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Leerstellen
Die nachfolgenden Texte befanden sich auf der Festplatte eines gebrauchten Netbooks, das ich auf einem Flohmarkt in Essen-Rüttenscheid kaufte. Der einstige Besitzer behauptet in einem hier nicht geposteten Extradokument, er habe seine Erlebnisse auf eine Art Diktiergerät gesprochen und später abgetippt. Angenommen diese Behauptung stimmt, frage ich mich, warum er diesen Aufwand betrieben hat.
Sicher ist, dass er das Vorhaben, die Einträge zu löschen, nicht realisierte. Die einzelnen Dokumente waren hübsch nach Datum geordnet, ich konnte sie fast unverändert übernehmen, musste vor der Veröffentlichung nur ein paar detailverliebte Sex- und Gewaltszenen zensieren. Es ist ein elektronisches Tagebuch. Erlebnisberichte wechseln sich ab mit Reflektionen. Tagebuch würde ich es wenigstens nennen, wenn ich einen Namen dafür finden müsste. Auf demselben Speichermedium fand sich ein Foto mit einem kleinen Rothaarigen, dessen Rehaugen die Kamera zu hypnotisieren versuchen. Das ist der Autor des Tagebuchs, falls man der Bildunterschrift Glauben schenkt und das alles nicht nur ein seltsamer Fake ist.
17.08.2010
Wir suchen vorsichtig einen Weg durch das verlassene Gewerbegebiet. Überall Schienen, altes Gerät und Scherben. Hank versucht aus der Landkarte seines Handys schlau zu werden. Wir hatten erst dreifache Kartensicht und ebenso viele Meinungen. Und beschlossen, es wäre besser, nur einer bestimmt die Marschroute. Hank war die logische Wahl. Er besitzt einen erstaunlich gut entwickelten Orientierungssinn, vielleicht nimmt er deswegen so gerne die Richtungslosigkeit der Gesellschaft aufs Korn. Jedenfalls scheint der ihm im Moment nicht zu helfen. Uns nicht zu helfen. Seit ungefähr zehn Minuten hören wir Bässe, ohne ihren Ursprung verorten zu können. Es ist wie verhext. Ich spüle eine rote Pille, auf die ein Ferrari gepresst ist, mit dem letzten Schluck Bier runter und werfe die leere Flasche in die Nacht. Sie zerschellt an irgendeiner Wand. "Da muss es sein", sagt Rahim nach einer weiteren Viertelstunde herumirren.
Der Kapitalimus frisst seine Kinder. Krakelige gelbe Schrift, eine dünne Spur Farbe auf rotem Backstein. Rahim schüttelt den Kopf. Hank beginnt über die hilflose Sehnsucht nach Dasein zu reden, die er als Auslöser versteht für derlei hingekritzelte Parolen. "Wir dürfen dem System der Phrasen keine Phrasen entgegensetzen", sagt er. "Jeder hohle Wortkörper stärkt das System, das uns unablässig mit Worthülsen beschießt. Wer zu den gleichen Mitteln greift, gleicht sich an ..." Vielleicht, wende ich ein, wäre es doch der richtige Weg – die Zahl der leeren Worte erhöhen, bis der Platitüden-Berg implodiert ... Vor der Industrieruine steht eine aufgedonnerte Tusse neben dem Eingang – einem Loch, aus dem die muffige Kühle verlassener Lagerhallen dunstet, stockdunkel das Innere.
Wir bekommen kabellose Kopfhörer und setzen unsere Nachtsichtbrillen auf. Ich höre fuck the pain away. Bahne mir einen Weg in die Location, die Infrarotsicht zeigt das dichte Beieinander von orangenen Menschflächen, die zu verfließen scheinen. Durch den Maschinenfilter verliert die Farbe ihre eigentliche Wärme. Ich wechsele die Sound-Kategorien und bleibe bei sphärischen Klängen hängen. Das Richtige um raufzukommen, denke ich, und um in der Bewegung die Pille zu vergessen, bis der Wirkstoff sich entfaltet und vergessen lässt, dass ein Ich mich bewegt. So kommt es - Gedanken von Bildern abgelöst, Bilder von Farbströmen, die sich wahrscheinlich auch wieder in irgendetwas auflösen, aber.
