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Legolliver
Die Bushaltestelle war nicht weit von seinem Zuhause entfernt, aber es war Olliver trotzdem unangenehm, die Strecke zu laufen: Zum Einen sind dreihundert Meter in der Sommerhitze ziemlich anstrengend für jemanden, der bei einer Größe von hundertsechsundsiebzig Zentimetern hundertachtzehn untrainierte Kilogramm auf die Waage bringt, zum Anderen wußte er genau, daß seine Nachbarn hinter ihren selbstgehäkelten Gardinen auf jeden Passanten schneller reagierten als die Bewegungsmelder, die ihre Haustürleuchten einschalteten. In einer Sackgasse, die nur von Rentnern bevölkert wird, gerät schon jedes Auto zur Sensation, und wenn der verrückte Sohn von der merkwürdigen Witwe am Ende der Straße wieder heimkehrt ("Ich habe gehört, er war in ärztlicher Behandlung, wenn Sie wissen, was ich meine..." - "Weil er so dick ist?" - "Nein, er ist wohl nicht ganz richtig im Kopf!" - "Ah, das habe ich schon immer geahnt!"), dann mußte das eine Flut von Tratsch auslösen.
Obwohl ihm der Schweiß von der Stirn in die Augen floß und ihm die Sicht trübte, und obwohl die Reisetaschen seine Arme immer weiter in Richtung Erdmittelpunkt dehnten, stapfte Olliver ohne Halt weiter. Als er endlich die vier Waschbetonstufen zur Haustür erklommen hatte, grinste er in grimmiger Genugtuung: Er hatte den verdammten Spießern nicht gegönnt, ihn bei einer Pause zu beobachten ("Guck mal, das fette Schwein ist schon nach hundert Metern außer Atem!" - "So wie der schwitzt, ist es ein Wunder, daß sich keine Pfütze auf dem Bürgersteig bildet!").
Olliver schloß die kupferbeschlagene Tür auf, zog seine Taschen in den Flur und atmete auf: Endlich im Kühlen, endlich raus aus dem feindlichen Gebiet.
"Hallo, verehrte Frau Mutter, frohlocket, Euer geliebter Sohn ist zurückgekehrt!"
Er war enttäuscht, daß seine übermäßig laute, übertrieben gut gelaunte und über-schleimige Begrüßung nicht von dem Schwall verdrossener Verwünschungen beantwortet wurde, den er hatte provozieren wollen. Aber aus dem Wohnzimmer drang leises Kichern.
Na, das war ja eine Überraschung: Die Minifigs hatten den Raum mit Luftschlangen geschmückt, ein Transparent aufgehängt, auf dem "Willkommen daheim!" stand und warfen Konfetti in die Luft. Einer der Dr. Kilroys (im grauen Anzug, Set 7415) war von den anderen Minifigs dazu bestimmt worden, ein paar Worte zu sprechen - sein seriöser Bart prädestinierte ihn für solche Gelegenheiten.
"Olliver," sprach der Dr. Kilroy, "wir alle haben Dich sehr vermißt und freuen uns, daß Du wieder bei uns bist."
Das zustimmende Gemurmel aus etwa zweihunderttausend ABS- und Makrolonkehlen bewegte Olliver sehr.
Vor etlichen Jahren, als die Minifigs zum ersten Mal zu ihm gesprochen hatten und sich ihm als lebende, intelligente Wesen offenbarten, war er natürlich sehr überrascht gewesen. Daß sie ausgerechnet ihn als Vertrauten erwählt hatten, erstaunte ihn hingegen kein bißchen, schließlich galt er als einer der weltweit führenden Experten in Sachen Lego. Er hatte vierzehn Bücher darüber geschrieben und Dutzende Artikel veröffentlicht. Seine Website, die alle Fragen beantwortete, die man zum Thema haben kann, verzeichnete täglich über eine Million Zugriffe; seine Anzeigenkunden waren sehr zufrieden mit den Strömen von Besuchern, die von legolliver.com auf ihre Sites herüber schwappten. Außerdem konnte er aus dem Stehgreif von jedem beliebigen Baustein den Produktionszeitraum, die verfügbaren Farben und die Teilenummer nennen, von etwa drei Vierteln aller Steinen wußte er auch, in welchen Sets sie zu finden waren und wie die Nummer dieses Sets lautet.
