Was ist neu

Leere Fülle

Mitglied
Beitritt
28.01.2013
Beiträge
26

Leere Fülle

Leere Fülle

Wovor Jonas, der seit ein paar Tagen nichts mehr getrunken hatte – an die drei Flaschen Wein täglich waren es vorher gewesen –, sich fürchtete, war dies, dass er früher oder später wieder schwach werden, alle Vorsätze über den Haufen werfen, dem „Durst“ nachgeben würde – und alles würde von vorn beginnen, wie es bisher immer sich wiederholt hatte. Er würde wieder Zeit, Geld, Kraft und Gesundheit diesem Tier in den Rachen werfen – und das Tier würde schlucken, und wieder den Schlund aufsperren, und schlucken, und mehr wollen, und mehr, und immer mehr...

Deutlich entsann sich Jonas der Zeit um seinen 29. Geburtstag herum. Im Frühjahr selbigen Jahres war er wieder einmal in ein Loch gefallen, war mit seiner Arbeit, seinem Leben einmal wieder nicht mehr klargekommen – was in den Jahren zuvor schon öfters der Fall gewesen. Jedoch tat er nun etwas, was er trotz aller Zermürbtheit in den depressiven Phasen der vorangegangen Jahre bisher noch nie getan hatte: Enttäuscht darüber, dass auch sein Psychologe ihn nicht zu verstehen und ihm nicht weiterhelfen zu können schien; frustriert von seiner Arbeit, mit der es nicht vorwärts ging und von der er alsbald verzweifelt und angeekelt sich abwandte; in einer müden, lebensmüden, alles satt und dicke habenden Verfassung, sich einsam und unberaten fühlend dazu – in diesem Zustand also fuhr Jonas eines sonnigen Januarnachmittages nach Hause, und kam plötzlich auf die Idee, bei einem Supermarkt halt zu machen und sich, am hellichten Tag, eine Flasche Wein zu kaufen. Trotz war da im Spiel, keinen Ausweg wissen, eine Scheißegal-Stimmung und – ja, und wohl auch ein wenig Anreiz durch das Verbotene, das Abenteuerlich-Widervernünftige seines Tuns, als er sich dann am frühen Nachmittag in sein Zimmer setzte, die Flasche öffnete, und trank, sich in die Abenddämmerung hineintrank, um sich danach schlafen zu legen. Und siehe: Im Handumdrehen fand Jonas Gefallen an diesem Modus: Sich Betrinken, bis man schlafen konnte, Zigaretten dazu rauchen, Musik dazu hören, Sinnieren, die schleichende Betäubung genießen – dann ausgiebig schlafen, Schlafengehen also wann man wollte, und auch aufstehen – und dann wieder von vorn. Nun, er aß auch noch etwas, duschte, trank Kaffee, traf sich hier und da mit einem Freund, fuhr in die Stadt, etwas Haschisch zu kaufen, setzte sich sogar hin und wieder in ein Seminar an der Universität und jobbte an den Wochenenden (den Job machte er inzwischen schon seit mehreren Jahren und somit mit links) – die Grundstruktur seines Lebens, das, woran er sich hielt, war dennoch nur dieser Rhythmus: Trinken und Schlafen, Trinken und Schlafen, fast wie bei einem Baby. Ende Februar, Fasching war eben vorüber, kündigte er die Therapie, und setzte seine Lebensweise auch ein gutes Stück in die nun beginnende vorlesungsfreie Zeit hinein noch fort, ohne Plan, ohne Ziel, Flaschen in sein Zimmer schmuggelnd – damit, er wohnte nämlich noch zu Hause, die Eltern nichts merkten – leere Flaschen hinausschmuggelnd und heimlich entsorgend. So wurde es März. Und siehe: Als die Tage wieder merklich länger wurden, Früjahrsmilde sich einstellte, und immer häufiger einmal die wärmende Frühjahrssonne durch den Rolladenspalt in sein Zimmer sah – siehe, da fühlte Jonas sich auf einmal bereit, mit dem Trinken aufzuhören, und wieder ein anständiger Mensch zu werden. Zudem: Nüchtern bleiben wollte er nun nicht einfach mal, wie sonst, für ein paar Tage, oder zwei, drei Wochen. Er beschloss, einen persönlichen Rekord aufzustellen, beschloss es nicht gleich zu Beginn, aber als er merkte, wie gut und imgrunde leicht das Nüchternsein sich anließ. Das Essen schmeckte ihm wieder richtig, plötzlich ließen sich auch Hausarbeiten wieder schreiben, er joggte häufig, traf Freunde nüchtern, rauchte freilich noch, verzichtete aber für's Erste auf den Kaffee und trank stattdessen grünen Tee. Wer hätte es gedacht? Die Wochen vergingen, Jonas stellte seine Hausarbeit fertig, verbrachte seinen Geburtstag nüchtern und brachte, was er sich sonst so selten getraut hatte, in den Seminaren an der Universität, die er nun wieder besuchte, bisweilen Redebeiträge. Jonas war, so sah es aus, ein ganz neuer Mensch geworden. Aus dem kaputten, hoffnungslosen, schon morgens im Bett rauchenden und trinkenden Verfallsromantiker war binnen weniger Wochen ein nüchterner, seine Aufgaben erledigender, mutvoller und eine natürliche Lebensfreude wieder empfindender junger Mann geworden, schlank, gutaussehend, hoffnungsfreudig, bereit, es mit neuen Herausforderungen aufzunehmen – nicht zuletzt aber sehr stolz darauf und glücklich darüber, ohne Alkohol leben und auch Leistung bringen zu können. Denn das hatte sich ja gezeigt: Es ging ohne! Und sehr gut ging es ohne! Zwei Monate schon! In den zehn Jahren, in denen er jetzt regelmäßig Alkohol trank, hatte er das nie geschafft! Und damit, dachte Jonas, hatte er sich selbst bewiesen: Es bestand kein Grund zur Besorgnis, er konnte, wenn er wollte. Und das war sehr beruhigend.

