Hauch von einem Klingeln entfernt, doch Marlene wusste, dass eine der alten Glaskugeln zerbrochen war. Sie bog in weitem Bogen um die Ecke und stand vor dem zitternden unteren Zweig der Tanne, an dem ein scharfer Rest der Kugel vibrierte, vor ihren silbernen Schuhspitzen lagen unzählige Scherben wie ein Strahlenkranz. Marlene holte Kehrblech und Schaufel, kehrte sorgfältig alles Glas zusammen und überlegte, ob Schwester Katrin die große Blonde war, frisch geschieden, angeblich wegen der ständigen Überstunden im Krankenhaus.
Die Ärmste! Marlene schüttelte bedauernd den Kopf, warf das Glas in den Abfalleimer und schaute nachdenklich auf Vitus den Mops, der hechelnd auf seiner Decke neben der Spüle saß und sicher für den Schaden verantwortlich war. Vitus mit seinem stämmigen Körper, den Glupschaugen und den kurzen Beinen. Er glotzte Marlene herausfordernd an, war sich keiner Schuld bewusst und wartete sicher schon darauf, dass Dieter kommen und ihn vom Tisch füttern würde.
Marlene kniff die Lippen zusammen, beugte sich hinab, hielt dabei die Luft an und zerrte den sturen Hund am Halsband aus der Küche. Sie setzte ihn vor dem Gästeklo ab, schubste ihn hinein und schloss rasch die Tür. Marlene schloss einen Moment die Augen, ihr war ein wenig schwindelig, Vitus knurrte und kratzte am Holz.
Vor dem Dielenspiegel richtete sie mit einer geübten Bewegung ihr Haar, strich das Kleid glatt und ging zurück in die Küche. Der Tisch sah wunderbar aus, die Gläser funkelten, das schneeweiße Geschirr glänzte. In einer halben Stunde würden ihre Eltern kommen.
Noch einen Moment ausruhen, dachte Marlene, setzte sich an den Tisch, sah auf den schimmernden Baum und schlüpfte noch für einen Augenblick aus den Pumps.
Freue dich, Christkind kommt bald…