Diese Leidenschaft, die er schon seit seiner Kindheit hegte, stieß nicht überall auf Beifall - Papa hatte ihm noch kurz vor seinem Tod Vorhaltungen gemacht, daß er endlich mit dem Kinderkram aufhören und etwas Vernünftiges lernen solle. Aber Ollivers Interesse an Tierpräparation hielt sich in Grenzen, deshalb wollte er Papas Geschäft nicht übernehmen.
Nachdem Papa dann auf einer Rolle von einem Dutzend Zahnrädern mit 40 Zähnen (3649) aurutschte, die auf einer Achse 12 (3708) aufgesteckt waren und sich beim anschließenden Sturz die Treppe hinab das Genick gebrochen hatte, hegte Mama ebenfalls eine gewisse Aversion gegen Ollivers Hobby, besser: Seine Berufung. Daß der "Plastikscheiß", wie sie es nannte, ihrem Sohn ein passables Einkommen bescherte, dadurch ihr eigenes Überleben sicherte und darüber hinaus noch für einen gewissen Wohlstand sorgte, hatte sie noch tiefer in den Alkoholismus getrieben, als man es mit der Trauer um ihren Gatten hätte erklären können. Nach und nach hatte sie sich in das Wohnzimmer zurückgezogen, wo sie sich auf der Schlafcouch mit Fernsehen und Wein bedröhnte, ein letztes Refugium, während Ollivers Legokonstruktionen Stück für Stück die Möbel ersetzten und Zimmer für Zimmer des Hauses eroberten. Besonders stolz war er auf das Jugendstil-Vertiko, das er, bis auf die Scharnierplatten 3639, männlich und 3640, weiblich, ausschließlich mit den 2*4 Standardsteinen 3001 in Braun Nr.8 gebaut hatte. Auf die Oberseite hatte er mit Fliesen der Sorten 1*4 (2431), 1*6 (6636), 1*8 (4162) und 2*2 (3068) geschmackvolle Intarsien in Braun Nr. 8, Rotbraun Nr. 88 und Dunkelbraun Nr. 120 (in dieser Farbe aber nur die 2431) gesteckt.
In einem der seltenen Momente relativer Klarheit hatte Mama mitbekommen, daß ihr Sohn mit seinen Minifigs sprach. Natürlich konnte sie nur seinen Teil des Dialoges verstehen, die Stimmen der Minifigs waren zu leise für jemanden, der ihnen nicht zuhören konnte. Mit der egoistischen Logik des Suchtkranken beschloß sie, ihren Sohn in eine Anstalt zu stecken; wenn sie es schaffte, ihn entmündigen zu lassen, würde der stete Fluß seiner Tantiemen ihr eigenes Konto füllen.
Zuerst lief alles nach ihrem Plan: Sie hatte heimlich Ollivers Dialoge mit den Minifigs gefilmt, die Legosessel und -ziertische fotografiert, sich wieder etwas in Form gebracht (Hallo, Shampoo; auf Wiedersehen, Trainingshose!) und einen bekannten Psychologen konsultiert. Der war zu Besuch gekommen und hatte Olliver dringend empfohlen, doch mal ein paar Tage in seiner Klinik zu entspannen. Olliver besaß zwar wenig Lebenserfahrung, die auf realen Geschehnissen beruhte, aber Naivität kann man auch bei virtuellen Kontakten im Internet abbauen. Er beschloß, das Spiel mitzuspielen und bezog ein Zimmer (keine Zelle, aber nicht doch!) in der Klinik. Fünf Tage lang kämpfte er mit der Kantinenwirtin (Nein, ich bin wirklich nicht auf Diät gesetzt!) und erzählte den Professoren, Doktoren und Assistenten: Ja, Lego ist sein Lebensinhalt, so wie bei jedem, der sein Hobby zum Beruf gemacht hat; ja, viele Möbel sind aus Lego gebaut, warum auch nicht, Andere schreinern sich ihre Stühle selbst; ja, er spricht auch mit den Minifigs, aber sprechen die Leute nicht auch mit ihren Pflanzen? Oder Kinder, sprechen die nicht auch mit ihren Puppen? Gut, dann sei er wohl ein bißchen kindisch, na und? Nein, natürlich antworten die Minifigs nicht wirklich - die sind doch aus Plastik! Nein, er wisse auch nicht, wie seine Mutter auf diese Idee komme, vielleicht hatte sie mal wieder zu tief ins Glas geschaut? Ach, das wußten Sie nicht? Ja, die Arme, seit ihr Mann, sein Vater, so unglücklich ums Leben kam...