Und dann? Anfang Juni begann die Fußballweltmeisterschaft. Und zwar nicht irgendwo draußen in der Welt, in irgendeinem fernen Lande, nein, direkt vor Jonas' Haustüre begann sie, war längst in aller Munde, und längst zierten Autos, Gärten, Balkone und Hauswände allerorten schwarz-rot-goldene Fahnen... Der Auftakt gelang mit einem spektakulären Vier-zu-Zwei-Sieg des deutschen Teams, und Euphorie, eine ausgelassene Fußball- und Feierbegeisterung, die so mancher ausländische Beobachter Jonas' Landsleuten nie und nimmer zugetraut hätte, griff um sich, dass das Bier in Strömen floss und Auto-Corsos bis spät in die Nacht hupend durch die deutschen Großstädte zogen... Man schminkte sich, Fahnen und Deutschland-Trikots fanden reißenden Absatz, man fand sich auf Fan-Meilen vor riesigen Leinwänden zusammen, fieberte, lärmte, zitterte, jubelte und schwenkte seine Fahne... Das war wie an Karneval, nein, das war Karneval hoch zehn, das war extatisch-trunkene Verbrüderung der Menschheit über alle Grenzen von Stand, Alter, Geschlecht, Religion, Nationalität und Hautfarbe hinweg, Verbrüderung im Zeichen jenes Götzen, der mit sensationeller, vordem nicht für möglich gehaltener dionysischer Dynamik jeden in seinen Bann schlug: des Götzen Fußball... Würden wir den Titel holen? Würde es reichen? Mit dieser jungen Mannschaft? Doch siehe: Fast spielend nahmen, getragen von der allgemeinen Begeisterung, diese jungen Helden und Siegfriede jede neue Hürde, Achtelfinale, Viertelfinale, Halbfinale... Es musste gelingen, musste! Wo doch Millionen vor den Bildschirmen und auf den öffentlichen Plätzen wie ein Mann hinter den elf stürmenden, kämpfenden, verteidigenden, sich aufopfernden Jungens standen, die Woche für Woche keuchend und schwitzend auf den Rasen der Arenen dem runden Leder nachjagten – auf dem Weg zum Titel, auf dem Weg zum Titel!

Jonas hatte, Monat Juni ging auf seine Mitte zu, ein Referat zu halten in einem Uni-Seminar, und er fürchtete sich davor. Was, wenn er im Kreise der fünfundzwanzig oder dreißig Kommilitonen, die mit ihm in dem Raum saßen, plötzlich ins Stocken, ins Stottern geraten, knallrot anlaufen und schließlich keinen Ton mehr herausbringen, sich gänzlich blamieren würde? Aber die Dozentin, eine Rötlichblonde mit Brille, dicken Lippen und etwas vortretendem Unterkiefer, kaum sehr viel älter übrigens als Jonas, hatte auf Erbringen dieser Leistung bestanden und ihm ein paar aufmunternde Worte gesagt, und so hatte Jonas, da er den Schein schließlich doch brauchte, sich entschlossen, es zu versuchen, und dann mit einiger Erleichterung festgestellt, dass der Text, den er zu präsentieren hatte, sich recht gut strukturieren und für den Vortrag aufbereiten ließ. Freilich kamen ihm am Vorabend der entscheidenden Seminarveranstaltung wieder Zweifel; er fürchtete nämlich bei dem Wort Ritter, einem ganz maßgeblichen Begriff im Kontext seines Vortrages, womöglich hängenzubleiben, weil Ritter mit R begann, und das R zu den Buchstaben zählte, bei denen er häufig ins Stottern geriet... Aber sei's drum, dachte Jonas, rückte den Schreibtischstuhl zurück und stand auf, um, indem er ruhig und tief durch die Nase ein- und ausatmete, eine Weile im Zimmer umherzuspazieren, wobei er das Wort Ritter mehrmals vor sich hin in die Luft hinein sprach, was tadellos funktionierte. Sei's drum, murmelte er vor sich hin, und blieb dann, die Arme vor der Brust verschränkt, in der Nähe des Fensters plötzlich stehen. Erstens: Es bestand die Möglichkeit, statt Ritter einfach „eques“ zu sagen, was der lateinische, ebenfalls im Text vorkommende Begriff für Ritter war. Das würde wohl etwas komisch wirken und Befremden erregen mögen – möglich war's. Zweitens: Er hatte seinen Hausarzt in die Problematik eingeweiht und sich eine Beruhigungspille verschreiben lassen, geeignet ihn davor zu bewahren, vor oder während des Vortrages vor Aufregung gänzlich den Kopf zu verlieren (übrigens hatte der Arzt mit einem Lächeln bemerkt, Jonas könne vor Antritt des Referats ja einen Schnaps trinken – ein Scherz offenbar, auf den Jonas aber nicht weiter eingegangen war). Drittens hatte er selbigen Vortrag, wortwörtlich so, wie er ihn sprechen wollte, fix und fertig ausformuliert, mit genügend Zeilenabstand abgetippt, ausgedruckt und mit Markierungen versehen, kannte ihn übrigens schon so gut wie auswendig und war sehr zufrieden mit ihm. Ja, und viertens – hier machte Jonas vor dem Bett halt, setzte sich und neigte – ein leichtes Lächeln spielte dabei um seinen Mund – den Kopf ein wenig gegen die linke Schulter – viertens also war morgen der 14. Juni, die Deutschen spielten gegen die Polen, was ein Fest zu werden versprach, und Jonas würde, so hatte er sich das überlegt, pünktlich zum Festtag einmal wieder etwas trinken. Mochte die Mutprobe Referat nun also ausgehen wie sie wollte, mochte sie in einem peinlichen Disaster enden – ein guter Schluck, ein guter Trunk, der war ihm gewiss. Und wenn er auch nach drei trockenen Monaten gar nicht mehr so recht wusste, was er sich eigentlich davon versprach, freute er sich doch auf diese selbst verordnete Belohnung, die ihm auch über eine etwaige Niederlage in Betreff der Referatsangelegenheit für's Erste trefflich hinweghelfen würde. Trinken, Jonas würde also wieder einmal etwas trinken. Und wieso auch nicht? Das ganze Land trank! Und hatte er mit der langen Strecke Nüchternheit, die er in den vergangenen Wochen zurückgelegt, nicht ein für allemal bewiesen, dass der Alkohol ihm nichts anhaben konnte, dass er ihn im Griff hatte, Herr über ihn war – und nicht, wie die Einflüsterungen manch böser Stunde es ihm hatten weismachen wollen, es sich umgekehrt verhielt?