18.08.2010
Paco meinte, unsere Zerstörungswut sei nichts als zu Aggression gedrehte Traurigkeit. Wir sollten der Trauer ins Gesicht sehen und ihre individuellen Züge erkennen. Das wäre es, was Männer täten. Paco war unser Meister. Der hat uns alles beigebracht. Was er sagte, glaubten wir. Also guckten wir damals in uns rein und – fanden nichts. Schon komisch, wenn an der Stelle, wo die Allgemeinheit was zu haben behauptet, nichts ist. Als fehle einem ein Bein oder so. Aber macht eigentlich auch nichts, es kommen ja selbst einäugige Humpelmänner durchs Leben.
Wir drei sind alle Gewächse aus der Saat von Pacos Worten, um es mal poetisch auszudrücken. Der wusste auf alles eine Antwort und uns vaterlosen Gesellen war das natürlich eine Orientierung, mehr noch, er wurde unser Idol. Pacos Zunge sprach die Wahrheit, er war keiner von diesen Meinungsmündern, die einem allerorten begegnen. So schien uns das. Als er uns so weit vertraute, dass er uns allein in seiner Wohnung ließ, entdeckten wir ein Buch unter seinem Kopfkissen, in dem wir ziemlich viele seiner Sprüche wiederfanden.
Wir waren richtig wütend, dass er uns was vorgemacht hat, oder hauptsächlich, weil wir uns was haben vormachen lassen. Aber das Buch wusste auch für diese Situation einen Rat: Ein Absatz erzählte davon, dass der Autor seine Idole gestürzt und zwischen den Scherben seiner Vorbilder geweint habe. Diese Sentenz hatte uns unser Meister vorenthalten. Vielleicht fand er die Zeit noch nicht reif oder er wollte, dass wir dieses Buch fanden oder er war schlicht ein Blender, der sich gerne einen Jüngerkreis hielt.
Als Paco wieder zurückkam, verprügelten wir ihn mit seinen Haushaltsgeräten, mit Nudelholz, Kochlöffel und so, ich weiß auch nicht, das fanden wir irgendwie witzig ... und gaben ihm Quartierverbot mit auf den Weg, als wir ihn die Treppen hinunter stießen. Auch wenn er es in der Hektik und Lautstärke nicht verstanden hat, scheint der Tenor klargeworden zu sein. Wir sahen ihn nie wieder. In seiner nun verlassen wirkenden Butze versuchten wir darüber zu weinen, was wir getan hatten, das erschien uns ebenso sinnvoll, wie Paco, unser Idol, kaputt zu schlagen. Wir folgten seinem Wort und dem Wort, dem er folgte. Was Männer halt tun müssen. Aber wieder war nichts in uns zu finden. Das Buch bot klare Handlungsanweisungen, scheinbar waren wir die inkompatible Komponente. Keine Traurigkeit, keine Reue. Keine Idee von diesen Dingen. Wir hatten die Erde verbrannt, aus der wir stammten. Wurzellosigkeit. Fühlte sich richtig an.
20.08.2010
Hank deliriert über sein Selbst, das er sich als als leeren Signifikant vorstellt. Das ist sein Ding, beziehungslos sein, als einziger im System der Codes und Zeichen. Unverständlich und damit nicht zu vereinnahmen, völlig unabhängig. Ich glaube es funktioniert, theoretisch, so weit ich es verstehe.
Er feiert immer noch. Wir feiern immer noch. Was wir halt so unter Feiern verstehen. Tag zwei also. Oder drei?
Rahim kommentiert Hanks Gebrabbel mürrisch, er tigert durch die enge, stinkende Wohnung, wo sich schmutziges Geschirr von vielen Wochen den Platz streitig macht mit muffeligen Kleiderbündeln. "Was soll das mit dem Fenster?", frage ich, als er es aufmacht. "Hier ist was Chemisches. Insektizide. Aggressiver Reiniger. Macht mich wahnsinnig." Auf der Wendeltreppe in die innere Tiefe bekommt er diesen Telegrammstil. Ich schnüffele. Wie erwartet: Nichts, das irgendwas mit Chemie zu tun hat.
Er geht uns mit seinen Geruchshalluzinationen nicht das erste Mal auf die Nerven. "Wir müssen raus", sage ich.
"Wieso? Was sollen wir da. Da stinkt es." Das kommt mir gerade irrational vor, aber ich kriege diese Empfindung nicht klar genug, um sie in Worte zu fassen. Ich versuche, eine passende Antwort zu überlegen. "So lange es hell ist!", rufe ich.
Rahim mustert mich argwöhnisch, zu Recht vielleicht, man weiß es nicht, jetzt, da ich in seinem Verdacht stehe, finde ich mich selbst verdächtig. "Was hat das Licht damit zu tun?"
"Wir müssen los, bevor es dunkel wird!" Rahim nickt jetzt. Anscheinend besänftigt.
