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Leere Straßen
Zufrieden blickte er hinaus auf die Straßen, welche sich wie Narben durch das schwächliche Antlitz der trauernden Stahlschluchten wandten. Bedrohlich knurrende Gewitterwolken schwebten über den Köpfen der immer gleichen Bürokomplexe, die wie sterbende Bäume die Gehsteige und die selten darauf verkehrenden, immer gleich gekleideten, grimmig, doch zufrieden daher schauenden Passanten säumten. Hin und wieder blieb einer von ihnen stehen, zog einen Pinsel aus seiner Jackett-Tasche, tauchte ihn in den vom Regen völlig aufgeweichten Asphalt der einsamen Straßen und begann die vor Erschöpfung bröckelnden Fassaden der Gebäude, die kläglich vor sich hinwachsenden, nahezu völlig verwelkten, mutig die Stellung haltenden Blumen und Gräser, den Gehsteig zu seinen Füßen und hin und wieder sein eigenes, ausgeleiertes Jackett, in dunklen Tönen zu streichen bis schließlich alles in einheitlichen, matten Grauschattierungen erschien. Weiter unten, an einer Kreuzung, unter stets roten Ampeln, erblühte ein kleiner, den Bedingungen trotzender Löwenzahn aus den unbarmherzigen Armen des schwindenden Betons, hinein in die Fäuste einer vegetationslosen Welt. Jemand hatte ihn beobachtet, wie er wuchs und wie er erwachte, und kaum hatte der Löwenzahn aufgehört zu blühen, kam ein halbes dutzend jener Passanten angerannt und trat ihn mit schweren Stiefeln zurück in den Boden. Ausblutend verweste er in steinernem Grabe und wurde schon bald überpinselt von seinen nichtsahnenden Mördern. Dieselben Straßen, die der Blüte zum Verhängnis wurden und die sich wie Schlingen um die Gebäudeansammlungen zogen, wurden schon lange nicht mehr befahren, denn waren sie gespickt von glühenden Kohlen, die von all jenen auf den Asphalt projiziert wurden, die nicht wussten, dass kühles Wasser heiße Flammen löscht. Selten versuchte jemand sie zu beschreiten doch der, der sie betrat, verlor schon wenig später seine Füße.
Zufrieden und mit geladenen Pistolen in den Taschen, blickte er hinaus auf die Straßen, denn die Straßen waren leer.
Plötzlich durchdrang ein Lichtstrahl die Wolkendecke, brach sich in den Regentropfen und schuf einen wundervollen, farbgewaltigen, kilometerweiten Regenbogen. Erschrocken blickten die Passanten gen Himmel und als sie sahen was sich ereignet hatte, brachen sie die Pinsel entzwei, rissen sich die Anzüge von den mageren Leibern und tanzten ausgiebig, hemmungslos und unbeeindruckt auf den weiterhin glühenden Kohlen. Er blickte unzufrieden auf die Straßen, welche sich nun im Gleichstrom mit den stolzen Wolkenkratzern wie lebendige, reißende Flüsse ihre Wege durch die offenen Arme der stählernen Flussbetten bahnten. Die schwere bleierne Wolkendecke, die noch Sekunden zuvor die Gemüter bedrückt hatte, lichtete sich allmählich und offenbarte einen azurblauen, von Tauben und Papageien bevölkerten, lächelnden Himmel, der freudig in die Lobeshymnen seiner Untertanen einstimmte. In sekundenschnelle verheilten die Risse in den Gebäudefassaden und in ähnlichem Eiltempo und mit unglaublicher Gewalt, durchbrachen starke Eichen, üppig beblätterte Fichten, riesige Kastanien, glühende Anemonen, bunt gefärbte Astern und verletzlich kleine Bouvardien den erstickenden Klammergriff des Betons und des Asphalts und katapultierten Bruchstücke derselbigen durch die nach Leben duftenden Lüfte. Der zuvor geschändete, halb verweste Löwenzahn erhob sich und reckte seine kleinen Ärmchen in die Höhe, während neben ihm tausend andere, die Kohlen ignorierend, durch die Straßendecke brachen und ebenfalls mit glänzenden Augen die Sonne grüßten. Niemand scherte sich mehr um die heißen, wütenden Kohlen, die nun verlassen und entweiht unter den Füßen der feiernden Massen lagen und starr und stur versuchten, die tretenden Gebeine in Brand zu stecken.
Die Menschen hatten genug vom Schmerz und so blickte er unzufrieden, mit gebrochenem Genick und offenen Pulsadern hinaus auf die Straßen, denn sie hatten begonnen zu leben.