Um es kurz zu machen: Mit dem Referat lief alles glatt, es trug sich quasi ohne Jonas' Zutun wie von selbst vor, und sogar erhielt er im Anschluss an die Seminarsitzung von der Dozentin ein kleines Lob. Glücklich, wenn auch innerlich ein wenig leer und abgespannt, verließ Jonas den Seminarraum im ersten Stock des Uni-Gebäudes, verfügte sich treppab ins Erdgeschoss, wo die Caféteria lag, und setzte sich dann mit einem Pott Kaffee auf eine der freien Holzbänke im Außenbereich der Caféteria. Es war ein warmer, sonniger Tag, über dem grauen Kasten des Uni-Gebäudes zeichnete in leuchtendem, kräftigem Blau der wolkenlose Himmel sich ab, und die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher. Auch das noch, dachte Jonas, sich eine Zigarette drehend zum Kaffee, auch das war ihm geglückt! Nachdenklich und zufrieden sah er eine Weile vor sich hin, rauchte, und führte von Zeit zu Zeit den Kaffee-Pott zum Mund. Du darfst dir einen gönnen, dachte er, und dachte: Heute Abend ist das Polen-Spiel. Zeit genug bis dahin, dir einen einzuschenken im stillen Kämmerlein, und dann noch ein bisschen vorzuschlafen. Frustbesäufnis? Ach nein, es war ja ganz das Gegenteil, er konnte feiern, ein bisschen vorfeiern, bevor dann heute Abend die allgemeine Feier anhob! War das nicht herrlich? War das nicht die glücklichste Fügung, dass heute, am 14. Juni, alles so trefflich zusammenstimmte, Innen und Außen, das Subjektive mit dem Objektiven, Privat-Erfolg und Massenfeier? Was konnte es denn Schöneres geben, als sich so eins zu wissen mit allen, im Chor der Jubelnden sich zu verlieren, und zugleich das Gefühl zu haben, die ganze Welt jubele aus einem selbst? Und doch war es, als Jonas jetzt in sich hineinlauschte, das Merkwürdige, dass er so scharf auf ein Besäufnis gar nicht war, dass er jetzt, wo er es, sogar guten Gewissens, haben konnte, sich gar nicht mehr so recht darüber freute, ja sich eingestehen musste, dass es so nötig imgrunde gar nicht war, dass das, was zu tun er sich anschickte, zu einem guten Teil einfach einer alten Gewohnheit, und, wenn er ehrlich war – langer Weile entsprang! Merkwürdig, dachte Jonas. In den leuchtendsten Farben hatte er sich gestern Abend den Rausch ausgemalt, den er, nach bestandener Mutprobe, gleich morgen mittag sich würde gönnen dürfen, und es war eine Lust gewesen, sich vorzustellen, wie er die verschiedensten Getränke aus den Regalen nehmen, sie zu Hause auf seinem Schreibtisch aufstellen und dann genüsslich sich über sie hermachen würde... Und jetzt? Was war jetzt? Jetzt saß er hier, die Mutprobe war bestanden, mit Bravour bestanden, er hatte ein Lob bekommen, er war frei, zu tun was er wollte. Aber so richtig wollte er gar nicht mehr, das war das Merkwürdige, es schien die Vorfreude auf die Möglichkeit des heutigen Rauschs das eigentlich Lustvolle gewesen, ihr wirkliches Vorhandensein sich aber bei Weitem nicht mehr so großartig auszunehmen, wie man es sich ausgemalt! Jonas nahm einen tiefen Atemzug und sah sich um. Die Bank-Tisch-Ensembles rings bevölkerten sich langsam, auch die BWLer und Juristen kamen jetzt vom Hörsaalgebäude herüber, lebhaft plaudernd und lachend in kleinen Grüppchen ihr Mittagessen zu nehmen. Sollte ich nicht das Gleiche tun, dachte Jonas, jetzt zu Mittag essen, wie es normal war, anstatt, wie es nicht normal war, in den Nachmittag hinein zu trinken? Es würde gehen, dachte Jonas, ja, eigentlich würde es gehen. Aber er machte es nicht, der Konjunktiv, das „würde“, das „könnte“ genügte ihm, es nicht bleiben zu lassen. So stieg er denn in sein Auto und kaufte, auf dem Rückweg von der Uni an der Autobahntanke haltend, drei Flaschen Bier. Immerhin es langsam angehen lassen, dachte er, der Meinung, nach drei vollen Monaten Trockensein müssten drei Flaschen Bier locker hinreichen, ihm einen anständigen Rausch zu verschaffen. Nach anderthalb Stunden waren die drei Bier weg. Und schon vorher hatte er sich, aus einem Empfinden von Ungeduld heraus, ins Schlafzimmer seiner Eltern geschlichen, wo meist eine Flasche Wein zu finden war, diese auch wirklich gefunden, und mit in sein Zimmer genommen. Nach drei Stunden war auch die weg, und Jonas setzte sich, obgleich schon etwas angetrunken, noch einmal ins Auto, fuhr zur Tanke, und kaufte sich ein Fläschchen Vodka, ein kleines nur, musste nicht sein, musste jetzt sein, zur Abrundung, da ihm der Wein- und Biergeschmack auf die Dauer etwas lästig geworden war. Dann schlief er etwas, stand gegen Abend auf, duschte, und brachte das Abendessen mit den Eltern recht lustlos hinter sich. Gegen halb acht stieg er ins Auto seines Kumpels, der ihn zum public viewing mit in die Stadt nahm. Jonas machte sich ein Bier auf, während Andy die Anlage hochdrehte und losfuhr. Aus seinem letzten Urlaub hatte Andy noch eine Palette von diesen Energy-Drinks auf der Rückbank, von einer Stärke, wie es sie hierzulande nicht gab, und das ließ Jonas sich natürlich nicht zweimal sagen. Alkohol und Energy, das war eine herrlich explosive Mischung! „Die hauen wir weg!“, rief Jonas, genoss Bier, Energy-Drink, die schnelle Fahrt und die laute Musik in vollen Zügen. Und hatte seinen Kater vom frühen Abend längst verdaut, als endlich, um viertel vor neun, das Polen-Spiel angepfiffen wurde, dem ganz Fußball-Deutschland schon seit Stunden erwartungsvoll entgegenfieberte...

Die Deutschen siegten – wenn auch knapp – und Jonas kriegte seinen Rausch: Und was für einen! Die ganze Nacht ward, umgeben von Lichtern und Leuten und Fahnen und Stimmung durchgefeiert, und erst am frühen Morgen ins Bett gekommen, musste Jonas sich am frühen Abend des darauffolgenden Tages nach dem Aufwachen erstmal ein Bier aufmachen. Denn welchen Sinn hatte es auch, sich mit einem Kater herumzuplagen, wo man doch wusste, dass es gegen die üblen Nachwirkungen übermäßigen Alkoholgenusses ein ganz ausgezeichnetes Mittel gab: Alkohol! Alk und Spiele, so ging das jetzt weiter, Tag für Tag, ganz selbstverständlich und gleichsam ohne Jonas' Zutun. Wohl hatte Jonas nach ein paar Tagen sich seines Vorsatzes erinnert, es nicht zu übertreiben, und hin und wieder mal eine Pause einzulegen, dieses ein Mal auch wirklich gemacht: Für einen Tag. Aber was war das für ein Tag gewesen! Ausgebrannt und elend, zu nichts fähig, hatte er sich irgendwie durch diesen Tag gedrückt, ihn irgendwie rumgekriegt und hatte drei Kreuze gemacht, als endlich Schlafenszeit war und er sich hinlegen konnte! Stolz auf diese Willensleistung, jenem Elend, das nach Bier schrie, dennoch widerstanden zu haben, belohnte er sich gleich nächsten Tages wieder mit einem ordentlichen Rausch, verzichtete aber auf den Schnaps, der, wie er wusste, dem Kater am Folgetag eine besondere Spitze gab. Übrigens blieb es bei diesem einen Versuch, der hereingebrochenen Rauschesflut irgendwie Herr zu werden, sie, wenigstens zeitweise, einzudämmen: Es war dies nämlich viel zu anstrengend, kostete viel zu viel Willenskraft! Außerdem trank ja auch das ganze Land! Außerdem hatte es sich ja gezeigt, dass, wenn er wollte... Er hatte es sich ja bewiesen! Wozu also sich Sorgen machen? Er würde ganz von selbst schon wieder zu dem Punkt kommen, wo es möglich sein würde, zu einem normalen Leben zurückzukehren. Nur wann?

