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Lehitra'Ot
Lehitra’Ot (Zeit des Nationalsozialismus)
Für meine Grossmutter
Meier. Weber. Gross. Meine wasserblauen Augen wanderten von Grabstein zu Grabstein. An einer besonders mickrigen Platte blieben sie hängen. Da war sie. Liliane Schubert, stand darauf in schwarzer Schnörkelschrift, geboren am 15. Januar 1931, verstorben am 24. März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Meine Hand zitterte, als sie über den kalten Grabstein strich. Lilli. Lilli. Unter dem Todesdatum hatte jemand einen Satz mit schwarzer Kohle hingeschrieben. Schalom alejchem. Friede sei mit dir. Oh Lilli! Nie werde ich vergessen, was du für mich getan hast…
Ich war zwei Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Mein Vater kam damals mit leichenblassem Gesicht von der Synagoge nach Hause. Mama wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, sie brachte mich in mein Zimmer und schloss die Küchentür hinter sich ab. Bis in mein Zimmer hörte ich einzelne Wortfetzen, „Hitler“, und „Nazis“, aber ich verstand es nicht. Wie denn auch? Ich war doch erst Zwei.
Acht Jahre später
Meine Mutter schloss behutsam die Knöpfe meines Mantels und umarmte mich noch einmal ganz fest. „Leah“, sagte sie ernst und ging vor mir auf die Knie. „Du wirst jetzt zu einer netten alten Dame gebracht, die dich vor der Gestapo versteckt. Papa und ich…wir werden versuchen, einen Zufluchtsplatz in England zu finden.“ Ich nickte nur. Zufluchtsplatz. Dieses Wort machte mir zugleich Hoffnung – und Angst. Wann würde ich jemals wieder einen Ort mein Zuhause nennen können? Seit jenem schrecklichen Jahr 1933 wechselten wir unsere Verstecke wie andere Leute Unterwäsche. Meine Mutter schärfte mir ständig ein, ja keine Angst zu zeigen, denn wer fürchtete, der habe schon verloren. Oder so ähnlich. Sie hatte gut reden, sie war ja nicht mit dem Krieg aufgewachsen! Sie drückte mich an sich und schluchzte. Dann nahmen mich zwei fremde Männer in die Mitte und fuhren mit mir zu einem idyllischen Häuschen. Auf der Treppe stand eine Frau mit schneeweissen Haaren und Grübchen in den Wangen. Sie nahm mich lächelnd an der Hand und führte mich ins Haus. „Ich bin Karla. Und du heisst Leah, oder?“ Ich nickte brav und schüchtern. Wir stiegen zwei Treppen hinauf und Oma Karla öffnete eine Luke, welche in einen geräumigen Speicher mit einem Bett und einem kleinen Tisch mit Stuhl führte. „Für lange Zeit wird dies dein Zuhause sein. Ach, und das ist Lilli, meine Enkelin.“ Sie deutete auf einen blonden Mädchenkopf, der in der Lukenöffnung erschien. Ich schätzte sie etwa gleichalt wie ich. „Hallo. Wer bist du?“, fragte Lilli neugierig und trottete neben mich. „Leah.“ Sie nickte zufrieden, lächelte mich an und sagte: „Wollen wir Freundinnen sein? Du darfst auch mit meinen Puppen spielen!” Oma Karla lachte und liess uns alleine. Lilli strahlte und stellte mir alle ihre fünf Puppen vor. Rosalie, Petra, Elisabeth, Martha und Marie. Ich staunte. Fünf Puppen! Ich hatte in meiner gesamten Kindheit nur eine einzige besessen, die ich aber einmal in unserer Unterkunft zurückgelassen hatte. Wir begannen zu spielen und ich vergass dieses eine Mal in meinem Leben, dass um uns herum Krieg herrschte, ich Jüdin war und mich in Lebensgefahr befand. Denn endlich konnte ich das sein, was ich schon immer sein wollte: ein ganz normales Kind.
