Leere
Ich schlug ruckartig die Augen auf. Dunkelheit. Alles was ich um mich herum wahrnehmen konnte war eine tiefschwarze Masse, die mich zu umhüllen schien. Unsicherheit ließ meinen Atem schneller schlagen. Ich konnte mir nicht erklären wo ich war, noch wie ich an diesen so unheimlichen Ort kam. Trotzdem wusste ich aus einem unerklärlichen Grund was ich tun musste. Ich tauchte unter in meine Gedanken und suchte nach einer Erklärung, nach einem Ausweg, nach Erinnerungen.
Ich habe Wälder schon immer gemocht. Auf eine dunkle, geheimnisvolle und zugleich wunderschöne Art wurde ich verzaubert, jedes Mal wenn ich den grauen Asphalt verließ und mein Fuß voller Vorfreude den Waldboden streifte. Mit jedem Schritt wurden meine Emotionen gewaltiger, je tiefer ich in den Wald ging desto tiefer brannten sie sich in mein Herz. Es war Herbst - es ist immer Herbst. Die Bäume waren in rote, gelbe und orangene Töne gefärbt. Der Wind sang sein gewohntes Lied und dessen Klang drang durch den ganzen Wald bis hin zum See und den dahinter liegenden Bergen und Tälern. Jedes Mal wenn ich den schmalen Pfad entlang ging spürte ich die vertraute Melodie in meine Ohren. Die untergehende Sonne vermischte ihre Farben mit dem Himmel und tauchte ihn in eine zauberhafte Mischung von Lila und Rosa.
Es war wunderschön - es ist immer wunderschön. Ich ging weiter und weiter, mal führte der Pfad nach links, mal nach rechts und dabei hielt ich schon Ausschau obwohl ich tief im Innern wusste, dass ich auf diesem Weg nichts finden würde. Ich gab dem kleinen Waldweg den Namen Pfad der Erinnerung. Zunächst kam es mir lächerlich vor und ich wusste wenn andere dies herausbekämen, würde man sicherlich über mich lachen. Doch jedes Mal wenn ich diesen Pfad entlang ging sah ich mit jedem Schritt einen Tag meiner Vergangenheit. Alte Freunde, glückliche Erlebnisse, traurige Momente und bedeutsame Menschen. All das ging mir stets durch den Kopf, wenn ich den Pfad betrat. Dabei kam Freude und Glück, aber auch Schmerz und Leid auf. Denn der Pfad hatte auch seine dunklen Seiten, die ich jedoch zu schätzen wusste. Die anderen Menschen wurden mir von Zeit zu Zeit egal, ihr Getratsche, ihre Werte, denn hier gab es nur mich und meine Erinnerungen. Doch die Vergangenheit wurde auch mit jedem Schritt zurückgedrängt, denn die Gegenwart kam immer näher bis ich sie schließlich erreichte. Man konnte das Schloss schon von weitem erkennen. Es lag an einem großen See am Ende des Waldes und sein Anblick war atemberaubend. Das Schloss bestand aus vier Stockwerken. Eine weiße Fassade, große abgerundete Fenster mit dunkelblauen Fensterläden, mittelalterliche Verzierungen, große Säulen, Türme, Balkone, und ein schwarz glänzendes Dach schmückten sein Aussehen. Ich stoß das schwere Eisentor auf und wusste das ich die Vergangenheit hinter mir gelassen hatte. Ein steiniger Weg führte mich zum Anwesen. Nach wenigen Metern teilte er sich. Links würde ich zum Seeufer geführt werden. Rechts befand sich ein wilder Garten, dessen Zahl an Blumen mit der Anzahl der Sterne verglichen werden könnte. Doch ich bog weder nach links, noch nach rechts ab. Ich hatte mein Ziel noch fest vor Augen und ging zielstrebig geradewegs auf eine große steinerne Treppe zu. Auf den beiden Seiten der Treppe wuchsen zwei Rosenbüsche.
Am Treppenende angekommen hielt ich noch einmal an und blickte zurück. Ich hoffte zu finden was ich suchte. Auch wenn ich noch nicht wusste was es war, ich war entschlossen ich würde es schon erkennen. Also wandte ich mich der alten beeindruckenden Eingangstür zu und stemmte sie auf. Der Eingangsbereich war riesig. Meine Augen verloren sich in den farbenprächtige Bemalungen und Verzierungen, welche die hoch oben liegende Decke schmückten und dem goldenen Kronleuchter, der mit Edelsteinen bestückt war. Eine gigantische Treppe führte links und rechts in das obere Stockwerk. Dazwischen lag eine Empore von der man den gesamten Eingangsbereich und die Eingangstür überblicken konnte. Darunter führte ein langer Korridor zu mehreren Räumen. In diesem Stockwerk hielt ich mich nicht oft auf. Es gab eine Küche, einen Essaal, mehrere Vorratskammern und weitere uninteressante Räume. Das Stockwerk war für mich nie wichtig gewesen, es war oberflächlich und für jeden zugänglich. In einem Raum gab es eine Wendeltreppe, die hinab in das Verließ und die Waffenkammern führte, auch wenn dieser Ort die geheimnisvollsten Dinge bot, die niemand erwarteten vermochte, an diesem Tag war auch das nicht von Bedeutung. Ich nahm die linke Treppe und rannte los hinauf ins obere Stockwerk. Es gab mehrere Flure und tausende von Türen. Obwohl ich schon unendlich mal hier gewesen war, kannte ich nicht alle Räume, denn manche lagen versteckt und manche waren verschlossen und die Schlüssel unauffindbar.