Die WM ging zu Ende, der Juli brach an, dann folgte der August. Gegen Ende des Semesters hatte Jonas es, trotz der täglichen „Rationen“, fertiggebracht, obenbeschriebenes Referat, wie es verlangt wurde, zu einer Hausarbeit auszubauen – in sage und schreibe nur vier Tagen! Ein neuer Rekord, der sein Gewissen beruhigte. Mehr noch: Recht schneidig kam er sich vor bei alldem, war stolz auf seine Trinkfestigkeit, deren physische Folgen weit entfernt schienen, irgend in Erscheinung zu treten: Jonas blühte, konnte jedenfalls, wenn er in den Spiegel sah, nicht umhin, sich für einen dynamischen, furchtlosen, vielleicht ein wenig verrückten jungen Mann zu halten, der, aus einem Überschuss an Kraft und Selbstbewusstsein, das Saufen als eine Art Sport betrachtete und betrieb, dies auch ganz offen zugab, zugab, mit dem Teufel auf dem Duzfuß zu stehen. Ein Rest an Vernunft und Gewissen freilich bewog ihn, ein Trink-Tagebuch anzulegen und zu führen – eine Maßnahme, die, ihrem Sinn und Zweck nach, denn doch Jonas' Bestreben geschuldet war, nicht ganz die Übersicht zu verlieren, seine Eskapaden ein Stück weit im Zaum zu halten und zu kontrollieren. Er gab das bald wieder auf. Denn diese täglichen Aufzeichnungen über das Wann und Wieviel – in vereinzelten klaren Momenten waren sie geeignet, ihm Angst zu machen, ihm sozusagen die Stimmung zu verderben, ihn nachdenklich zu stimmen. Er hatte wohl gedacht, sich vermittels solcher schriftlicher Aufzeichnungen selbst davon überzeugen zu können, dass imgrunde ja alles in Ordnung sei. Als selbige Aufzeichnungen ihm aber dann, im Gegenteil, unvermerkt zu einem nüchternen Dokument seines Kontrollverlusts, seiner fortgesetzten Exzesse gerieten – da stellte er sie lieber ein. Es war schließlich Sommer, die Deutschen hatten den Titel nicht geholt, die nationalen Feierlichkeiten waren abgeklungen. Aber war das nicht ein Grund mehr, einfach weiterzufeiern? Stellte es ihnen nicht imgrunde ein Armutszeugnis aus, dass sie, alle diese normalen, anständigen Menschen, immer eines äußeren Anlasses bedurften, um sich des Lebens recht ausgiebig zu freuen, recht fröhlich über die Stränge zu schlagen und die Becher klingen zu lassen? Leute wie er, dachte Jonas, Feiertalente, Feiergenies ihres Zeichens – sie bedurften solcher Anlässe nicht! Wo sie waren, da war die Party, sie waren Party-Missionare, berufen, das ungläubige Gros zu Rausch, Tanz und Lebenslust zu bekehren – und zum Wein, dem heiligen Katalysator solcher Festentfaltung...

Ende August hörte Jonas mit dem Trinken auf. Er hatte eine Hausarbeit zu schreiben. Anfang September fing er wieder an. Und statt die Hausarbeit zu schreiben, stürzte er sich in Schreibprojekte kreativer Natur, zu denen er sich, zu seiner Freude, eben aufgelegt fühlte. Wie im Rausch entwarf er allerhand Charaktere, Szenen, Geschichten, schrieb oft ganze Tage durch die Seiten voll, ohne sich um anderes zu bekümmern – und trank dazu, sich zusätzlich zu befeuern, und, wie er meinte, nach einem ausgiebigen Schreiberguss, zu erholen. War es nicht ganz in Ordnung, dass er ein wenig verrückt war, waren Verrücktheit und ein wenig Wahnsinn nicht die conditio sine qua non künstlerischer Zeugungskraft und Produktivität? Seit Jahren schon schrieb Jonas (dass er „schrieb“, und nicht etwa einfach „Texte machte“, auf diese Unterscheidung legte er den größten Wert!). Aber in einer Stimmung wie jetzt war er lange nicht gewesen. Sein ganzes Leben schien in eine Dichtung, einen großen Roman sich aufzulösen, ein Roman zu sein – welchen selben er, in all seiner Reichhaltigkeit und verschlungenen Motivik, imgrunde nur noch würde aufschreiben müssen... Im Oktober begann das Wintersemester. Und eines Abends fand Jonas, von einer Zecherei heimkehrend, an seiner Zimmertür eine Nachricht von seiner Mutter vor, des Inhalts, fände er sich nicht umgehend bereit, die ihm übertragenen Pflichten in Sachen Haushaltsführung so zu erledigen, wie man es von ihm erwarte, könne er sich eine WG suchen... Wütend riss Jonas den Zettel ab, stieß die Tür auf, und knallte sie hinter sich zu. Er war Künstler, dachte er, und eben in einer bedeutenden Schaffensphase, die er verpflichtet war rücksichtslos zu nutzen! Wie konnte man ihm da mit solchen Bagatellen wie Haushaltspflichten kommen! Drei Tage lang zog Jonas es vor, seine Mutter, mit der er sich sonst gut verstand, keines Wortes und Blickes zu würdigen. Am vierten jedoch wurde ihm allmählich klar, dass sie letztlich am längeren Hebel saß. Er hatte kein Geld, auszuziehen, er studierte noch. Und das, was er verdiente, reichte oft für nicht viel mehr, als seinen Bedarf an Tabak und Alkohol zu decken, und seine Kneipenrechnungen zu begleichen. Etwas kleinlaut ließ er sich also herbei, zu tun, was von ihm verlangt wurde. Und schrieb weiter. Und trank, die in seinem Zimmer sich häufenden Flaschen einmal wöchentlich in seinem Reiserucksack verstauend, um sie dann, nach Einbruch der Dunkelheit, zum nahegelegenen Glascontainer zu schaffen und zu entsorgen...

