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Leise rieselt der Schnee
„Leise rieselt der Schnee …“ –
Verflixtes Sauwetter! Erst dunkel wie im Affenarsch, dann dieses Schneetreiben!
Fernlicht? Fehlanzeige. Da ist ja gleich alles weiß. Die Scheibenwischer betätigen sich inzwischen als Schneeschieber. Keine Fahrbahnmarkierung mehr zu sehen, auch keine Reifenspuren. Es ist niemand mehr unterwegs um die Zeit. Nur ich natürlich, gebe wieder mal den Deppen, während vernünftige Leute sich den Bauch mit Glühwein wärmen.
„Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum…“ –
Einer? Hunderte! Stehen da am Straßenrand und klatschen, vom Wintersturm animiert, eifrig Beifall zu meiner Dämlichkeit. Von zwei Seiten wedeln sie mir ihre kalte Last aufs Dach. Plopp, plopp. So ist's recht! Immer auf die Kleinen.
Bremsprobe. Vorsichtig! Oh, oh! Da unterm Puderzuckerschnee versteckt sich was!
„So viel Heimlichkeit in der Weihnachtszeit …“ –
Blöder Sender, weiß ich jetzt auch, dass es drunter glatt ist. Da! Im sonst unberührten Weiß! Recht große Spuren kreuzen die Fahrbahn, aber sie schneien schon wieder zu. Kann nur wenige Minuten her sein.
„Rudolph the red nosed reindeer …“ –
Wie passend. So ein dicker Hirsch auf der Kühlerhaube, der fehlte mir jetzt gerade noch. Andererseits: Wildgulasch? Mit Klößen? Hm, lecker, Pawlow lässt grüßen. Irgendwann muss jetzt diese Kreuzung kommen … das sieht in Weiß und im Dunkeln alles so anders aus. Aah, da ist es! Links zum Biathlonzentrum, geradeaus zur Stadt und rechts ..., der rechte Abzweig, der ist meine. Was für ein schmales Sträßchen! Anscheinend gehts hier direkt in die Pampa. Kilometerweit nichts als Wald und der Schnee liegt inzwischen schon zentimeterdick auf der Fahrbahn.
„Lasst uns froho uhund munter sein …“ –
Munter, ja klar, aber froh ist was Anderes, wenn ich mir dieses seltsame Haus da vorne so anschaue. Kauert, spitzgiebelig und mit grauverwitterten Holzbrettern bekleidet, zwischen hoch aufragenden Felswänden. Ein richtiges Hexenhaus. Wo hat die Babajaga bloß das Hühnerbein versteckt?
„Lustig, lustig trallalalala …“ –
Das ist allenfalls nur einer der rotberockten Gesellen, die rings ums Haus an der Dachrinne und an den Fenstern baumeln. Der entlockt mir doch tatsächlich ein Schmunzeln. Die Drapierung des Guten ist echt gelungen. In Lebensgröße pendelt Sankt Nikolaus, ein Bein im Geländer verfangen, kopfüber unter dem winzigen Balkon. Die Einsamkeit der Bewohner scheint hier merkwürdige Blüten zu treiben.
Aber nun erst mal Radio aus, Sack geschultert und auf geht’s! Zur Bescherung!
Keine Klingel. Auf mein Klopfen öffnet ein altes, festlich herausgeputztes Weib und grinst mich freundlich an.
„ Ach! Der Weihnachtsmann! Da freu' ich mich aber, dass der Weihnachtsmann an mich denkt!“ Seltsam ist diese Begrüßung. Sie musste ja schließlich einen Weihnachtsmann gebucht haben, wäre ich sonst hier? Nicht drüber nachdenken, sondern durchziehen das Ganze, und dann ab durch die Mitte: „Ho, Ho, Ho! Von draußen, vom Walde, da komm …“
„Ja, ja, da kommst du her, aber komm doch erst mal rein, lieber Weihnachtsmann!“ Eine Ladung Bausteine und Puppen hätte ich hier abliefern sollen. „Wo sind denn die Enkelchen, gute Frau, denen sollte ich doch Geschenke bringen?“
„Ja, gleich, komm erst mal und stärk' dich! Es ist doch ziemlich weit hier raus und bestimmt keine Spazierfahrt.“ Sich fest auf ihren Stock stützend, weist sie mir einen Platz am Tisch zu. Der ist für zwei gedeckt und es duftet verführerisch nach Gebratenem. So gerne ich wenigstens gekostet hätte, ich muss doch weiter, werde sonst nicht fertig mit meiner Runde. Die runzlige Alte will mir anscheinend ein Ohr abkauen. Während sie dampfende Bratenstückchen auf die Teller häuft, wortreich und schwärmerisch von den Weihnachten längst vergangener Jahre berichtet, läuft mir die Zeit weg.
„Es tut mir leid, aber ich muss wirklich weiter. Wo sind denn die Kinder, die ich bescheren soll?“
„Keine Zeit? Schade … Aber wenigstens einen Jagertee, zum Aufwärmen, den nimmst du doch?“ Sie drückt mir ein Grogglas in die Hand, das meinen klammen Fingern wunderbare Wärme gibt. „Na komm, lieber Weihnachtsmann, wenigstens das, dann kannst du Bescherung machen!“ , fordert sie. Und das Gebräu gleitet heiß und scharf durch meine Kehle.
„Das Zimmer von Hans und Grete ist oben. Dann schau halt hinauf, wenn es nicht anders geht.“ Sie ist enttäuscht darüber, dass ich keine Lust habe, den Gesellschafter zu spielen. Ihre weichen, freundlichen Gesichtszüge sind einem harten Blick und zusammengekniffenen, schmalen Lippen gewichen. Da steht nicht mehr das gutmütige alte Weiblein, das mich hereingebeten hatte. Aber es hilft nichts. Ich kraxel die schmale Stiege hinauf und stehe in einem leeren Zimmer. Kein Hänsel, keine Gretel. Hier gibt es keine Kinder, die zu beschenken wären. Wie eigenartig ist das denn? Wenigstens bin ich im Balkonzimmer. Besser, ich steige gleich hier aus, dann muss ich nicht noch mal an der grilligen Alten vorbei. Man kann ja nie wissen … Besonders hoch ist der Balkon nicht. Den Sprung trau ich mir zu.
Und ich schaffe es nicht mal übers Geländer.
Kräftige Hände hat sie, die flink im Schlingenknüpfen sind.
Mein Schreien stört nicht weiter. Nachbarn, die sich beschweren könnten, die gibt es hier nicht.
Zwei rotberockte Gesellen hängen kopfüber vom Balkon. Für Vorbeikommende ist das wohl ein ungewöhnlicher, ein lustiger Anblick ...
Kalt ist es. Von Drinnen höre ich sanfte Zitherklänge: „Leise rieselt der Schnee …“, und ich bekomme auch den kleinen Fiat noch mit, der gerade vorm Haus hält. Sein Fahrer trägt einen rot-weißen Mantel.