Mein Instinkt sagten mir ich würde in diesem Stockwerk etwas finden. Eine Antwort.
Ich schloss meine Augen und ging in mich, dann hörte ich eine Stimme. Eine helle, klare Stimme sang in der Ferne engelsgleich ein Lied. Mein Herz schlug schneller, ich wusste sie würde mich zu dem führen was ich suchte. Ich durchquerte sämtliche Räume, kam an der Bibliothek vorbei, an dem großen Arbeitszimmer, an der Galerie. Ich fegte durch das gesamte Stockwerk, bis ich vor einer schwarzen Tür anhielt. Ich hatte sie noch nie gesehen, doch ich war es gewohnt neue Winkel und Orte zu entdecken, denn das Schloss war unendlich groß, auch wenn es von außen endlich wirkte. Der Gesang kam aus dem Raum der hinter dieser Tür lag. Ich hörte noch ein Weile der himmlischen Stimme zu, dann griff meine Hand nach dem goldenen Türknopf. Die Stimme die zuvor im ganzen Schloss widergehallt hatte hörte abrupt auf und es wurde wieder still. Ich riss neugierig die Tür auf. Doch der Raum war leer. Nur eine alte Kiste stand einsam und allein vor einem großen Fenster, welches zur Hälfte von einem Vorhang verdeckt wurde. Ich schloss die Tür hinter mir. Ich hatte mich in dem Schloss immer wohl und zuhause gefühlt, auch wenn ich allein war, war ich doch niemals einsam. Doch jetzt wurde mir unwohl. Ich war mit Angst erfüllt, trotzdem wagte ich ein paar Schritte in Richtung Kiste. Der alte Holzboden knarzte. Erst dachte ich mir nichts dabei, als ich das Geräusch hörte, doch dann wurde ich stutzig. Erst jetzt fiel mir auf wie dreckig der Raum war. So etwas hatte ich noch nie entdeckt.
Das Schloss schien immer schon alt, die Verzierungen, die Kronleuchter, die gigantischen Treppen, Türme und unzähligen Räume ließen es gar mittelalterlich wirken, doch dreckig und verkümmert war es nie gewesen. Es schien zwar aus einer alten Epoche zu stammen, doch es kam mir immer so vor als würde es erst vor kurzem gebaut worden sein. Als wäre es in eine falsche Zeit geboren, alt und jung zugleich. Ich schaute mich fragend um. Der knarzende Boden war mit Staub bedeckt, an den Wänden löste sich der Putz, eine Tapete schien noch nie da gewesen zu sein und Spinnweben hingen von der Decke. Ich ging nervös auf das Fenster zu und riss den Vorhang zur Seite. Ich blickte auf den Garten. In der Ferne sah ich den See. Kein glitzern, kein widerspiegeln der Sonnenstrahlen. Das fast schwarze Wasser wirkte beängstigend und erinnerte mich an eine schwarze Masse. Schwarze Masse. Die Worte hallten in mir wieder und mein Herz pochte noch schneller. Wieder fiel mein Blick auf den Garten. Er war durch mehrere Laternen hell erleuchtet und wirkte nach wie vor wunderschön. Mein Blick streifte den dunklen Nachthimmel. Nacht. Es war Nacht - es ist nie Nacht!
Mein Magen schien sich umzudrehen und mir wurde schlecht. Das ganze kam mir vor wie ein Albtraum. Ich hatte mich immer wohl gefühlt im Schloss, doch nun war alles anders. Entschlossen, dass alles wieder so sein würde wie zuvor widmete ich mich der Kiste und riss ihren Deckel auf. Ich war wütend und das machte mir Angst. Die ganze Situation löste in mir Unbehagen aus, so etwas hatte ich an diesem eigentlich so schönen und erlösenden Ort noch nie gefühlt. Es war als würde meine Welt zusammenbrechen, was sie eigentlich wortwörtlich auch tat. Ich musste etwas tun, ich musste das Ganze aufhalten. Meine Augen schauten in die Kiste. Nichts.