Obwohl Jonas, Student im Hauptstudium und nur noch wenige Scheine von der „Schein-Freiheit“ entfernt, sich primär als Künstler sah, der von der Wissenschaft imgrunde nicht viel lernen konnte, war er doch entschlossen, sein Studium zu beenden – was ja immerhin nicht schaden konnte. Und so besuchte er auch in diesem Wintersemester – zumal als die Schreiblust abebbte und er, anstatt zu schreiben und zu trinken, einfach nur noch trank – in regelmäßigen Abständen ein Uni-Seminar, setzte sich rein, schrieb, wenn er nicht allzu verkatert war, mit, und sagte sogar manchmal was. Von einer Vor- und Nachbereitung der jeweiligen Themen konnte freilich nicht die Rede sein. Denn wenn er sich, oft früh am Morgen, aus dem Bett bemüht, in den Zug gestiegen und zur Uni bewegt, vielleicht etwas mitgeschrieben und sogar, klopfenden Herzens und fühlbar rot werdend, etwas gesagt hatte – dann waren, es war eben Mittag, seine Kräfte auch schon wieder erschöpft, und ein guter Schluck war vonnöten, ihn erst recht wiederherzustellen und zu einem Menschen zu machen, dem das Leben genießbar vorkam. Machte ihm das Sorgen? Nein. Denn er hatte ja Erklärungen parat. Erstens hatte er über Wochen hin wie ein Wilder geschrieben, sich förmlich ausgeschrieben – und was wunders also, dass er sich nun erschöpft fühlte, und ein wenig der Erholung bedurfte. Zweitens waren seine Nüchternheitsleistungen von diesem Jahr in seiner Erinnerung durchaus noch nicht verblasst, vielmehr noch immer geeignet, ihn über seinen Zustand zu beruhigen: Ein halbes Jahr war es her, da war er drei Monate trocken gewesen – das war doch der Beweis, das Zeugnis, das Zertifikat, die Eintrittskarte gleichsam ins Reich der Gewissensruhe. Ja, und drittens: Er würde es ja demnächst wieder tun, wieder da beginnen, wo er vor einem halben Jahr aufgehört hatte. Der Dezember mochte noch zum Teufel gehen, an Silvester es noch einmal richtig krachen – der Januar fände Jonas als neuen und nüchternen Menschen, der seine Aufgaben ernst nahm, seine Pflichten erfüllte. Und sollte das nicht ein Leichtes sein? Sollte nicht er, der in Suff und Sommerhitze in nur vier Tagen eine Hausarbeit zu Stande gebracht, sollte der nicht mit der größten Leichtigkeit nun eine um die andere vorlegen können, frisch-fröhlich seinem Ziel entgegen, der „Schein-Freiheit“?

Es war ein Freitagnachmittag, der Nachmittag des 15. März, und bedrückend wölbte sich die geschlossene Wolkendecke in fahlem, leblosem, sprachlosem Grau über diesen Tag. Jonas hatte sich, die Hände im Schoß, vom Bildschirm abgewandt, biss und saugte an seinen Lippen herum, und seine Augen wanderten unruhig zwischen dem trostlosen Himmelsgrau über dem Dach des Nachbarhauses vor seinem Fenster, dem Bücherregal mit all den bunten, in Reih und Glied dastehenden Buchrücken, und dem Bildschirm hin und her – um von Zeit zu Zeit auf den Flaschen des grünen, halb gefüllten Bierkastens haften zu bleiben, der dort drüben, drei Schritte entfernt, in der Zimmerecke stand. Vier Wochen, vier Wochen war es nun schon her, dass er begonnen, sich mit dieser Hausarbeit zu befassen, deren Thema er sich selbst ausgesucht, und das er interessant gefunden, und zu dessen Bearbeitung der Dozent in der Sprechstunde ihm sein Okay gegeben hatte. Jonas hatte sich Bücher besorgt, kopiert, gelesen, unterstrichen, sich hier und da sogar Notizen gemacht, und das war ihm alles eigentlich recht flott von der Hand gegangen. Aber als es dann ans Schreiben ging – und er musste ja schreiben, musste fertigwerden, die Zeit drängte, weitere Hausarbeiten, die er noch gar nicht näher hatte ins Auge fassen können, saßen ihm im Nacken – als all das Denken, Notieren und Anlesen ihn zu dem Punkt geführt hatte, wo es zuzupacken, auszuformen, wo es die Tat galt, die befreiende Tat, das Loswerden, Entbinden, die Entäußerung – da hatte er auf einmal gemerkt, dass er gar nicht recht wusste, wie und wo anfangen, hatte angefangen, und wieder verworfen, und wieder angefangen, und wieder hingeworfen... Er hatte des Anfangens kein Ende, hatte einfach den Punkt nicht finden, zu dem befreienden Punkt sich nicht aufzuschwingen vermocht, von dem aus der Stoff, nicht länger Hürde und verwirrende Vielfalt, sozusagen nachgeben, sich vor seinem, Jonas', ordnendem Geist gleichsam neigen, ihm gehorchen, sich ihm zu Füßen legen würde... Stunde um Stunde verpuffte – und er hatte doch keine Zeit! – Stunde um Stunde verblies er, eine Zigarette nach der anderen rauchend, wertvolle Energie... Wohl schien es ihm manchmal, als sei er kurz davor, als sei er ganz dicht dran, als läge die erlösende Idee ihm gleichsam auf der Zunge... Aber wie quälend war es dann, wenn diese Hoffnung einmal mehr als Phantom, als Täuschung sich entpuppte, und wieder Stunden, ganze Arbeitstage unnütz hingegangen, die frische Energie des Morgens, statt etwas Greifbares gezeitigt, zu einem sichtbaren Produkt geronnen zu sein – einfach sinnlos verflogen, verraucht, zu Nichts geworden war, im Herzen beschämende Verzweiflung, im Kopf eine öde, namenlose Leere hinterlassend... Ich habe noch nicht den richtigen Text gefunden, dachte Jonas dann wohl, und studierte wiederum die Literaturverzeichnisse, auf der Suche nach dem Text, der womöglich der Schlüssel war zur Lösung all seiner Probleme, und den er vielleicht aus bloßem Zufall bisher übersehen hatte... Vielleicht war es dieser, dachte Jonas, ja, dieser, der klang vom Titel her gut, klang nach Rettung, Durchblick, Erlösung. Gleich am nächsten Tag ging er in die Bibliothek, ihn sich zu beschaffen, den rettenden, vom Titel her jedenfalls so vielsprechenden, hoffnungsvoll stimmenden Text sich zu beschaffen – und je schwieriger es war, an ihn heranzukommen – er war vielleicht eben verliehen, oder das Buch, das ihn beinhaltete, war abhanden gekommen – desto mehr wuchs Jonas' Hoffnung, endlich den großen Fang an der Leine, durch die Hilfe eines gütigen Schicksals den entscheidenden Fund gemacht zu haben... Hielt er das Buch dann in Händen, das besagten Text enthielt, so schlug er es zunächst nicht auf, sondern trug es, der Versuchung widerstehend, zunächst nach Hause. Denn was er fürchtete, das war die neuerliche Enttäuschung, und es fühlte sich so gut an, für eine Weile hoffen zu können, inmitten dieser bodenlosen Verzweiflung etwas wie eine Atempause zu genießen... Dann widerstand er nicht länger, wollte es wissen, schlug ängstlich und zugleich gierig das Buch auf, und begann, den vielversprechenden Aufsatz hastig zu überfliegen... War es das? War das die Abhilfe? War endlich die Suche zu Ende, der Weg gefunden ins Land des Sinns, des Schreibens und der Freiheit? Für einen Augenblick schien es so, und Jonas war schon versucht, seinem Schöpfer zu danken, dass er ihn so gnädig auf diesen Weg geführt und anscheinend doch nicht jener beschämenden, bodenlosen Verzweiflung zu überantworten gesonnen war... Aber es dauerte nicht lange, da meldeten sich erneut Zweifel, leise erst, dann zunehmend vernehmlicher und lauter und rasch um sich greifend, bis das schöne Licht der Hoffnung, das flackernd eine Weile in Jonas' Seele sich hatte halten können, wieder versank, verlosch und unterging, und nur Zerrüttung, Kummer, Asche hinterließ... Wo war er hin, der Mensch, der Jonas vor Wochen noch gewesen, dieser selbstbewusste, schlagfertige, seines Könnens so sichere junge Typ, talentierter Dichter obendrein? Wie kam es, dass ihn fertigmachte, was er fertigmachen sollte? Schon wieder? Wie im letzten Jahr? Er sollte nicht, dachte er. Aber dann stand er doch auf, durchquerte sein Zimmer in Richtung auf den Bierkasten, nahm eine Flasche heraus, öffnete sie, trank, und fühlte, wie Angst, Ekel und Selbstanklage langsam einer warmen, schläfrigen Leere wichen, die bodenlos war, und sich dennoch angenehm anfühlte...

