Leichentrank
Ich suchte schon seit einer ganzen Weile nach meiner Kleidung, aber die war nicht aufzufinden. Aus dem Kleiderschrank des Hausherren hatte ich darum einen Männerbademantel genommen, der am Boden hinterher schleifte und mich noch missmutiger machte als ich es ohnehin schon war. Dann suchte ich mir einen Platz, an dem ich wenigstens etwas Abstand von den zuckenden, mittlerweile nicht mehr so sauberen Körpern halten konnte, die überall herumlagen, irgend einen Platz, an dem mir das Gestöhne nicht ganz so laut in den Ohren gellte.
Dieses Stöhnen hatte einen gekünstelten Klang, fand ich, als ich mich an die Hausbar setzte. Meine Hoffnung, dort vielleicht eine eingeschaltete Kaffeemaschine vorzufinden, erfüllte sich nicht. Es gab Alkoholika – und natürlich auch Leitungswasser – aber nichts Heißes. Ich kringelte meine eiskalten Zehen zusammen und schluckte. Es kratzte im Hals. So ein Mist, ich hatte mich erkältet.
Da hockte ich nun, übellaunig von meinen schwarzgefärbten Ringellöckchen bis zu den rotlackierten Zehennägeln. Das also war Elviras erste Orgie. Igitt! Ich wollte hier weg. Wer hatte mir nur vorgeschwärmt, wie fantastisch man auf so einer Swingerparty sein Liebesleben verbessern könne? Also, auf mich traf das offensichtlich nicht zu. Ich wollte nach Hause, aber ich fand meine Handtasche und meine Kleider nicht, und der Hausherr – nein, gerade den mochte ich im Moment nicht ansprechen. So richtete ich mich auf eine Wartezeit ein.
"Hallo", sagte eine Stimme neben mir, die so sauer und angefressen klang, wie ich mich fühlte. Ich hob den Kopf. Die Stimme gehörte einem jungen Mann von Anfang dreißig, dem ich normalerweise nicht viel Beachtung geschenkt hätte. Relativ klein und kräftig, und er hatte wenigstens ein offenes Hemd an. Keine Spur einer Erektion.
"Hallo", erwiderte ich. "Na, ist die Veranstaltung nicht so nach deinem Geschmack?"
"Ach was", entgegnete er. "Hier wird doch nur Schweinkram getrieben – aber kein einziger ordentlicher Fick ist zu haben!"
Seine rohe Ausdrucksweise störte mich, aber ich wusste, was er meinte: Alle möglichen sexuellen Varianten hatte ich heute schon gesehen, aber es schien hier eine Regel zu gelten, die besagte, dass die für das Lieben – eigentlich – vorgesehene weibliche Öffnung nicht angerührt werden dürfe. Ich wollte es aber weder in den Hintern noch in die Achselhöhle noch in den Mund. Eigentlich wollte ich hier gar nichts mehr. Dabei hatte ich mich richtig darauf gefreut!
Der Gastgeber hatte mich, als ich vor drei Stunden ankam, halbbekleidet empfangen. Er hatte mir auch ein kleines Schlafzimmer gezeigt, in dem ich mich ausziehen sollte. Etliche Personen beiderlei Geschlechts standen schon in Grüppchen herum, tranken Sekt und hatten nur noch ihren Schmuck an. Ich gesellte mich dazu, fand mich bald zwischen zwei Männern, die mir ganz gut gefielen, und eine kribbelnde Erwartung machte sich in mir breit.
Grundsätzlich bin ich ja zu einigem bereit, aber mir wurde bald klar, dass für diese beiden Kerle Frauen nur herzuhalten hatten. Sie schienen einige Übung darin zu haben, sich eine Frau zu teilen und ihr Sperma auf möglichst absonderliche Weise loszuwerden. Ich versuchte mich loszumachen und wurde weitergereicht. Und wieder wurden die eher gleichberechtigten Liebesspiele verschmäht – die waren wohl zu konventionell und nicht aufregend genug. Ich musste mich wieder losmachen und entfernte mich, so weit wie es in diesem Raum nur möglich war.
