Leere Hülle
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das Schokoladencroissant meinen Namen flüsterte. Auch nicht, wenn ich sage, dass es mich anlächelte. Dieses kleine Biest. Und stellt euch vor, es ließ nicht locker. Iss mich, sagte es mit einer klaren, verführerischen Stimme. Ich konnte mir den Geschmack auf meiner Zunge vorstellen. Den Geschmack von halb geschmolzener, warmer Schokolade und nach Butter schmeckenden Blätterteig. Ich wollte ja wirklich weitergehen, weg von diesem Laden, aber es drohte, mich umzubringen. Genau genommen tat es das auch – mit seinem Anblick. Nun ja, fast. Wie gesagt, ein fieses kleines Biest. Dabei hatte ich mir eingebildet, das Ganze würde jetzt, wo ich in eine andere Stadt gezogen bin, aufhören. Ich hatte mir einen Neuanfang versprochen, stattdessen wurde alles nur noch schlimmer. Ich war einsam, auf mich gestellt und hatte keine Ahnung, wie man alleine steht. Es jagte mir Angst ein. Langsam fragte ich mich, ob nicht jemand etwas dagegen unternehmen wollte, doch wie es schien, hatte niemand bemerkt, dass das Croissant inzwischen versuchte, mich zu vergewaltigen. Ich blickte mich um. Die Menschen schlenderten über den Platz, telefonierten, trugen ihre Kinder auf den Schultern, knutschten mit ihren Geliebten, aßen Eis oder hockten besoffen in der Ecke. Wie konnten sie mich mit meinem Schicksal alleine lassen? Hinter mir fiel eine Tür ins Schloss, es roch nach Brötchen und Schokolade. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie, oder besser gesagt es, wieder anfing, mir zuzureden. Nämlich dann, wenn ich meinen wunden Punkt erreicht hatte und nachgab. Wenn mich meine Kraft verlassen hatte. Nein, diesmal würde sie mir nicht helfen. Entschlossen machte ich auf der Stelle kehrt und lief schnell zurück zu meiner WG.
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Susannes Musik war bis in den Eingangsflur zu hören, die Bewohner unter uns würden sich mal wieder freuen. „Hallo!“, rief ich ins Leere hinein, als ich nach ein paar hundert Treppenstufen im sechsten Stock, in unserer bescheidenen kleinen WG, angekommen war. „Musst du so laut schreien? Ich hab Kopfschmerzen.“, Lizzy hatte immer Kopfschmerzen. Dass sie die Musik trotz allem ertrug, wunderte mich. Sie warf mir einen viel sagenden Blick zu und verließ mit ihrer Chanel Tasche und ihren Gucci Schuhen das Haus. Ich hatte auch einen schönen Tag, danke der Nachfrage, dachte ich. Lizzy war nicht klug, doch eines hatte sie, was ich verzweifelt versuchte, zu erlangen: Einen perfekten, kleinen Hintern. Susannes Zimmertür öffnete sich. Der Geruch von Alkohol und Erbärmlichkeit verteilte sich in der Wohnung. Verdattert starrte sie mich an und schüttelte kurz den Kopf, um wieder zu Sinnen zu kommen. „Hey Jil, hab’ dich gar nicht erwartet.“, bemerkte sie trocken. „Ich lebe hier.“, erwiderte ich. „Richtig.“, Susanne setzte ein gequältes Lächeln auf. „Musst du morgen nicht zur Uni?“, wollte ich wissen. „Jep. Übermorgen auch, und den Tag darauf auch. Aber weißt du... ach, vergiss es.“, sagte sie und bemühte sich, eine fröhliche Miene aufzusetzen. „Im Ofen ist noch Pizza für dich, haben wir dir extra übrig gelassen.“ „Danke, das ist nett. Aber ich war vorhin schon mit Michelle essen.“, ich lächelte sie an. „Scheint wohl was Ernstes zu werden, was?“, Susanne zog eine Augenbraue hoch. „Sehr witzig.“, meine Stimme wurde bitter, doch ich entschloss mich, einen kleinen Lacher hinterher zu schieben. Ich benutzte Michelle oft als Ausrede. „Mach dir noch einen schönen Abend.“, mit diesen Worten verabschiedete sich Susanne, holte sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank und verkroch sich wieder in ihrer Höhle. Nein, ihrem Loch. Sie war noch in der Anfangs-Trennungsphase mit ihrem Freund. David. Wenn ihr mich fragt, war es mehr oder weniger eine On-Off-Beziehung und ehrlich gesagt war ich froh, dass es vorbei war. Seine täglichen Hausbesuche, wenn es denn gerade mal lief, haben mir nicht gerade das Gefühl gegeben, hier willkommen zu sein. Derselben Meinung war sogar Lizzy, obwohl wir wirklich wenig gemeinsam hatten. Außer, dass wir eine Wohnung teilten. Ich trank noch eine eiskalte Coke lite, putzte mir die Zähne und hüpfte schnell ins Bett bevor ich doch noch etwas zu essen in die Finger bekam.