Um es gleich zu sagen: Die Hausarbeit wurde fertig. Aber wie! Mit vernebeltem Hirn, halb blind eigentlich und ohne Glauben an das, was er da tat, hatte Jonas eines Tages doch zu schreiben angefangen, der widersinnigen Hoffnung sich entgegenzwingend, beim Tippen irgendwelcher halb zusammengeklauter Sätze per Zufall vielleicht einen Gedanken zu erhaschen, der doch, wie er wohl wusste, dem Schreiben voranzugehen hatte... Und während er dergestalt, mit Worten gleichsam um sich schlagend und die Nebelwolke peitschend, die sein Hirn erfüllte, doch nur zentimeter-, milimeterweise vorwärts kam, schaute ihm höhnisch lächelnd die Verzweiflungsfratze über die Schulter, deren Kommentare zu überhören ihm nicht recht glücken wollte. Schämst du dich eigentlich nicht?, fragte sie, willst du diesen Dreck allen Ernstes abgeben, diese zusammengepappte, erlogene, erfälschte Stümperei, diese Worte, mit denen du doch gar nichts verbindest, die doch gar keinen Sinn für dich haben, und die du dennoch hinschreibst? Und welche Mühe dich das kostet, merkst du das nicht? So aber war es immer, mein Freund, und so ist es mit allem. Du hast immer gewollt, was du nicht kannst, und wenn du zu können schienest, was du wolltest, so war das Lüge, Illusion! Warum trinkst du denn, he? Warum hast du es so bitter nötig, jeden Abend dieses Zeug in dich hineinzugießen? Weil du an nichts glaubst, an dich und auch an sonst nichts, es nie getan hast! Beten willst du, wie?, die Augen verschließen vor der Wahrheit und wieder zum Kind werden? Zu spät, mein Freund, es gibt kein Zurück in irgendeinen Kinderglauben. Du hast es wissen wollen – und jetzt weißt du's. Du bist ein hoffnungsloser Mensch, und du weißt sehr gut, dass sich Hoffnung nicht irgendwo erwerben, irgendwo herholen, abzapfen lässt. Man hat sie – oder man hat sie nicht. Und du, mein Lieber, hattest sie nie. Willst du dieses lächerliche, beschämende, erniedrigende Schauspiel denn wirklich noch weiter fortsetzen? So, so, dein Studium willst du abschließen, eine Abschlussarbeit schreiben, Prüfungen ablegen! Aber sieh dich doch mal an, sieh doch nur, wie die alleralltäglichsten Anforderungen dich fast um den Verstand bringen! Es hat keinen Zweck, mein Freund, lass es, diese Hürde nimmst du nie und nimmer! Und so ist es mit allem. Die Frage aber ist: Willst du dich noch weiter durch ein Leben lügen, zu dem du nicht taugst, nie getaugt hast, willst du noch weitere Jahre dir und Anderen etwas vormachen? Wenn du ehrlich bist, weißt du es doch schon sehr lange: Für Menschen wie dich, die wollen, was sie nicht können, gibt es keine Entwicklung, kein Reifwerden, keinen Fortschritt, keinen Sinn – nur die Selbsttäuschung, ständiges Weglaufen, die Flucht vor der Wahrheit. Willst du das? Ermanne dich doch, wenigstens ein Mal etwas zu tun, wohinter du wirklich stehst, anstatt weiterhin diese Show abzuziehen! Gift, Gift wäre das Richtige. Willst du deinen Eltern zuliebe weiterleben, deiner Mutter, deinen Freunden, denen, die dich zu etwas überreden wollen, woran du im Grunde deines Herzens ja doch nicht glauben kannst? Mach Schluss, mein Freund, überlege es dir! Sieh mal dort, in der untersten Schreibtischschublade, sie sind immer noch da, die Schlaftabletten, zwei volle Päckchen, sie warten auf dich! Komm schon, worauf wartest du denn noch? Worauf in aller Welt will einer wie du denn noch warten?