Olliver sah das Interesse der Charakterkritiker an seiner Person sinken. Vermutlich notierten sie in ihre Blöcke eine schlau klingende Umschreibung für "Harmloser Spinner, Mutter hat zu wenig Sex; kein Fall für eine den Ruhm fördernde Veröffentlichung".
Also wurde er frei gelassen, obwohl er gar nicht gefangen worden war, stieg in den Bus und stand schließlich mit zweihunderttausend Minifigs in dem Wohnzimmer, das bisher das Reich seiner Mutter gewesen war. Hatte sie ihr Taschengeldkonto geplündert und war abgehauen? Oder war jetzt etwa sie in die Klinik eingeladen worden? Egal, er war froh, daß sie weg war. Die Minifigs und er feierten bis tief in die Nacht.
Zwei Wochen später, dreizehn Uhr vierzehn, Olliver zog sich gerade an, nachdem er ein erfrischendes Bad mit Einern (3005) in Aqua, Farbnr. 41 genommen hatte. Der Menubringdienst würde in sechs Minuten an der Tür klingeln, da wollte er nicht ungepflegt wirken - außerdem er liebte es, wie ein Sehhund in die Steine zu springen, wie ein Maulwurf darin herumzuwühlen und die Steine in die Luft zu werfen, damit sie ihm auf die Glatze prasselten. Er rasierte noch flüchtig über ein paar Bartstoppeln, wunderte sich zum tausendsten Male, daß er in seinem Alter noch Pickel bekam, drückte einen Mitesser aus und ging, den Talggeruch noch in der Nase, zur Tür. Heute würde Heinz, der Fahrer, ihm einen Schweinebraten "Bayrische Art" bringen, mit Sauerkraut und Speckklößen, den aß Olliver wegen der deftigen Soße besonders gerne.
Ärgerlich, jetzt war es schon dreizehn Uhr dreiundzwanzig und immer noch kein Essen in Sicht. Da, endlich - und ganz schön flott! Der Tiefkühl-Lieferwagen schoß heran, vollführte eine abrupte Drehung im Wendehammer (Mit blockierendem Hinterrad? Hatte Heinz etwa die Handbremse benutzt?) und kam wenige Zentimeter hinter Wuttkes Skoda zu Stehen, nachdem er auf dem regennassen Asphalt einen halben Meter gerutscht war und Olliver ihn vor seinem geistigen Auge schon einige Zentimeter in Wuttkes Skoda gesehen hatte. Er konnte wegen der Weißdornhecke nur die vordere Spitze der Beifahrerseite erkennen, hörte aber, wie Heinz aus dem Lieferwagen stieg, durch die linke Schiebetür das Essen aus dem Kühlraum holte und um das Heck des Transporters zur Haustür der Klichpälders lief. Bekamen die jetzt auch ihr Essen geliefert? Olliver hatte Herta Klichpälders verächtlichen Blick noch bestens im Gedächtnis, dem sie ihm an den Kopf schoß, nachdem er ihr vor einigen Monaten erzählt hatte, daß seine Mutter wegen ihrer schlechten Konstitution nicht mehr kochen könne ("So krank kann ich gar nicht sein, daß ich nicht noch das Essen auf den Tisch stellen könnte!").
Aber da kam Heinz um die Hecke gerannt, er hatte sich in der Tür vertan und es war gar nicht Heinz. Dingdong.
"Hallo, ich bin Melanie, tut mir leid, daß ich zu spät bin. Ich mache die Vertretung für Heinz und kenne seine Tour noch nicht so gut!"
"Macht ja nichts, das kommt schon noch! Was ist denn mit Heinz?"
"Nix Schlimmes, er hat sich den Fuß verstaucht und ist für drei Wochen krank geschrieben..."
"Ach so. Ja, dann..."
" Hier ist Ihr Menu für heute!"
"Ach ja! Richtig! Danke!"
"Tschüss, bis morgen!"
"Ja, tschüss..."
Melanie war zwei Zentimeter größer als Olliver, wenigstens einen Zentner leichter, hatte kurze, mittelblonde Haare, eine leicht knubbelige Nase und ein Grübchen am Kinn. Olliver war hingerissen. Er merkte erst, als er nach dem Essen die Packung wegwarf, daß sie ihm statt des Schweinebratens "Bayrische Art" eine Bratwurst mit Salzkartoffeln und dicken Bohnen gebracht hatte, ein Gericht, daß er normalerweise nur mit Unmengen Cola runterwürgen konnte.