Das ergab keinen Sinn. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf und fegten mich weg. Und da war sie plötzlich, diese Leere. Es war eine überwältigende Emotion die mich überkam, dabei schien sie völlig neu und doch vertraut. In diesem Augenblick als sie das erste Mal durch meinen Körper strömte, wusste ich nicht das sie zu einem dauerhaften Begleiter werden würde. Ich taumelte rückwärts und stolperte über meine eigenen Füße. Ich fiel und schlug mir den Kopf auf dem alten Holzboden. Um mich herum alles schwarz, als würde ich ertrinken. Ertrinken in dem einst so schönen See, der nun viel mehr eine schwarze, klebrige Masse zu sein schien. Heftig schlug ich die Augen auf. So war ich noch nie fort gegangen, sonst war ich immer wieder fröhlich den schmalen Waldweg zurück gegangen und bin ruhig und entspannt aufgewacht. Alles war anders.
Da war Sie wieder die Dunkelheit und meine Gedankenwelt war spurlos verschwunden. Die Leere breitete sich nicht nur in meinem Körper, in meinem Herz, meinem Verstand aus. Nein, sie übernahm meine ganze Seele, ich fühlte mich ausgeraubt und verlassen. Verlassen von meiner Welt, von meinen Erinnerungen und meinen Gedanken. Ich konnte meinen Emotionen nicht einmal freien Lauf lassen und weinen, da war ja nur diese Leere die mich einnahm.
Es kam mir vor als seien Stunden vergangen, dabei wusste ich genau, dass nur ein paar Minuten verstrichen waren, seitdem ich aus meiner Welt zurück war.
Ich wusste nicht was ich tun sollte, doch ich konnte nicht einfach nur verzweifelt rumsitzen und nichts tun.
Ich nahm mir vor herausfinden was vor sich ging, auch wenn ich die Erinnerung, die mir wohl erklärt hätten wie ich hierhin gekommen bin nicht mehr auffinden konnte.
Zunächst suchte ich nach Hinweisen die mir zeigen sollten wo ich mich befand. Die Dunkelheit schien zu Anfang unerträglich und bereitete mir Angst, doch dann war diese Leere gekommen. Ich hatte keinerlei Idee, was genau sie war und was sie ausgelöst hatte. Sie war plötzlich da gewesen und schien im weiteren Moment ganz hilfreich.
Ich hatte keine Angst mehr mich frei zu bewegen und die Dunkelheit zu erkunden, denn diese spürte ich nun nicht mehr. Bei dem Versuch aufzustehen schmerzte jeder einzelne Muskel in meinem Körper. Es war unerträglich, doch ich schaffte es. Einen Grund für die Schmerzen zu finden , schien mir nicht wichtig zu sein, also tastete ich mit meinen Händen die Umgebung ab. Es dauerte bis ich etwas anderes als Luft gefunden hatte. Als ich meine Hand nach rechts ausstreckte, stieß ich auf eine glatte Oberfläche. Sie war hart und kalt. Es gab mehrere Rillen und Lücken. Es waren wohl Steine. Sie bildeten eine Wand oder eine Mauer, sicher war ich mir nicht. Ich vermutete in einem Raum zu sein, also zog ich mein Sweatshirt aus und legte es auf den Boden, neben die ertaste Wand. Ich ging an ihr entlang bis ich auf eine Ecke stieß, dann auf noch eine und noch eine. Nun war ich mir sicher, dass ich in einem Raum war. Meine schon kalt gewordenen Hände suchten zitternd nach der vierten Ecke. Danach kam ich wieder bei meinem Sweatshirt an. Zufrieden zog ich ihn über, bis mir klar wurde, dass mir diese Erkenntnis nicht wirklich weiterhalf. Eine Tür hatte ich nicht finden können und in der Mitte des Raumes konnte sich auch nichts befinden. Ansonsten wäre ich wohl bei meinen ersten hilflosen Versuch etwas zu ertasten, bevor ich auf die Wand traf auf etwas anderes gestoßen. Mutlos ließ ich mich auf den Boden sinken. Meine Muskeln schmerzten jetzt noch mehr als zuvor und meine Augen brannten. Ich spürte wie meine Kehle austrocknete und mein Kopf dröhnte. Ich schloss die Augen und betete, dass ich einschlafe würde und irgendwo anders aufwachen vermochte.
Ein lautes Geräusch ließ mich aufschrecken. Ich muss wohl tatsächlich eingeschlafen sein, nur an diesem furchtbaren Ort befand ich mich immer noch. Ich wartete bis das laute Quietschen aufgehört hatte und ging ihm dann auf den Grund. Wieder ging ich die Wand entlang und tastete sie ab.