Hu, was ich alles zu sehen bekam! Das genügte mir für mein ganzes restliches Leben. Ich wanderte durch die Zimmer, schaute hinter Türen, öffnete Schränke und suchte nach meinen Sachen. Die waren aber nicht mehr da, wo ich sie gelassen hatte, und anderswo auch nicht. Überall waren Leute bei wenig appetitlichen Betätigungen, die mir entweder schmerzhaft oder ziemlich unhygienisch vorkamen. Da war auch ein Raum, der schien mit einem saugfähigen Material ausgelegt, und ich konnte riechen, wofür.
Uäääh! Ich schnappte mir einen Bademantel aus einem Kleiderschrank und machte mich auf die Suche nach einem ruhigen Winkel und einem heißen Getränk. Leider vergebens.
"Weißt du vielleicht, wo meine Kleider sein könnten?" fragte ich den Ankömmling hoffnungsvoll.
"Die kriegst du nicht wieder, ehe nicht auch der letzte keinen mehr hochkriegt", knurrte der Mann, blinzelte und ergänzte: "Ja, fühlst du dich denn etwa nackt? Was soll ich dann sagen? Ich kam vorhin 'raus, nackt bis auf die Brille, und da sagt dieser – dieser – uh! – also, er sagt, so kritische Blicke können wir hier nicht brauchen, nimmt mir die Brille weg und steckt sie in die Tasche. Ich bin hier so gut wie gestrandet!"
Mir wurde bewusst, dass etwas gegen meinen Schenkel drückte. Hatte denn unser Gastgeber vorhin nicht genau diesen Kimono getragen? Ich griff in die Tasche und holte eine hochmodische, reichlich hässliche Brille heraus.
"Ist es die hier?"
Verblüfft nahm er sie entgegen.
"Danke," sagte er, "du hast einen Gefallen bei mir gut. Aber jetzt lass dich erst mal anschauen." Er rückte die Brille zurecht. "Und du?" fragte er, "machst du bei dem Spaß nicht mit? Das ist aber ein Riesenverlust für die da drinnen!"
"Danke", erwiderte ich und lächelte. Er lächelte zurück, ich wurde rot – wegen der schieren Eindringlichkeit seines Blickes – und musste den Kopf senken. Aha. Diese seine Lustlosigkeit war schon teilweise behoben. Trotzdem hatte ich irgendwie nicht das Gefühl, wir seien nackt.
"Wenn du dich revanchieren willst, dann versuch doch, meine Sachen zu beschaffen!" verlangte ich, wohl wissend, dass die wahrscheinlich irgendwo eingeschlossen waren. Er zuckte bloß mit den Schultern. "Ich habe mich erkältet, es wird immer schlimmer, und hier gibt es nicht mal heißen Kaffee!"
"Du willst Kaffee?" fragte er überrascht.
"Nein, ich will Hühnerbrühe", maulte ich.
Er war mittlerweile um den Tresen herumgegangen und öffnete Schränke und Schubladen. "Hm – hier ist nichts – hier auch nicht – nein – aber hier!" verkündete er und hielt triumphierend eine Packung Pfefferminztee in die Höhe. "Genau das Richtige für dich – und viel exquisiter als dieser Allerweltssekt."
Eine Kanne gab es, aber keinen Wasserkocher; am Ende fand er einen Glaskrug, füllte ihn mit Wasser und öffnete den Mikrowellenherd.
"Bist du sicher", fragte ich mit ätzendem Unterton, "dass das nicht der Krug ist, in dem das Wasser für die Klistiere schön lauwarm gemacht wird?"
