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Lehreralltag ?
Es war wie jeden Morgen. Zwar schien heute die Sonne hell und freundlich durch das weit geöffnete Fenster, aber Eva spürte bereits mit dem ersten Aufsetzen des linken Fußes, es war wie jeden verdammten, verfluchten Morgen seit 10 Jahren. Bei dem schon automatisierten Gedanken an die vergangenen 10 Jahre war die ganze Fülle der bitteren Gefühle wieder da. Evas Kopf war hohl und leer.
‚Ich bin also noch immer dumm,‘ nichts hatte sich verändert seit gestern, vorgestern und den Tagen, Monaten und Jahren zuvor.
Sie schleppte sich noch leicht schwankend ins Bad und ignorierte dabei völlig den strahlenden Sonnenschein in ihrem Schlafzimmer. Auch der schönste Tag wurde grundsätzlich von Eva ignoriert, sie wollte keine Freude empfinden, also empfand sie der Einfachheit halber keine.
Selbst ihr Spiegelbild erschreckte sie nicht mehr, das graue kalte Gesicht, mit den harten Linien um Mund und Nase, welches sie anstarrte, war genau das Gesicht, das zu ihrer Persönlichkeit gehörte wie die graue Kleidung, immer gleich, immer häßlich.
Es war schon nach 08.00 Uhr, als sie fluchend das Vierfamilienhaus verließ, in dem sie seit 2 Jahren lebte. Es wäre gar nicht so übel, würden nicht tatsächlich echte Familien drin wohnen, mit ihren Kindern und Haustieren und dem entsprechenden Dreck und Lärm, der Eva unerträglich war. Leider war die 51- jährige nun schon 6 mal umgezogen, allein in diesen 10 Jahren, also würde sie weiter wöchentlich lautstark mit den Nachbarn streiten, aber noch nicht wieder umziehen. Ihr Lehrergehalt ließ kein eigenes Haus zu.
Bei diesem Gedanken sah Eva auf die Uhr und dachte höhnisch an die Lehrerkonferenz, an der sie hätte teilnehmen sollen und die nun wieder einmal ohne sie verlief. Also fuhr sie noch in Ruhe tanken, versuchte den jungen Kassierer übers Ohr zu hauen, indem sie eine falsche Zapfsäule nannte und wappnete sich innerlich gegen den grauenvollen langen Tag, der ihr bevorstand. 5 Stunden heute, voller Analphabeten und debiler Halbidioten, die ihr ohnehin nicht zuhören würden.
Und gerade fiel ihr ein, dass sie auch noch die Klassenarbeiten für die Mechaniker vergessen hatte. Eine Gänsehaut kroch ihren Rücken herauf, diese Klasse war....., aber bevor sie weiter über ihre Verachtung nachgrübeln konnte, traten ihr die ersten Lehrer aus der Konferenz entgegen. Die Meisten gingen schweigend an ihr vorbei, einige sahen sie kurz an, ausdruckslos, gleichgültig, zwei nickten ihr zu aber keiner lächelte. Es war nur allzu deutlich, dass sie zu ihren Kollegen keine Verbindung hatte. Sie hatte keine sozialen Kontakte, suchte auch keine und machte sich wenig Gedanken um das, was sie versäumte. Der Direktor verließ als letzter den Konferenzsaal. Ein kurzer missbilligender Blick traf Eva, aber auch er sagte nichts, sicher überlegte er gerade wieder, ob er zum 4. Mal ihre Versetzung beantragen sollte.