Ein, zwei, drei, Jahre vergingen, die ich bei Oma Karla aufwuchs. Lilli und ich waren unzertrennlich geworden. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich normal, so gar nicht minderwertig und dreckig, wie Hitler uns Juden immer beschrieb. Sie spielte mit mir, gab mir ihre Schulbücher und schulte mich in Mathematik und Naturwissenschaften. Im Gegenzug brachte ich ihr ein wenig Hebräisch bei und erzählte ihr alles über meine Religion, also die Rituale und Feiertage. Und als wir beide etwa Dreizehn waren, kam sie mit glänzenden Augen in meinen Speicher gerannt und erzählte mir, sie habe sich verliebt. In Max, der in Mathematik neben ihr sass. „Er hat mir einen Apfel geschenkt! Und seine Augen, die solltest du mal sehen, fast schwarz!“, rief sie und ihre Wangen röteten sich vor Aufregung. Zwei Tage später bekam sie ihren ersten Kuss von ihm und beschrieb mir alles in den genauesten Details. In dieser Zeit dachte ich viel nach. Was einem alles entging, wenn man jüdisch war, erkannte ich erst jetzt. Keine erste schüchterne Annäherungen dem anderen Geschlecht gegenüber. Kein Kichern mit der besten Freundin beim Nachhause laufen von der Schule. Was für andere Mädchen in meinem Alter völlig normal war, fehlte mir schmerzlichst. Man merkt halt erst, wie sehr man etwas liebt, dachte ich bitter, wenn man es nicht mehr hat. Diese Theorie musste auch Lilli etwa ein Jahr später erfahren. Ich sass gerade über einem Geschichtsbuch, als ich die dumpfen Schritte auf der Treppe hörte. Die Luke öffnete sich und Lilli stand vor mir. Ihre blonden, langen Haare waren verwuschelt und auf ihren rosigen Wangen glänzten Tränen. „Leah. Meine Oma…sie ist…tot!“ Sie schluchzte los und liess sich von mir in die Arme nehmen. „Sie ist einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht!“, heulte Lilli an meiner Schulter. Ich drückte sie noch ein bisschen fester an mich. Dann setzte ich mich mit ihr hin und wir sprachen das jüdische Totengebet Kaddisch zusammen.
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir:
Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu, achte auf mein lautes Flehen!
Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient.
Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort.
Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.
Mehr als die Wächter auf den Morgen
soll Israel harren auf den Herrn.
Denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle.
Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden.
Am Anfang schluchzte sie noch, doch dann wurde sie immer ruhiger, und am Schluss lehnte sie sich an meine Schultern und flüsterte; „Du bist die beste Freundin, die ich je gehabt habe, Leah. Für dich würde ich alles tun!“ Und als ich in ihre braunen Augen sah, wusste ich, dass sie es ernst meinte.
Irgendwie schaffte Lilli es, den Nachbarn weiszumachen, dass ihre Oma nur verreißt war, sodass sich niemand um ein (beziehungsweise zwei)unmündiges Kind kümmern musste. Karla hatte Lilli und mir einen Haufen Geld beiseitegelegt, so mussten wir auch nicht hungern. Meine Lilli war so stark in dieser Zeit. Sie verhielt sich so…erwachsen. Dabei waren wir erst Dreizehn. Aber im Krieg spielte das Alter nun mal keine Rolle. Manchmal lagen wir auf meinem Bett auf dem Speicher und malten uns aus, was wir nach dem Krieg machen wollten. Lilli hatte vor, Krankenschwester zu werden, um wenigstens anderer Leute Großmütter vor dem Tod zu bewahren. Und ich? Erst einmal meine Eltern finden, dann mich irgendwo niederlassen und – Bücher schreiben. Über die Flucht vor den Nazis, das Versteckspiel und die Angst. Und natürlich über Lilli. Bei dem Gedanken musste ich lächeln. „Leah?“, sagte Lilli irgendwann und brach unser Schweigen. „Hm?“ – „Wir bleiben doch immer Freundinnen, oder? Du bist mir so wichtig geworden. Ich glaube, ohne dich könnte ich nicht mehr leben!“ Sie hatte Tränen in den Augen. Meine Mutter hatte doch Recht gehabt, dachte ich. Als ich sie mal gefragt hatte, wie sie denn in dieser Situation noch Zeit für Papa habe, hatte sie geantwortet: „Weisst du, Schatz, wenn die große Gefahr besteht, dass deine Liebsten vielleicht sterben könnten, dann wird die Liebe halt gross.“ Ich legte Lilli einen Arm um die Schultern. „Klar. Was denkst du denn?“ Lilli grinste und schüttelte den Kopf, so dass ihre blonden Zöpfe nur so flogen.