Er schaute mich verblüfft an, dann lachte er. "Aber sicher ist das der Krug", sagte er, "und in der Mikrowelle werden bestimmt auch all die netten kleinen Spielzeuge mit Gelfüllung angewärmt, mit denen diese beiden Hexen mich vorhin so drangsaliert haben. Na, dann lass' ich's eben etwas länger kochen."
"Und der Pfefferminztee ist für die Wassersportler", ergänzte ich, "damit die immer ordentlich..."
"Also jetzt ist aber Schluss", fuhr er mir über den Mund, "mir hat schon der Anblick gereicht! Ich frage mich, warum meine Exfrau immer fand, ich sei so unromantisch! Ein Blick in dieses Torfzimmer, und ich komme mir vor wie der letzte Romantiker auf Erden!"
In der Ecke stand ein schlaffes, tiefes Sofa, und Licht gab es keines. Dort fühlte ich mich einigermaßen sicher. Während der Tee zog, hatte ich schon die halbe Lebensgeschichte des Mannes erfahren. Es schien, dass er alleinerziehend war, und seit der Trennung von seiner Frau das erste Mal wieder auf der Suche nach Sex. "Ich wollte meiner kleinen Tochter keine Freundin ins Haus bringen, und als ich hierher eingeladen wurde, da dachte ich, das ist ideal... na ja, wenigstens für eines war es gut: Nichts dämpft den Sexualtrieb so gründlich wie der Anblick einer zünftigen Orgie."
Ich trank den Tee, und mir wurde wieder warm. Aus den Nebenräumen trafen uns einige abschätzige Blicke. Wir passten wohl nicht so ganz hierher, mit Bademantel, Brille und Pfefferminztee, und diese Leute waren etwas übelnehmerisch. Ich kicherte.
"Weißt du, was wir noch brauchen?" flüsterte ich meinem neuen Bekannten zu, der übrigens Edgar hieß.
"Was denn?"
"Wir brauchen", sagte ich leise, denn ich wollte nicht, dass die beiden arroganten Damen im Durchgang zum Nebenzimmer uns hörten, "wir brauchen ein Strickzeug. Es würde unseren Auftritt hier vervollkommnen, und dann würden diesen beiden Tucken dort die Augen rausfallen!"
Edgar schnaubte. "Die! Die wollten mich mit diesen komischen Gummischwänzen vergewaltigen, die sie umgeschnallt haben!"
Ich wurde auf einmal sehr fröhlich. "Nun, in diesem Fall brauchen wir ein paar Dildos aus ungehobeltem Naturholz, dann könntest du dich rächen."
"Auf ganz ökologische Weise", bestätigte er grinsend. Dann wurde er wieder ernst.
"Das ist die reinste Zeitverschwendung hier", grummelte er, "da war ich ja selbst in meiner Ehe noch besser dran."
"Wurdest du da auch mit einem Gummipeter vergewaltigt?" fragte ich neugierig.
"Nein, durch einen ersetzt." Die ganze merkwürdige Geschichte dieser Ehe ergoss sich nach und nach in meine Ohren, so dass ich Zeit hatte, noch eine Tasse Tee zu trinken. Ich konnte mir gut vorstellen, wie das Selbstbewusstsein eines Mannes immer kleiner wird, während die Sexspielzeuge und die Ausreden seiner Frau immer größer werden. Also, so etwas könnte ich nicht gebrauchen! Ich stellte mir vor, wie die Sexpuppen, die mein Mann anschleppen würde – gesetzt den Fall, ich hätte einen Mann – immer mehr raffinierte Funktionen haben würden. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie eine Sexpuppe zuerst in meinem Bett schlief und am Ende gar mein Girokonto verwaltete. Im Fall von Edgars Frau schienen dann aber doch noch Konkurrenten von Fleisch und Bein aufgetaucht zu sein, und Edgar, dessen nach Indonesien desertierte Ehefrau die gemeinsame Tochter bei ihm zurückgelassen hatte, Edgar wusste nicht, ob das Wort "gemeinsam" auf die kleine Alicia überhaupt zutraf.