Die Schulglocke klingelte und auf den Gängen herrschte eiliges Gedrängel, die Klassenräume standen weit geöffnet und der Lärmpegel war unmenschlich hoch. Wenn man die Augen schloß, konnte man vermuten, eine Horde Elefanten tobte durch die Schule. Eva war nun schon seit 20 Jahren an dieser Berufsschule tätig, hatte sich aber bis heute nicht mit ihrer Aufgabe identifizieren können und hoffte auch nicht mehr darauf. Ihr Unterricht war streng, hart und gleichbleibend lieblos, und ihre Klassen atmeten stets erleichtert auf, wenn ihnen im nächsten Jahr ein neuer Englischlehrer zugeteilt wurde. Eva marschierte durch die mengen Jugendlicher auf den Klassenraum der Mechaniker zu, zweites Lehrjahr, ein Haufen ungebildeter 17 jähriger, männlich bis auf ein Mädchen. Sie hassten den Englischunterricht bei Eva aus zwei Gründen. Sie brauchten kein Englisch in ihrem Leben und sie brauchten Eva nicht in ihrem Leben. Hätte sie nicht kaltherzig 6en für Nichterscheinen verteilt, wäre vermutlich nie irgendwer zum Unterricht erschienen. Die Schüler rächten sich durch Unaufmerksamkeit und keinerlei Beteiligung. Es ergab sich ein Kreislauf, aus dem kein Entkommen mehr möglich schien, ein Kampf, den keine der Parteien gewinnen konnte, und in jeder Stunde gelang es Eva nur knapp, einer totalen Eskalation zu entgehen.
Sie betrat den Klassenraum. Es war laut und wurde auch bei ihrem Eintreten nicht leiser.
„ Setzt euch und seid ruhig,“ sagte sie. Nichts geschah, natürlich nicht.
„ Setzt euch, wir schreiben einen Test.“ Nun schrie sie beinahe, aber wenigstens setzte sich die Klasse.
„ Geben sie doch erst einmal die alten Arbeiten zurück.“ Thomas war der Wortführer, ein magerer und unscheinbarer Typ eigentlich, aber gut im Geschäft was den Verkauf von Drogen betraf, so hatte ihr die Polizei mitgeteilt, als sie in der Schule gewesen war um Mithilfe zu erbitten. Auch heute waren Thomas‘ Pupillen geweitet, er sah so verkommen aus wie seine Seele schwarz war. Eva empfand Hass und nicht zum ersten Mal. Sie hatte schon oft bemerkt, dass ihre Verbitterung langsam in Hass umschlug, welchen sie dann auf die Schüler projezierte.
„ Gibt es am Donnerstag, ich will heute mit euch noch einmal das Past perfect durchgehen.“
„ Das haben wir letzte Woche schon gemacht. Rücken sie endlich die Hefte heraus.“ Es ging nicht um die Hefte, es war die pure Provokation.
„ Halt die Klappe, Thomas, du hast eh ne Fünf,“ rutschte es Eva heraus. Das hatte sie nicht sagen wollen.
Die Klasse begann zu grölen, sie buhten und warfen Papier auf den Boden. Nun schien ihr die Situation zu entgleiten. Die Lehrerin stand mit versteinertem Gesicht, versuchte zu verbergen, dass sie ihren Fehler erkannt hatte, aber die Klasse wusste es und genoss jeden Augenblick.
„ Mario“, es war einer der ruhigeren Typen, bei dem Eva noch eine winzige Chance sah, ihren Respekt zurückzugewinnen, „ komme her und verteil diese Zettel.“ Aber Mario beachtete sie gar nicht. Was nun? Es lief alles auf offenen Kampf hinaus, und Angst ließ Evas Atem zittern und die Kontrolle wich aus ihren Knochen. Es war jener Alptraum, den jeder Lehrer seine gesamte Laufbahn fürchtet. Eva brach der Schweiß aus.
„ Ruhe“, brüllte sie, aber ihre Stimme überschlug sich und blieb unbeachtet. Die Klasse tobte. Eva versuchte zu denken. Was tun? Ihr erster Instinkt wollte ihre Beine in Richtung Tür tragen, nur raus hier. Aber dann hätte die ganze Schule schnell erfahren, dass Frau Seebald die Kontrolle verloren und geflohen war.
‚ Denk, Eva, denk. Was hast du in all den psychologischen Seminaren über Konfliktbewältigung gelernt.‘ Gar nichts, nichts hatte sie vorbereitet auf diese Hilflosigkeit.