"Johnnys, ich glaube fast, ich bin verknallt!"
Einer der Johnny Thunders (mit beigem Hemd, aus Set 7419) legte ihm mitfühlend die Hand auf seinen Finger, als Olliver abends an seinem Schreibtisch saß, den er wegen der optischen Leichtigkeit größtenteils aus Fenstern 2493, in Blau Nr. 7, aufgebaut hatte. Ein anderer antwortete lakonisch:
"Soll vorkommen!"
"Johnnys, Ihr seid doch weltgewandte Abenteurer und habt reichlich Erfahrung mit Frauen - könnt Ihr mir einen Rat geben, wie ich bei Melanie landen kann?"
"Schauen wir der Wahrheit ins Gesicht: Du bist nicht gerade der Stoff, aus dem die Filmhelden sind. Aber Du bist ein netter Kerl, mit Witz und Verstand. Bringe sie zum Lachen, mach ihr ein paar Komplimente, aber sei nicht plump oder aufdringlich."
"Ich weiß nicht... wahrscheinlich werde ich es vermasseln, sobald ich den Mund aufmache..."
"Wir könnten Dir vielleicht soufflieren..."
Am nächsten Tag kam Melanie pünktlich und Olliver war gut vorbereitet: Ein Johnny Thunder steckte im Kragen seines Pullovers und flüsterte ihm allerlei witzige Nettigkeiten ins Ohr, die Olliver in Melanies Richtung echote. Sie reagierte positiv, wie erhofft, so daß Olliver und die Minifigs diese Begegnung als Erfolg verbuchten.
"Wir müssen jetzt diesen Level halten, damit sie Dich als sympathischen Kunden speichert - erst, wenn sie zum letzten Mal kommt, wirst Du sie zum Essen einladen." sagte Johnny Thunder mit brauner Jacke und schwarzen Handschuhen, aus Set 3380.
"Warum nicht schon in einer Woche?"
"Egal, ob sie ablehnt oder zusagt, die folgenden Essenslieferungen wären peinlich - das wollen wir ihr ja nicht zumuten, oder? Dann würde sie vielleicht, nur um sich das zu ersparen, ablehnen und einen Kollegen zu uns schicken, und das wäre fatal! Was sagst Du dazu, Rennfahrer 4596?"
"To finish first, first you have to finish!"
"Genau, um zu gewinnen, muß ich erstmal ans Ziel kommen!" sagte Olliver. "So machen wir es!"
Drei Wochen lang hatte Olliver mit Melanie geflirtet und Johnny Thunders Charme spielen lassen, er war sicher, daß sie ihn ziemlich gut leiden konnte. Gestern hatte er ihr entlockt, daß in der nächsten Woche der übliche Fahrer - wie hieß er noch... Hans, oder? - wieder seine Tour übernehmen würde.
"Melanie, das ist sehr schade, daß wir uns dann nicht mehr wiedersehen werden...."
"Ja, und man will ja dem armen Heinz nichts Böses wünschen, nur, damit ich wieder zu Dir kommen kann..."
"Nein, um Gottes willen!" sagte Olliver. Aber er dachte: Doch, soll er an lebenslanger, explosiver Diarrhoe leiden!
"Jetzt kommt's" flüsterte Johnny Thunder mit grüner Weste, aus Set 7422, unter Ollivers Kragen, "Lade sie zum Abendessen in ein Restaurant ein!"
"Ich finde das sehr bedauerlich, daß das unsere letzte Begegnung sein soll - ich frage mich, ob wir zum Abschied mal gemeinsam zu Abend Essen sollten? Natürlich in einem Restaurant, nicht ein Essen von Deinem Arbeitgeber!"
Melanie lachte zwar über den Witz, aber sie schaute ihn traurig an.
"Ich fürchte, mein Freund wäre nicht sehr begeistert, wenn ich mich mit meinen Kunden treffen würde..."
Olliver bewahrte Haltung, verabschiedete sich höflich und mit Floskeln des Bedauerns und schloß die Haustür hinter sich. Innerlich kochte er und brach in einen Schwall stiller Flüche aus, von denen die meisten Melanie in eine andere Dienstleistungssparte einordneten. Auch die Gibt-noch-Andere-Floskeln der Minifigs konnten ihn nicht trösten.