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Der schrille Alarm meines Weckers riss mich unbarmherzig aus meinem Schlaf. Und Gott sei Dank aus meinem Traum, der immerzu von demselben Thema handelte: Essen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir: Es war viertel vor acht.
Guten Morgen, Durchhaltevermögen, ich hoffe du hast auch so gut geschlafen, wie ich. Während ich mir den morgendlichen Schlaf aus den Augen rieb, steuerte ich auf wackeligen Beinen das Badezimmer an. Ich drückte die Türklinke herunter, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich hörte, wie das Wasser der Dusche auf so etwas wie einen Körper niederprasselte. Ich war an der Reihe, das Bad zu benutzen und sowas passierte nicht zum ersten Mal. Susanne kam mit rot geschwollenen Augen um die Ecke. „Lizzy!“, rief ich wutentbrannt und hämmerte gegen die Tür. Erstens musste ich dringend pinkeln und zweitens befand sich die Waage dort drin. Ich konnte die Wohnung nicht verlassen, ohne mich gewogen zu haben. Lizzy war das natürlich egal.
Ich verbrachte gefühlte Stunden vor meinem Kleiderschrank. Zog Pullover an und wieder aus, Hosen, an und wieder aus, betrachtete mich im Spiegel, war kurz davor, ihn zu zerbrechen, startete den Versuch mir eine Frisur zu machen, endete letztendlich doch mit einem normalen Pferdeschwanz, verschmierte meine Schminke, zog mich wieder um, wieder, wieder und wieder, wälzte mich auf dem Bett und schlug meinen Kopf ins Kissen. Ein ganz normaler Morgen, wie immer. Nur, dass ich mich nicht wiegen konnte und nach der Mühe, die ich mir gemacht hatte, würde ich mich sicherlich nicht wieder entkleiden. Als ich fünfzehn Minuten später draußen in die Eiseskälte trat, war meine gute Laune ganz verflogen. Zitternd setzte ich einen Fuß vor den anderen und versuchte meine Hände mit Hilfe meines Atems aufzuwärmen. Handschuhe hatte ich nicht mit eingeplant. Dass es Winter war, hatte ich wahrscheinlich verdrängt. Ich gebe zu, ich hatte mir erhofft, diese ganze Melancholie würde über Nacht verschwinden und der Sommer würde mich endlich wieder in seine warmen Arme schließen.
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Sekunden vergingen, Minuten vergingen, Stunden vergingen, Tage vergingen. Das Essen und es hatten mich für eine Zeit lang verschont, doch ich hatte, als ich an einem regnerischen Nachmittag von der Uni zurück in die Wohnung kam, das Gefühl, immer schwächer zu werden. Außer mir war niemand da. Ich wagte einen Blick in den Kühlschrank. Lasagne vom Vortag, Joghurt, Wurst, Käse.. in den Schränken Erdnussbutter, Cräcker, Chips, Schokolade. Verdammt, Schokolade. Mein Mund füllte sich bei dem Gedanken natürlicherweise mit Speichel. Na Jil, das möchtest du doch nicht wirklich essen. Die Stimme in meinem Kopf wurde laut. Die einzige Möglichkeit, sie auszuschalten war, dem Essen zu widerstehen. Dann war ich etwas wert, dann war sie auf meiner Seite. Doch jetzt war ich schwach. Kalorien und Fett, davon wirst du sicherlich nicht glücklich. Ich schmetterte die Schranktüren wieder zu und wich einen Schritt nach hinten aus. Glücklich würde es mich nicht machen. Aber meinen Hunger stillen. Ich kaute auf meinen Nägeln herum. Mein Kiefer wollte etwas festes zwischen den Zähnen. Mein Magen krampfte sich vor Verlangen zusammen, meine Hände waren schwitzig und zitterten. Niemand wird dich mehr mögen, alle werden sich fragen, wieso du so fett geworden bist. Willst du das riskieren? Nein, das wollte ich nicht. Doch ich hatte keine Kraft mehr, das bisschen würde sich schon nicht bemerkbar machen. Ich öffnete den Kühlschrank erneut, stellte die Lasagne auf die Ablage, nahm eine Gabel und fing an, die kalten, tomatensaucedurchweichten Nudeln in mich hinein zu schaufeln. Ich riss die anderen Schränke auf und stopfte mich tonnenweise mit Nougatschokolade voll. Joghurt, Cola, Cräcker, Erdnussbutter. Das alles passierte innerhalb weniger Minuten. Mein Bauch blähte sich auf, mir wurde schlecht. Ich rannte zur Toilette und leerte meinen Mageninhalt in und auf der Kloschüssel aus. Ich brauchte noch nichtmal einen Finger dazu. Ich spürte wie mein Körper kraftlos zu Boden glitt, meine Haare in meinem kotzeverschmiertem Gesicht klebend. Mein Herz pulsierte schneller als sonst. Ich konnte die Augen nicht mehr offen halten.
Schwächling, hallte es aus meinem leeren und dunklen Kopf.
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