Sie nahm einen tiefen Atemzug und trat auf Thomas zu. So fest wie es ihr möglich war, sah sie ihm in die Augen und sagte bewußt ruhig: „ Setz dich und sei still .“ Eine winzige Sekunde schien er unsicher, aber die Klasse grölte weiter. Da grinste er sie überlegen an: „ Verpiss dich doch, Alte.“
Bämmmmmm. Sie schlug zu. Das Blut rauschte in Evas Ohren, die Hände zitterten, als sie sie langsam wie in Trance sinken ließ. Sie hatte ihn geschlagen, hatte ihm mit ganzer Kraft die Handfläche durch das Gesicht gezogen.
Aber jetzt herrschte Stille. Drückende, grausame, unheilverkündende Stille. Inmitten dieser Ruhe begann Thomas seine Jacke anzuziehen, nahm seine Tasche und verließ den Raum. Sein Rücken straffte sich triumphierend und die Klasse folgte ihm. Einer nach dem anderen, bis eine Schlange an der Tür entstand. Keiner sah die Lehrerin an, die sich gedemütigt auf einen leeren Stuhl hockte und die verfluchten Tränen verbiß. Eine Ewigkeit später, obwohl nur 10 Minuten vergangen waren, stand auch Eva auf und verließ den Raum. Im Lehrerzimmer war es ruhig, alle waren im Unterricht. Jetzt endlich hatte sie Zeit für einen Kaffee und allmählich beruhigten sich ihre Nerven.. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass in 7 Minuten Pause war. Ein Blick zur Tür brachte die bittere Erkenntnis, dass es noch nicht vorbei war. Der Schuldirektor stand dort und sein Blick schien mitleidig, aber dann musste Eva sich eingestehen, dass er sie eher abfällig musterte.
„ Frau Seebald, kann ich sie bitte in meinem Büro sehen“. Seine Stimme klang kalt, aber gleichmütig.
„ Sofort?“ versuchte sie noch eine Ausflucht. „ Ja,“ war die eindeutige Antwort. ‘ Nun gut‘, dachte Eva, ‚dann bringe ich es eben hinter mich‘. Im Streiten hatte sie dem Direktor einiges voraus. Die Aufregung hatte sich gelegt, sie glaubte die Situation, das kommende Gespräch in den Griff zu bekommen.
Dr. Krüger bot ihr keinen Platz an, also setzte sie sich einfach, als sie das kleine Eckzimmer betraten, dessen einziger Lichtblick die schalldichte Tür war, die den Schulstreß draussen ließ. Nun schien die Stille die beiden Menschen im Raum erdrücken zu wollen. Der grauhaarige Mann sah sie nur kurz an, lehnte sich dann zurück und drehte seinen Sessel zur Seite um aus dem Fenster zu sehen.
„ Ich mag sie nicht, Frau Seebald, ich nehme an, das wissen sie.“ Es war eine trockenen emotionslose Aussage, aber trotzdem, oder vermutlich gerade deshalb, wich Eva’s Selbstsicherheit und sie setzte sich gerade hin. Es entstand eine geradezu beängstigende Atmosphäre, bevor ihr Vorgesetzter fortfuhr. „ Sie sind eine arrogante, unbeherrschte Person, ich habe sie oftmals mit einem verwöhnten, egozentrischen Kind verglichen. Sie halten sich an keine Regeln. Höflichkeit ist für sie ein japanisches Schimpfwort und ihre Lehrfähigkeit halte ich, um es mal ganz deutlich zu sagen, für sehr zweifelhaft.“
Zum zweiten Mal an diesem Morgen brach Eva der Schweiß aus. Sie erkannte, sie würde hier keine Gelegenheit bekommen, ihre übliche Überlegenheit zu demonstrieren..