Ich wollte schon aufgeben, doch bei der letzten Wand war ich irritiert. Die Wand reicht mir gerade einmal bis zum Bauch. Mir kam sie nun vielmehr wie eine kleine Mauer vor. Ich überlegte gar nicht lange, sondern hob mein Bein und kletterte hinüber. Weitere Dunkelheit. Und wie ich zu meinen Bedauern herausfand ein weiterer Raum, kein Ausgang, keine Freiheit. Doch auch hier entdeckte ich eine Mauer. Und das ging sehr lange weiter. Raum. Mauer. Raum. Mauer. Es schien ewig weiter zu gehen und gar kein Ende zu nehmen. Und auch wenn mit jedem Raum und mit jeder Mauer die Dunkelheit zu verschwinden schien, nahm meine Hoffnung ab. Meine Kraft war verschwunden, ich hatte Blasen an den Händen und meine Füße bluteten. Es war alles grau und trostlos. Ich wollte zurück. Zurück zum Wald, zu dem schmalen Pfad, dem Schloss und zu dem See. Doch ich wusste da war noch mehr. Es war vielmehr als meine Gedanken. Es war etwas so reales. Dieser Ort schien jedoch ewig weit weg zu sein. Ich vermisste ihn, viel mehr noch als das Schloss.
Es schien alles zu verblassen, selbst die Erinnerung daran. Als hätte ich mich vor langer Zeit abgewandt , hätte mich ablenken lassen, mich verlaufen und wäre tief versunken.
Die Stille wurde unterbrochen. Da war Sie wieder. Die Engelsstimme klang über die Mauern hinweg in meine Ohren. Erst hörte ich ihr nur zu, aber dann erinnerte ich mich, wie viel Mut sie mir im Schloss gebracht hatte. Ich hätte nicht gedacht, dass es etwas bringen würde weiter über Mauern zu klettern und auch nicht das ich irgendwo ankommen würde, doch aus irgendeinem Grund stand ich trotzdem auf und ging. Die Stimme wurde lauter und ich spürte das ich ihr näher kam. Und je näher ich ihr kam desto mehr bekam ich das Gefühl, dass die Leere verschwinden würde. Ein Zeitgefühl hatte ich schon lange nicht mehr. Wenn ich zurückblicke kann ich nicht sagen, wie lange ich weg war. Nicht nur wie lange ich gefangen war in der Dunkelheit oder wie lange ich über die kalten Mauern geklettert bin. Auch nicht wann die Stimme aufgetaucht ist, um mich wach zu rütteln, sondern wie lange ich in meiner Welt war, im Land meiner Gedanken, ohne zu merken, dass da noch mehr war. Ich stand nun dicht davor. Ein helles Licht umgab mich und die Stimme sang immer lauter. Bis eine weitere Stimme meinen Namen rief. Eine bekannte Stimme und plötzlich taumelte ich wieder nach hinten und fiel. Fiel so tief wie noch nie.
Ich brauchte die Augen nicht zu öffnen, denn sie waren die ganze Zeit schon geöffnet gewesen. Und sie waren auf die Tafel vor mir gerichtet. Mein Blick starrte immer noch auf das Wort vor mir, als ich wieder zurückkam. In weißen Buchstaben stand es da. Leere. Neben mir das bekannte Gesicht einer Freundin, die mich fassungslos anschaute und wohl versucht hatte meine Aufmerksamkeit zu bekommen. In dem Moment wurde mir klar, dass meine Gedanken mich mal wieder in die Tiefe gerissen hatten. Dabei hatte es sich so real, so täuschend echt angefühlt- es fühlt sich immer echt an. Immer real. Und immer schein ich zu vergessen das all dies nicht die Realität ist. Sondern nur die Welt meiner Gedanken, in der ich mich so gerne verstecke, in der ich so gerne träume. Und in dem Moment wurde mir bewusst, dass ich etwas gelernt hatte. Dass sich in einer falschen Welt zu verstecken, nicht weiterhilft die Dunkelheit loszuwerden. Es heilt keine Wunden, es behebt keine Probleme und macht nicht frei. Nein, es war die Leere die mir geholfen hat. Auch wenn es erst so schien als wäre die Leere ein Teil der Dunkelheit. So hat sie mir doch letztendlich gezeigt, dass es mehr gibt. Mehr als verstecken spielen. Und auch die Stimme, dich mich aus den tiefen meines Verstandes gezogen hat. Ich höre sie heute noch immer in meinen Ohren. Gib der Realität eine Chance. Du magst tausend wunderschöne Träume besitzen, aber du hast nur dieses eine Leben. Gib es nicht für etwas auf, was nicht die Realität ist.
Trotz all dem sitze ich hier und diese Sehnsucht in mir ist so gigantisch, dass ich es nicht aushalte ohne diese Welt zu leben. Könnten denn nicht beide Welten, wie unterschiedlich sie auch sein mögen, Teil meines Lebens sein?