„Aber diese Leere“, sagte Jonas, und es klang recht kläglich, „mein Leben ist so... ist so... so leer...“ Es war Mitte Mai, und Jonas hatte sich, an einem sonnigen Vormittag, in der Praxis ebenjenes Psychologen eingefunden, dem er noch vor einem dreiviertel Jahr mit selbst- und heimlich siegesbewusstem Lächeln erklärt hatte, er sehe das Trinken als eine Art Sport an, und der ihm jetzt, da Jonas aufgelöst und ratlos bei ihm erschienen und seine Situation ihm geschildert hatte, riet, die städtische Suchtberatung aufzusuchen – wo doch der Gedanke, in der allgemeinen Misere seines Lebens auch darauf, auch auf diesen einzigen und letzten Trost noch, der ihm geblieben war, Verzicht tun zu sollen, quasi unmöglich anmutete... Der Abendtrunk, der besänftigende, wohltätige – was hatte er denn sonst, woran sonst konnte er sich denn festhalten inmitten all dieser Enttäuschung, all diesen Schmerzes, dieser nüchtern-traurigen Wüste einsamer Hoffnungslosigkeit? „Diese Leere...“, fing Jonas wieder an, „diese – “ „Mir scheint“, unterbrach ihn hier der Mediziner, der seit ein paar Minuten Jonas nicht mehr angesehen, sondern scheinbar angelegentlich damit beschäftigt gewesen war, irgendwas in seinen Laptop zu tippen, „mir scheint“, sagte er, mit einer raschen Drehung Jonas nun sich zuwendend und ihm gerade, mit leicht hochgezogenen Brauen, ins Gesicht sehend: „Mir scheint, Ihr Leben ist ja doch eigentlich recht voll, nicht wahr?“ Jonas verstummte, und nahm, obwohl er gern noch weiter geklagt hätte, sein Lamento nicht wieder auf. Er wartete, bis der Arzt das Rezept für das Antidepressivum ausgedruckt und ihm eingehändigt hatte, dann verabschiedete er sich und verließ die Praxis, um – er wusste, er sollte es nicht – an diesem warmen, sonnigen Maitag erst einmal ein Bier zu sich zu nehmen, jene Leere auszufüllen, womit in anderer Weise umzugehen Jonas schlichtweg sich nicht getraute...

Das war jetzt fast sechs Jahre her, und Jonas inzwischen weiter gereift – wie ein guter Wein, hätten wir beinahe gesagt... Fakt war, dass er manches auf die Beine gestellt, vom Saufen aber immer noch nicht losgekommen war. Ob sich das jemals ändern würde? Immerhin war Jonas bereit, es nach mehreren Jahren des Totschweigens und der Verdrängung wieder einmal mit einer Therapie zu versuchen. Und vielleicht war das ja ein Anfang.

 

Servus makksi,

ich freute mich, hier wieder einen neuen Text von dir zu sehen, ich befürchtete nämlich schon, du seist dem Forum wieder abhandengekommen. Das hätte ich ehrlich bedauert, weil ich dich schon alleine deines Debuttextes "Ente Fisch" wegen als Autor schätze.
Entsprechend erwartungsvoll begann ich zu lesen. Aber ...

Um es kurz zu machen

Tja, so beginnt einer der Absätze, und, äh …, das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, weil für mein Gefühl ist deine Geschichte viel zu lang, ja, und auch einfach zu langatmig irgendwie. Also am Stilistischen gibt’s überhaupt nichts auszusetzen, der Text ist angenehm zu lesen, schön und gut schreiben kannst du wirklich, aber, und das ist wohl das Schlimmste, das man einem Autor sagen kann, ungefähr zur Hälfte ertappte ich mich dabei, dass ich den Text zu überfliegen begann. Nicht, dass ich ein ungeduldiger, kurzatmiger Leser wäre, kein 700 Seiten-Ziegel ist vor mir sicher, so es ihm gelingt, mich zu packen, ob mit Sprache, mit Inhalt, mit was auch immer, aber bei dieser Geschichte hier hatte ich echt Probleme, mit ganzem Herzen hineinzufinden.
Absurderweise kann ich mir diesen Text durchaus als Teil einer noch weitaus längeren Erzählung vorstellen, die ich sogar lesen wollen würde, als so eine Art kontemplative Lektüre für verregnete Sonntagnachmittage. Dieses Psychogramm eines trinkenden Schreibers, schreibenden Trinkers ist ja irgendwie schon interessant, stellenweise auch berührend. Aber als Kurzgeschichte funktionierte es einfach nicht für mich, bzw. war meine Erwartungshaltung eine falsche. Oder möglicherweise ist es überhaupt das Dilemma (der Fluch?) dieses Forums, dass die Versuchung, sich bei geringsten Schwierigkeiten beim Lesen einfach einem anderen Text zuzuwenden, so verdammt groß ist. Ja, diese Konkurrenz ist übermächtig.
Ich weiß nicht recht, was für einen Rat ich dir geben soll, makksi. Kürzen? Verdichten? Szenischer schreiben? Ich weiß es nicht, ja, ich weiß nicht einmal recht, ob ich gut daran tue, dir mein eher lauwarmes Urteil überhaupt mitzuteilen, weil ich irgendwie auch das Gefühl habe, dass echtes Herzblut in der Geschichte steckt, aber …, na ja, egal, ich hab mir gedacht, ich sag dir das jetzt einfach. Ist ja nur mein ganz persönliches, winziges offshore-Urteil.


offshore

 

Hallo makksi

Ich möchte offshore in dem Punkt Langatmigkeit zustimmen, allerdings nur für den Abschnitt der Hausarbeit. Die war mir eine Spur zu lang gezogen. Übersprungen habe ich trotzdem nichts. Ich fand sie sehr bewegend und wirklich gut geschrieben, Deine Geschichte. Und so möchte ich mich nochmals auf das von offshore Geschriebene berufen:

gut schreiben kannst du wirklich
Dem stimme ich unumwunden zu.

Sehr gerne gelesen.

wie ein guter Wein, hätten wir beinahe gesagt...
Deine Geschichte ist viel zu gut geschrieben und korrigiert, als dass es keine Absicht sein könnte. Ich weiss nicht, ob ich es richtig deute, das kleine Wörtchen wir. Ich wünsche euch jedenfalls das Beste und viel Kraft auf eurem Weg.

herzliche Grüße
Oli

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo makksi,

nach den ersten beiden Absätzen bin ich ausgestiegen (nur noch überflogen). Es ist eine Nacherzählung, und ich finde den Stil auch manieriert. Immer noch mal mehr, noch ein Semikolon, noch mal was drangehängt, und am Ende wusste ich nicht, äh, worum ging es in dem Satz noch mal?
Du hast da endlose Blöcke mit Erklärungen. Und dann entscheidet er sich, einfach weil er 'lebensmüde" ist, eine Flasche Wein zu kaufen. Haschisch natürlich auch noch, gehört dazu. Flaschen schmuggeln etc. Für mich klingt das alles wie aus einer Doku über Alkoholismus, sorry. Unauthentisch.