„ Und heute“, er versuchte tatsächlich nicht einmal, seinen Triumph zu unterdrücken, die Stimme hob sich wie vor einer großen, glücklichen Ankündigung „ haben sie mir endlich die Waffe in die Hand gegeben, sie loszuwerden. Verstehen sie, ich kann sie suspendieren und vor die Schulaufsichtsbehörde zerren. Wahrlich ein großer Tag.“ Das Zittern um Evas Mund wich einer Betäubung. Würde sie es schaffen, nun einfach aufzustehen und den Raum zu verlassen? Vielleicht, wenn sie nichts mehr sagte. „ Aber ich... ich.. alle kennen Thomas Badler, er....“.
„ Nein, Frau Seebald, alle kennen sie. Nennen sie es mein persönliches kleines Geschenk an sie.“
In der darauffolgenden Stille glaubt Eva plötzlich viele kleine Stimmen zu hören, höhnisch kichernd tanzten kleine Teufel auf Dr. Krügers Schultern, streckten ihr die Zunge heraus, freuten sich und glucksten vergnügt. Sie schüttelte den Kopf in der irren Hoffnung dann aufzuwachen. Tatsächlich verschwanden die Geister, aber nun schien die Stille laut und immer lauter zu werden.‘ Ich muss hier raus‘, schrie es in ihr und sie stand auf, staksig, schwerfällig, als hätte sie das Gehen verlernt.
„ Die Schule meldet sich bei ihnen bezüglich ihres Aussagetermins vor der Behörde", klang die tiefe, nun gelassen wirkende Stimme des Direktors noch in ihr nach, als sie den Raum verließ.
Die Pause war soeben zu Ende und Eva war der einzige Mensch, der zum Ausgang strebte. Sie schubste und stieß sich vorwärts und schien trotzdem auf der Stelle zu gehen. Aber endlich erreichte sie den Parkplatz, suchte mit steifen Bewegungen ihren Schlüssel und flüsterte immer wieder mit sich kaum bewegenden Lippen:“ Erst mal nach Hause, einfach erst mal nach Hause.“ Es klang wie ein Mantra und tatsächlich beschwor sie die Teufel in ihrem Körper Ruhe zu halten, verdrängte die Gefühle der Panik und was für sie noch viel schlimmer war, die Tränen. Aber es gab jetzt kein Halten mehr, all die elenden Jahre, das versäumte Glück und ihr versautes, zerstörtes Leben standen auf, stellten sich ihr in den Weg und verlangten endlich beachtet zu werden.
‚Ha, weißt du noch, als du den einzigen Mann, der dich je liebte, vertrieben hast. Das habe ich dir nie verziehen,‘ schrie ihr Herz.
Eva fuhr los, den Blick von Tränen benebelt. ‚ Ich habe ihn nicht vertrieben, es hatte keinen Sinn, ich konnte ihm nicht vertrauen‘, heulte Eva laut auf, und wusste doch, sie hatte Unrecht.
‚ Deine Mutter, sie hat dich benutzt, bis zu ihrem Tod hat sie dich beleidigt, hinuntergezerrt in den Dreck um neben ihr zu liegen. Und du hattest nie den Mumm, sie zu verlassen, du warst so feige.‘
Und sie tobten, riefen ‚Versager‘, ‚Memme‘, ‚ Niete‘ und schleuderten ihr lange unterdrückte Schmerzen ins Gesicht. Plötzlich begann Eva willenlos zu kichern. ‚ Ich werde verrückt, es ist zu spät, alles ist zu spät.‘
Es war nicht mehr weit nach Hause, der Wagen kannte den Weg von alleine. Da sah sie den LKW. Er fuhr direkt auf sie zu, oder fuhr sie auf ihn zu. Sie wollte noch ausweichen, wollte sich retten, aber ihre Hände umklammerten nur wild das Steuer, krallten sich fest und beendeten so ihr Leben.
Ihr letzte Gedanke galt noch ihrer toten Mutter und sie riss das Lenkrad herum, wie in einem allerletzten Versuch, ihr Leben zu ändern.
Aber da war der tonnenschwere LKW schon über ihr und auf ihr und dann auch in ihr.