Zwei Tage später lotsten ihn die Minifigs in den Keller.
"Wir haben eine Überraschung für Dich!"
In einem der Kellerräume hatten die Minifigs ein Labor eingerichtet, aber das war nicht die Überraschung, die sie meinten: Auf dem Operationstisch, mit allem ausgestattet, was die Technik- und Hydraulik-Serien hergaben, lag Melanie!
"Was macht die denn hier? Und wie kommt die hier hin?" Olliver war fassungslos. Ein Doktor mit kurzen, schwarzen Haaren und Stethoskop, aus Set 6380, lief über Melanies Stirn und erklärte Olliver:
"Als Du sie zum letzten Mal gesehen hast, stand sie noch auf Deiner Türschwelle, nicht wahr? Sie war wohl ein bißchen traurig, daß sie Dich abweisen mußte und, nachdem Du die Tür zugemacht hast, hat sie sich umgedreht und ist, ohne die Treppe zu bedenken, losgelaufen. Sie ist gestolpert, gestürzt und hat sich den Kopf an dem Randstein gestoßen. Res-Q mußte alle dreiundzwanzig großen Helikopter 6462 los schicken, um sie hier runter zu holen."
"Herrje, fast wie Papa damals! Und Ihr pflegt sie jetzt wieder gesund? Nicht, daß ich Eure Kompetenz in Frage stellen will, aber hätten wir sie nicht besser in ein Krankenhaus für Menschen bringen sollen?"
"Nein, das hätte zu lange gedauert. Die Verletzung wäre tödlich gewesen, wenn wir sie nicht sofort in ein künstliches Koma versetzt und eine Lobotomie durchgeführt hätten. Guck hier: Wir haben die Schädeldecke geöffnet und Teile des Gehirns ersetzen müssen."
Olliver ging um den Operationstisch und sah in den offenen Kopf von Melanie. Ein Drittel der grauen Masse fehlte, an seiner Stelle hatten die Minifigs ein Gewirr von runden Einern 3062a installiert, in den transparenten Farben Dunkelblau 14, Rot 17, Gelb19 und Grün 20. Olliver war skeptisch.
"Das soll klappen?"
"Etwas fehlt noch", antwortete ein anderer Doktor mit langem, braunen Haar, ohne Stethoskop, aber ebenfalls aus Set 6380 und gab Olliver eine facettierte Halbkugel 30208 - Farbnr. 21, golden verchromt!
"Setz die gleich unter den Okzipitallappen auf das Kleinhirn... etwas weiter links... bißchen höher... genau da!"
Es gab kein Gewitter, keine Blitze und keiner der Minifigs stieß mit drama-schwangerer Stimme "It's alive!" hervor; Melanie richtete sich einfach auf und sagte: "Hallo, Olliver!"
Melanie schien ihren alten Freund und ihr altes Leben vergessen zu haben und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit Olliver. Die Beiden scherzten und lachten wie frisch Verliebte, Olliver wähnte sich im Paradies. Obwohl Melanies Kniegelenke steif waren und sie ihre Beine nur noch im Winkel von 90° nach vorn und 45° nach hinten schwingen konnte, nicht aber zur Seite, fanden sie sogar eine Möglichkeit, Ollivers Jungfräulichkeit zu beenden, indem Melanie sich über einen Tisch aus 2*8 beugte. Und so lebten Sie glücklich bis ans Ende aller Tage.
Das Ende aller Tage wurde am zweiten Mittwoch nach Melanies Treppensturz durch die Klingel an Ollivers Haustür eingeläutet.
"Guten Tag, ich bin Polizeiobermeister Höfgen. Wir suchen eine Frau Melanie Rheinsteiner, nach unseren Informationen hat sie Ihnen bis vorletzten Freitag das Mittagessen geliefert?"
"Ja, die ist hier... Tut mir leid, als ich ihren Lieferwagen auf den Hof gestellt habe, hätte ich auch eine Nachricht dranmachen können, daß sie bei mir ist. Wissen Sie, Melanie hatte einen Unfall, direkt hier vor der Haustür und erholt sich bei mir davon... In der ganzen Aufregung habe ich überhaupt nicht daran gedacht, daß sie ja bestimmt auch eine Familie hat, die sich Sorgen macht... Sie hat das Gedächtnis verloren..."