"Es ist an der Zeit", hebt sich ein formulierter Satz aus dem Brei von Hanks Gestammel, "die Wände mit leeren Signifikanten zu füllen. Zeichen, die auf nichts verweisen. Die Beziehungslosigkeit öffentlich machen. Mit den Lügen aufräumen." Zum Schluss hätte er aufstehen müssen, den letzten Satz rufen und wild gestikulieren.
Rahim schnauft. Nicht sein Thema. Er würde lieber Revolution spielen, Mülltonnen anzünden und Autos, ein paar längstgebrochene Tabus erneut brechen, als gäbe es weder Gestern noch Morgen. Der fleischgewordene Dämon, anarchistisch und chaotisch, zerstörungslustig. Er würde alle Strukturen und Systeme zum Einsturz bringen, wenn er könnte. Rahim beschäftigt sich nicht mit dem Danach, sucht nicht nach Alternativen. Konsequent verneinend, ohne das Trugbild einer schönen neuen Welt anzubieten. Dostojevski hätte ihn verstanden und verachtet.
Aber jetzt ist sein Blick unstet, nicht flammend, er leidet unter den Wahnvorstellungen, ich glaube in seinen Augen die Erkenntnis flackern zu sehen, dass die Gerüche, die er wahrnimmt, nicht da sind, dass etwas in ihm durcheinandergeraten ist, trotzdem scheint er weiterhin zu überlegen, woher der Geruch kommen könnte. "Wir gehen Hauptbahnhof. Haschisch." Ich nicke nur. Egal.
Wir halten Hank an den Füßen und lassen ihn kopfüber ins Wasser hängen, tauchen ihn wiederholt in den Fluss. Spendieren ihm danach einen halben Liter Kaffee. Er glotzt uns misstrauisch an und fragt, was passiert sei. Wir erklären ihm: Er wäre halt ins Wasser gefallen und wir hätten ihn gerettet. Ich will jetzt nicht von einem heilsamen Schock reden, aber mit seinem Signifikanten-Gelaber war danach für ein paar Tage Schluss. Er schielte mich manchmal noch misstrauisch an, machte aber einen einsatzfähigen Eindruck.
Wie immer bin ich Lockvogel. Wirke freundlich und harmlos, so Marke Touri und Wochenendkiffer. Des Großstadtkleindealers Lieblingsbeute. Hank und Rahim verstecken sich hinter einem Busch in der Nähe der Eisenbahnbrücke. Dorthin soll ich den Typen locken – bisher weiß ich noch nicht mal, wer hier mein Ansprechpartner ist. Nach wenigen Sekunden aber habe ich einen entdeckt, der mit ziemlicher Sicherheit hier seine kleinen Geschäfte abwickelt. Marokkaner oder Tunesier, tippe ich. Er bemerkt meinen Blick, wir haben eine Sekunde länger Augenkontakt als normal - dann nickt er kaum merklich Richtung Eisenbahnbrücke. Klar, da latschen sie alle hin. Ich schlendere hinter ihm her und hole ihn auf der Brücke ein, wo er sich auf das Geländer stützt. Im Vorbeigehen raune ich, hier sei es zu gefährlich und gehe weiter, ohne mich umzudrehen. Meine Schweine erkenne ich am Gang, wie die sich verhalten, das weiß ich.
Auf der richtigen Höhe verlangsame ich meinen Schritt, lasse mich von ihm einholen und nenne eine Zahl. Bekomme was in die Hand gedrückt. Das Produkt ist zu teuer und mit einem Anfall echter Empörung versuche ich ihn runterzuhandeln, seine Preise grenzen an Straßenraub, er verlangt das Doppelte des üblichen Kurses. Ich feilsche und feilsche – ergebnislos, ein harter Knochen, behauptet, Deutsch weder sprechen noch verstehen zu können "Nix deutsch, nix deutsch". Er versucht meine Faust zu öffnen, in der ich das Dope festhalte. "Verpiss dich!" Entrüste ich mich und schlage seinen Arm zur Seite. Das war das Stichwort. In dem Gesicht des Dealers sehe ich Überraschung, Misstrauen, Wut in rascher Folge sich abwechseln. Dann Rahims Haken in die Nieren des Nordafrikaners. Der dreht sich halb und kriegt einen von Hank. Guter Schlag, es knackt und knirscht. Ein klebriger Faden aus Speichel und Blut spritzt aus seinem Mund.