Nun hatte ich seine Seite der Geschichte gehört. Es lohnt sich zwar immer, auch die Version der Frau anzuhören, aber er tat mir trotzdem leid. Ich legte die Arme um ihn. "Du wirst gewiss wieder jemanden Nettes finden", versuchte ich ihn zu trösten.
Er erwiderte meine Umarmung sehr heftig, er hatte starke Arme und war wunderbar warm. Sein Gesicht vergrub er an meinem Hals, begann mich unter dem Ohr zu küssen. Ich wollte ihn wegschieben und sagen, dass das denn doch nicht die Abmachung gewesen war, da murmelte er an meinem Ohr: "Und nun weiß ich auch wieder, warum ich überhaupt hierher gekommen bin... Ich dachte, wenn ich nicht bald wieder einen weiblichen Körper in die Arme schließen kann, dann sterbe ich. Komm, lass dich ein wenig streicheln... Wir müssen ja nicht unbedingt den anderen hier ein Schauspiel bieten, aber ich möchte dich so gern ein Weilchen festhalten."
Er hob mich mit Leichtigkeit rittlings auf seinen Schoß. Ich fühlte sein Glied an meinem Bauch, steif und warm, und schickte einen mentalen Gruß nach Indonesien. Also, du Unbekannte, dachte ich, mir ist er nicht zu klein, ich nehm' ihn dir gerne ab. Er streichelte mich ausgiebigst unter dem Bademantel, während ich an seiner Brust lag. Es war herrlich.
Zuerst beachte uns keiner, dort in unserer Ecke auf dem Sofa. Mittlerweile lag Edgar schon voll auf mir drauf. Dann küssten wir uns, und er schob meine Beine auseinander. Obwohl er eigentlich versprochen hatte, es nicht zu tun, drängte er mir nun doch sein Glied zwischen die Schamlippen, und tiefer.
Ich dachte gar nicht daran zu protestieren, sondern zog ihn fest auf mich und genoss dieses Gefühl mit geschlossenen Augen. Ich hatte, ganz ehrlich, schon fast vergessen wie das war. Er machte es sehr langsam und genüsslich, und ich hatte keinen Grund zur Klage. Bis unsere Idylle jäh gestört wurde.
"... scheint ihr aber Spaß zu machen!" drang an mein Ohr.
"Scheiß-Ficker!"
Warum nur kann man die Ohren nicht zukneifen wie die Augen? Edgar fuhr auf, als das Sofa unter dem Gewicht von zwei weiteren Personen einsackte. Der Mann kniete über Edgar, griff aber nach meinen Hüften, zog uns unerbittlich wie ein Schraubstock zusammen und setzte dann seinen Prügel an, drauf und dran, Edgar genau das anzutun, was dieser vorhin gerade noch hatte verhindern können. Die Frau kauerte sich auf mein Gesicht nieder. Ich schwor mir augenblicklich, niemals in meinem Leben mehr zu verlangen, geleckt zu werden, denn es gab nichts widerwärtigeres auf Erden als diese haarigen, unsauberen Hautlappen in meinem Gesicht.
Ich biss heftig zu. Das geschah ihr nur recht! Sie sprang auf und schrie, und ich spuckte ein paar Haare aus. Gleichzeitig sagte Edgar in ungewöhnlich grobem Tonfall: "Eh, Alter, kannste uns nicht mal in Ruh' lassen?"
"Der spielt nicht mit!" sagte der Mann langsam und drohend.
"Nein, von Anfang an nicht", beeilte sich eine der Frauen mit Umschnallpenis hinzuzufügen.
Die gebissene Frau heulte laut. Alle umstanden uns. Alle. Siebenunddreißig nackte Personen, Männer, Frauen und einige, bei denen das Geschlecht nicht so eindeutig zu erkennen war.
"Sie spielt auch nicht mit!" rief jemand. "Theo, du hast uns ein Schlangenmädchen versprochen, aber bisher haben wir noch nicht viel davon gesehen!"