Olliver war sicher, daß er es riskieren konnte, Melanie ihrem früheren Leben auszusetzen - ohne Zweifel würde sie ihre Zukunft lieber mit ihm verbringen wollen.
"Aber kommen Sie doch herein und sprechen Sie selbst mit ihr!" bat er Höfgen. "Melanie, Besuch! Die Polizei sucht Dich!" rief er in das Haus.
Höfgen trat ein und musterte die Einrichtung aus Lego, folgte Olliver durch den Flur in die Küche. Melanie Rheinsteiner saß auf einem Küchenstuhl, Beine und Arme starr nach vorne gestreckt, ihre Hände schienen unsichtbare Rohre zu umfassen. Der Polizist blickte in ihre Glasaugen, schaute auf ihren Mund, der zu einem einfältigen Lächeln erstarrt war und sah, als Olliver ihren Kopf zu dem Besucher drehte, daß die Hautpartien oberhalb und unterhalb einer dünnen, schwarzen Linie auf Melanies Hals nicht miteinander verbunden waren.
"Das ist Polizeiobermeister Höfgen, erzähl ihm mal, wo Du die letzten beiden Wochen warst..." sagte Olliver gutgelaunt.
Höfgen zog sein Funkgerät aus der Gürteltasche und sagte: "Nicht nötig, ich rufe nur mal eben die Kollegen an, daß ich Frau Rheinsteiner gefunden habe. Die sollen auch mal einen Arzt vorbei schicken, nur zur Sicherheit. Oh, hier ist der Empfang aber schlecht, ich gehe besser noch mal vor die Tür..."
"Wir sind auf dem Dachboden fertig - kann ich Dir hier unten noch helfen?"
"Ja, ich denke schon... Pack alles, wo Blut dran ist, in Tüten. War da oben wirklich noch eine Leiche? Ich bin hier schon seit drei Stunden zugange und kriege nichts mit, und mir sagt auch keiner was!"
"Och, herrje, da weint das kleine Baby, keiner erzählt ihm eine Geschichte, keiner hat es lieb..."
"Ja, ja, jetzt sag schon, Blödmann!"
"Ziemlich sicher die Mutter, in einem Haufen von Lego!"
"Wie ist sie gestorben, auch 'unglücklich gestürzt'?"
"Nein, wie es aussieht, hat ihr Sohnemann sie mit Chloroform betäubt, mit Lego zugeschaufelt und dann das Chloroform literweise oben drüber geschüttet."
"Na, und? Da wär sie irgendwann doch wieder wach geworden... Und wieso hat der literweise Chloroform?"
"Er hatte eine Genehmigung: Chloroform ist das einzige Mittel, mit dem man Makrolon kleben kann."
"Makrolon? Werden die Legosteine daraus hergestellt? Hat er so die Möbel geklebt?... oh, jetzt fällt bei mir der Groschen!"
"Genau. Die Mutter ist wahrscheinlich irgendwann aufgewacht und war in einem hautengen, bombenfesten Sarg aus Lego gefangen."
"Total irre... Guck mal, der hier ist auch voll Blut. Soll das ein Arzt sein?"
"Nein, das ist ein Sanitäter."
"Du kennst Dich ja gut aus!"
"Ja, ich habe auch ein paar Minifigs zu Hause."
"Aber nicht so viele, oder? Das würde mir schwer zu denken geben!"
"Nein, nein, nur etwa zwei Dutzend - ein paar von denen sehen doch ganz niedlich aus, mußt Du schon zugeben!"
"Ja, aber mit dem Blut von der Frau drauf: nicht mehr ganz so. Der Typ ist ja wohl voll krank - sägt ihr den Schädel auf und stellt die Figürchen zum Zuschauen hin!"
"Die Kollegen haben mir erzählt, daß er glaubt, die Minifigs hätten die Frau operiert und ihr das Leben gerettet. Ich war ein paar Mal auf seiner Website und - was? Was hast Du gesagt?"
"Ich habe nichts gesagt!"
"Ich habe gerade was gehört, wie: 'Macht's gut!' oder so!"
"Vielleicht hat er hier seinen Kumpels ja noch zum Abschied gerufen, als ich in die Beweismitteltüte gesteckt habe!"
"Haha, sehr lustig!"
"Ich habe aber echt nichts gesagt, ganz ehrlich!"