Es passierte an einem Septembermorgen. Grau und verschlungen hing Nebel über dem zerstörten Land. Ich machte die Augen auf und schloss sie gleich wieder, als ich merkte, dass es noch früh war. Doch was rumste da unten eigentlich so? Verschlafen hob ich den Kopf. Noch ein Geräusch. Es klang wie ein Schluchzer. Dann öffnete sich die Luke und wie jeden Morgen erschien Lilli im Morgenmantel. Sieh sah blass aus. „Die Gestapo weiss, dass du hier bist“, brach es aus ihr heraus. Ich erstarrte. „Woher…?“, fragte ich leise, doch Lilli schüttelte nur weinend den Kopf. „Die Tochter der Nachbarin ist mit einem SS-Mann verheiratet. Sie hat mit ihrer Mutter darüber geredet, als ich im Garten war.“ Ich schluckte. Alles hatte einmal ein Ende… „Dann wird es Zeit, auf Wiedersehen zu sagen. Wahrscheinlich bringen sie mich gleich ins KZ Bergen-Belsen.“ Lilli stürmte auf mich zu und packte meine Schultern. „Nein, Leah! Ich habe einen Plan! Die SS hat keine Ahnung, wie du aussiehst! Ich gebe mich ganz einfach als dich aus und….“ Weiter kam sie nicht, ich schrie so laut, dass sie zusammenzuckte. „Lilli! Weisst du eigentlich, was es bedeutet, als Jude in ein Konzentrationslager geschickt zu werden? Sie scheren deinen Kopf kahl und das einzige, das du am Leib trägst, sind Häftlingskleider! Sie lassen dich durch den Matsch bei kältesten Temperaturen rennen und bestrafen dich dann, weil deine Kleidung dreckig ist! Und wenn du nicht wegen Hunger verreckst, dann an den Seuchen, die in den Lagern wüten! Das ist Selbstmord!“, kreischte ich und fing nun auch an mit den Tränen. „Für dich ist es Selbstmord, Leah! Du warst nie richtig gesund, hustest die ganze Zeit und im Gegensatz zu mir hast du noch Eltern, die sich um dich sorgen! Ich habe ausser dir niemanden mehr! Und ohne dich ist das Leben nichts! Ich will, dass du deine Eltern suchen gehst und später mal Schriftstellerin wirst! Nimm dieses Opfer an, Leah, ich flehe dich an!“ Ich starrte Lilli an. „Leah. Wenn du wirklich meine Freundin bist, dann nimmst du dieses Geschenk an. Mein Leben ist sowieso nicht mehr viel wert. Ausserdem ist dieser Krieg ja wohl irgendwann zu Ende.“ Sie beendete ihre Rede und umarmte mich fest, ganz fest, als wolle sie mich nie mehr loslassen. Ich brachte kein Wort heraus und sah sie an. „Geh in den Keller und schliess von innen ab“, sagte sie. Ich umarmte sie noch ein letztes Mal, dann hörten wir das Motorgeheul der SS-Wagen. „Lehitra`Ot, Leah!“, flüsterte sie. „Lehitra`Ot, Lilli!“, antwortete ich und folgte ihren Anweisungen, in den Keller zu gehen und abzuschliessen. Die lauten Schreie der Gestapo hörte ich bis nach unten. Und auch Lillis weiche, leise Stimme. „Meine Helferin? Sie ist abgehauen, als sie die Autos sah.“ Lautes Geraschel, die Männer wollten sich wohl erst selbst überzeugen. Zum Glück lag die Kellertür eher versteckt hinter einer Zimmerpflanze. „Nehmt die Kleine mit!“, hörte ich noch, dann knallte die Tür zu und Lilli, meine Lilli, war auf dem Weg ins Konzentrationslager. Lehitra`Ot, hatte sie gesagt. Auf Wiedersehen.