Theo, der Gastgeber, dessen Bademantel ich immer noch anhatte, nickte grimmig. "Ganz klar. Die beiden haben gegen die Regeln verstoßen. Hier wird alles geteilt. Keine Munkeleien in Ecken. Jeder ist verantwortlich für das Vergnügen der anderen. Ihr hingegen – nein, ihr habt euch nicht an die Regeln gehalten."
Voller Unbehagen dachte ich an meine Handtasche mit den Schlüsseln, die ich nicht finden konnte, und an meine versteckte Kleidung. Ich hätte früher darüber nachdenken sollen! Jede Wette, dass die Haustür abgeschlossen ist, dachte ich. Wer hält dagegen?
Theo hob nur kurz den Kopf, zeigte kurz mit dem Kinn auf Edgar und dann in die Runde. "Bringt den Tisch!" befahl er.
Der Tisch war zerlegt, wurde aber schnell zusammengebaut. Ich wusste, was das für ein Tisch war – ich hatte dergleichen einmal in einem Horrorfilm über einen Leichenbestatter gesehen. Nur die vier stählernen Ösen an den vier Tischecken waren ungewöhnlich. Tote wehren sich normalerweise nicht, wenn ihre Eingeweide entfernt werden.
Edgar wurde festgehalten, mich beachtete man nicht mehr so recht. "Hier haben wir unseren Rohstoff!" verkündete Theo großspurig. Mensch, nahmen die sich ernst, warum hatte ich nicht früher bemerkt, wie ernst?
Nun hoben sie Edgar auf den Tisch. Er wehrte sich, aber acht gegen einen ist ein ziemlich aussichtsloser Kampf. Er wurde mit breiten Koffergurten an den Ösen festgezurrt.
Am Kopfende des Tisches war noch ein halber Meter frei, und eine der Frauen mit dem Gummipenis begann dort gläserne Gerätschaften aufzustellen. Eine Flasche mit der Aufschrift "Ethanol" – war das nicht ein chemischer Name für Alkohol? Eine andere, viel kleinere, mit Petrolether. Den kannte ich nun, früher hatte ich den täglich gebraucht. Etliche Becher, Schalen und Trichter. Ich kam nicht dahinter, was das alles bedeuten sollte.
Theo holte ein kleines Gerät, das aussah wie eine Flex in Zigarettenschachtelgröße. Ein paar Skalpelle. Alles das baute er gegenüber, zwischen Edgars gespreizten Füßen auf. Ich verstand immer noch nicht. Ich bin zwar im fahrenden Gewerbe aufgewachsen, aber das ist nicht der Grund, warum ich eher halbgebildet bin. Ich hatte es einfach nie so toll mit dem Lernen. Aber konnte man das hier eigentlich verstehen? Vielleicht, wenn man Abitur hatte? Der Streit, der nun begann, klärte mich auf.
"Theo", protestierte einer aus der Schar, "Theo, ich glaube nicht, dass der überhaupt noch einen Thymus hat!"
"Dafür hat er funktionierende Hoden, wie wir gesehen haben", erwiderte Theo und grinste wie ein Wolf. "Öfter mal was Anderes!"
"Und was machen wir mit dem Kleinen, der..."
"Schschsch – morgen ist auch noch ein Tag. Der Extrakt wird gut, das verspreche ich euch!"
Dreierlei wurde mir nun klar: erstens, dass diese Perversen vorhatten, Edgar – oder wenigstens seine endokrinen Drüsen – zu einem Zaubertrank oder Elixier zu verarbeiten. Zweitens, dass da irgendwo ein kleiner Junge sein musste, dem diese Rolle ursprünglich zugedacht gewesen war. Drittens, dass ich nach dem Ende der Show wohl kaum zur Haustür hinausspazieren würde, als sei nichts geschehen.