"Ruhig, ruhig", sage ich zu niemand besonderem und suche in seiner Jackentasche nach dem in blaues Zellophan verpackten Haschisch. Da, ein kleiner Brocken, höchstens zehn Gramm. Nicht besonders viel, aber auf die Menge kommt es nicht an, im Vordergrund steht die Aktion. "Wo ist dein Bunker?", fragt Hank. Und bekommt Schulterzucken und Nichtverstehensgesten zu sehen, auf die er mit einem Eiertritt antwortet. "Ich will nicht mehr hören, dass du nichts verstehst, scheiß Kanake", sagt Rahim. "Solche wie dich brauchen wir hier nicht. Drogen verticken, kein Deutsch können ..." Ein älteres Paar kommt vorbei, den Blick starr geradeaus gerichtet, stumm wie Fische. Ich genieße das Gefühl, in einer Blase aus Gewalt und Kraft zu stehen, den Blicke weglenkenden Einfluss, den diese Blase hat.
Mit einem Mal weg sind all die nach Verbrauchtsein und Leere schmeckenden Nebel und Weben, die über Gedanken und Sinneseindrücken lagen. Nur noch das reine Gefühl von Überlegenheit, gleichgültig, wie feige sie ist. Rahim fasst den Haschischverkäufer an den Schultern und will ihn ins Gebüsch zerren. Der krallt sich am Brückengeländer fest, ich sehe, wie er auf seine verkniffene Unterlippe beißt. Schreien will er, um Hilfe rufen, aber er tut es nicht. Vielleicht hat er keine Papiere oder er ist mit einem Radius von 30 km einem Asylantenheim in der Pampa zugeordnet oder wird per Haftbefehl gesucht. Es könnte auch jeder der Punkte auf einmal zutreffen, glaube ich, aber das ist gerade nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass er die Klappe hält, das verrät ihn, der wird keine Anzeige machen, an dem kann man sich austoben. Hank nimmt Maß und schlägt mit Genießerlächeln seinen Teleskopschlagstock auf die um das Geländer gekrallten Finger. Jetzt doch Geräusche, eine Explosion von einem Jaulen. Am Ende des Weges sehe ich die Alte sich noch einmal umdrehen, in dem Moment der Blick aus ihren schreckgeweiteten Augen wie in Großaufnahme, und den Arm ihres Mannes, der schnell ihre Schultern umfasst und sie mitzieht. Die werden den Notruf wählen.
"Wir verschwinden", sage ich. Das ist eine Ansage. Wenn ich sage, wir hauen ab, tun wir das auch. Nicht weil ich der Scheißanführer bin, sondern weil die beiden meinem Gefühl vertrauen. Hank nimmt noch schnell Maß und kloppt den Metallknuppel des Schlagstocks gegen sein Knie. Das Bein knickt in diesen unnatürlichen Winkel, der Hank zeigt, dass er alles richtig gemacht hat, bevor der Typ zusammenbricht. Ein paar Tritte kriegt er noch mit, bevor wir uns endgültig aus dem Staub machen. Über Garagendächer und Katzenstraßen, durch eine stille Gasse – schon mischen wir uns wieder unter die anonymisierende Masse, die sich träge über die Bürgersteige schiebt.
23.08.2010
Natürlich sind das nicht wir, man kann uns nicht verantwortlich machen. Wir spielen nur, nein, nicht einmal das, wir stellen Schauspieler dar, simulieren die Simulation. Ich habe da vorhin einen Film gesehen, der hat uns vorweggenommen. Wir hängen an den Fäden eines Regisseurs, Visionärs, Propheten – ungelogen, was ich da gesehen habe, das waren genau wir, ohne dass jemand von uns diesen Film bisher gesehen hätte. Der lässt uns über die Jahrzehnte hinweg tanzen, mir kommt es gerade vor, als hätte sich unsere Realität auf sein Drehbuch hin entwickelt. Als wäre es unser Job, die schlimmstmögliche Vision der urbanen Kids wahrzumachen. Da haben wir natürlich noch einiges zu tun. Dabei fällt die Sinnfrage aus und auch auf der Suche nach einem Warum wird man nicht weit kommen. Vielleicht weil die Grenzen von Recht und Ordnung und Anstand automatisch expandieren wollen und irgendjemand dafür sorgen muss. Wir sind der unsichtbare Handlungsstrang, eine unerwartete Geschichte, die scheinbar aus dem Nichts in die geordnete Welt brechen wird. Besser ich eliminiere dieses Journal. Niemand soll uns kommen hören. Und ob zu dem stetig wachsenden Datengebirge meine Zeilen hinzugefügt werden oder nicht – wen interessiert das schon? Das Spiel geht ohnehin weiter, das ist das einzige, was zählt.