Theo dehnte das Zeremoniell aus, hob ein Instrument nach dem anderen in die Höhe, ehe er es an seinen Platz legte. Meine Zähne klapperten, meine Hände wurden eiskalt und glitschig, und mir fiel absolut nichts ein, was ich hätte tun können. Polizei rufen? Mein Handy war natürlich in der Handtasche. Schreien? Die Villa stand auf mehreren tausend Quadratmetern Grund, und außerdem würden die mich sicher knebeln, ehe ich auch nur "Hmpf!" gemacht hätte. Ich erwog, durch die Jalousie ins Freie zu springen, aber Edgar? Und das Kind, wo war es nur?
Dann hatte ich doch eine Idee. Trotz der Eile, die die Skalpelle und die Knochensäge geboten, zwang ich mich, alle Schritte im Kopf genau durchzugehen, ehe ich loslegte. Währenddessen umrundete ich langsam von hinten die Gruppe und griff mir ein Feuerzeug von einem der Tischchen. Es kam alles darauf an, ob die garstige gummigeschwänzte Person am Kopfende des Tisches auch für Elvira, das Schlangenmädchen vom Zirkus, noch ein wenig Petroleum übrig hatte.
Hinter dem Kopfende des Tisches war ein Stück Wandtäfelung beiseite geschoben worden und enthüllte einen Metallschrank, in dem verschiedene Dinge standen. Bingo! Vorräte wie in einer Apotheke. Petrolether. Ich hatte es schon lange nicht mehr gemacht, aber so etwas verlernt man nicht. Theo hob die Säge feierlich vom Tisch und schaltete sie ein. Mit dem summenden Teufelsding näherte er sich Edgars Kopf, den mehrere Helfer festhielten. In dem Augenblick schaffte ich mir mit den Ellenbogen rüde Durchgang und spuckte eine Ladung brennendes Petroleum in Theos Richtung.
Das ist in Innenräumen nicht ungefährlich, und es war auch nicht das richtige Zeug: Es war viel zu leichtflüchtig und ich versengte mir selbst die Stirnhaare. Aber es gab einen Knalleffekt. Alles wich kreischend zurück, und ich stürzte Richtung Tisch.
Die Paketbänder ließen sich nicht so leicht öffnen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Die Ösen steckten in angeschweißten Röhren und waren durch Splinte gehalten, von denen ich zwei herausriss. Die schreiende Menge rückte wieder auf mich ein, und ich musste, obwohl es sehr gefährlich war, noch einen Mundvoll Petroleum nehmen und blies einmal im Kreis.
Edgar, das muss man ihm lassen, hatte sich ruck-zuck losgemacht, sobald seine Hände frei waren. Die metallenen Ösen mit ihren langen Stielen baumelten von seinen Handgelenken, und mit ihnen richtete er eine wahre Verwüstung an. Ich packte ihn am Arm und stürmte auf das offene Fenster zu. Durch, einfach durch die Jalousie, egal, was dahinter war, es konnte nicht so schlimm sein wie das, das innen im Haus war. Ich landete neben einem Strauch und hatte Glück, dass Edgar nicht auf mich drauffiel.
Einzelne wollten uns folgen. Wir rannten die Auffahrt herab und brüllten wie am Spieß, beide mehr als nur halb nackt, mit gebundenen Händen und verbranntem Kopfhaar. Wen stört das im Ernstfall schon?
Dreihundert Meter weiter stoppte uns ein Polizeiwagen. "Schnell!" japste ich, "die müssen noch ein Kind haben!"
"Was ist passiert! Wovon reden Sie überhaupt!" Ich habe ja nichts gegen Polizisten, aber wenn man es wirklich eilig hat, können sie einem den letzten Nerv rauben.
"Da! Wo wir raus sind! Die haben da irgendwo noch ein Kind versteckt!"
"Wo!"
"Na, dort drüben!" Ein Krachen ließ mich herumfahren. Hinter uns erleuchtete ein orangefarbenener Schein die nächtliche Straße.