Der Psychologe, den hat er natürlich auch schon: Der hätte ihm aber gesagt, das Trinker immer, und immer wegen der Wirkung trinken. Alkohol hat dann eine bestimmte Funktion, und der Prot hätte dann die Aufgabe bekommen, herauszufinden, welche Funktion denn Alkohol für ihn hat.

Die Absätze mit dem Fußball, junge Siegfriede und Helden, also, dafür muss man deine Schreibe schon echt mögen. Das hallt in meinen Ohren so gestelzt daher, sorry. Und dionysische Dynamik: Fußball war immer schon ein Sport der Proletarier, gesoffen und sich gehauen, das gehört(e) dazu.

Dein Text sind Blöcke voller Nacherzählungen, in denen es keine Dialoge, keine Szenen gibt, nichts, womit ich mich identifizieren kann. Du versuchst auch schön zu schreiben, so wie man das von einem Autor vielleicht erwartet, aber es sind lediglich Eitelkeiten; viele deiner Sätze schmeicheln dem Ohr nicht, da ist der Klang verschoben, 'müde' und 'fühlen' in einem Satz ... gibt einen guten Stilratgeber von Reiners oder Wolf Schneider, da stehen viele solche Dinge drin, ich wusste die vorher auch nicht.

Mir fehlt über das Trinken nahezu alles an deinem Text, es tut mir leid, dir dies so zu sagen zu müssen. Ein Trinker kann nicht einfach mal einen Monat aussetzen, und was mir vor allem fehlt, ist die Komponente, die er in sich selbst entdeckt, wenn er trinkt. Menschen, die nie getrunken haben, die nennen es 'Leere', oder 'Hoffnungslosigkeit', aber ein Trinker würde das so nicht beschreiben. Das ist eine hochpersönliche Sache, die Gründe bleiben sehr oft sogar im Dunkeln.

Tut mir leid, mich hast du mit deinem Text nicht überzeugt, die beiden anderen Kommentatoren anscheinend schon.

Sind nur meine 5 Cent.

Gruss, Jimmy

 

Hallo offshore, osh und Jimmy,

erstmal danke für Überfliegen, Lektüre und Kommentar! Ja, was soll ich sagen? Man ist ja hier im Forum, um Wirkungen auszuprobieren und was zu lernen. Da kriegt man halt auch manchmal den Kopf gewaschen...

>offshore: Langatmigkeit - stimmt, kann man so sehen! Dass du nicht reinfandest in den Text, ist natürlich schade. Ein Psychogramm sollte es sein, in der Tat! Und dein Riecher war ganz richtig: Letztlich soll der Text Bestandteil eines größeren Projekts sein, sich aber auch, das war meine Hoffnung, für sich lesen lassen. Jedenfalls brauchst du dich, offshore, für dein Unbehagen keinesfalls zu rechtfertigen!!! Klar hab ich "Herzblut" reingesteckt, und die Sätze / Absätze mit dem Höchstmaß mir zur Verfügung stehender Ruhe, Konzentration in den Laptop getippt. Wenn's aber eben nicht klappt, dann klappt's halt nicht. Danke jedenfalls für die Honorierung meiner Stilbemühungen!

>osh: "sehr bewegend und wirklich gut geschrieben": das hört man natürlich gerne, Osh! Es freut mich sehr, dass du NICHT ausgestiegen bist! In der Tat habe ich den Text sehr sorfältig korrigiert, bevor ich ihn reinstellte. Du liegst auch richtig damit, dass er einen bekenntnishaften Zug hat.

>Jimmy: Tja, Jimmy, bei dir bin ich ja wohl übel durchgefallen... Wieso aber sprichst du einerseits vom "Doku"-Charakter, andererseits aber davon, das Ganze sei nicht "authentisch"? Hab ich da was nicht mitgekriegt, oder zeichnet es nicht GERADE Dokus aus, "authentisch" zu sein??? Egal. Über dein Wort von der "Nacherzählung" musste ich schmunzeln. Es handelt sich in der Tat um eine Art "Nacherzählung" - sofern man denn das Nach-Erzählen eines Stückchens eigener Lebensgeschichte so bezeichnen kann. "keine Dialoge, keine Szenen": korrekt, das sehe ich selbst als Schwäche, es wird das Allermeiste bloß GESAGT und nicht GEZEIGT. Da muss ich ansetzen, ich kann verstehen, dass dich das gelangweilt hat. "Mir fehlt über das Trinken nahezu alles an deinem Text, es tut mir leid, dir dies so zu sagen zu müssen. Ein Trinker kann nicht einfach mal einen Monat aussetzen, und was mir vor allem fehlt, ist die Komponente, die er in sich selbst entdeckt, wenn er trinkt. Menschen, die nie getrunken haben, die nennen es 'Leere', oder 'Hoffnungslosigkeit', aber ein Trinker würde das so nicht beschreiben. Das ist eine hochpersönliche Sache". Die "Komponente", von der du sprichst, glaubte ich schon dargestellt zu haben: Einerseits Wegschwimmen im Feier- und Größenwahnsinn, andererseits Selbstekel bzw. -zweifel, Sinnverlust, Depression. Grundsätzlich hast du Recht: Ein ganz heruntergekommener Säufer kann nicht einfach mal aufhören. Bedenke aber, dass es nicht DEN Alkoholiker gibt, sondern nahezu unbegrenzt viele Spielarten dieses Typus... Ich verstehe aber, was dir missfiel: Dir war das alles zu abstrakt, zu wenig anschaulich beschrieben, zu summarisch, zu oberflächlich. Das hat mir zu denken gegeben, und da versuche ich demnächst anzusetzen.

Viele Grüße
makksi

 

Hallo makksi,

ich würde es nicht durchgefallen nennen. Mir fehlt hier einfach der Punch, grundsätzlich bin ich ein sehr großer Freund von Trinkergeschichten.

Doku-Charakter: Damit meinte ich, es klingt so nach den üblichen Klischees, die man aus Dokumentationen kennt. Das mag oft stimmen, aber um einen Trinker eben zu personalisieren, fehlt es dem Text, oder eher diesen Passagen an Subtilität - für meinen Geschmack. Vielleicht habe ich mich da unklar ausgedrückt, sorry.

Sollte nicht destruktiv klingen. Ich denke, mit einem anderen Ansatz kannst du aus diesem Text viel mehr herausholen.

Gruss, Jimmy

 

Alles klar, Jimmy. Punchy ist das wirklich nicht. Da ich mir aber einbilde, von dem Thema etwas zu verstehen, und alles andere beabsichtigt hatte, als platte Klischees künstlich aufzukochen, betrachte ich deinen Kommentar als Herausforderung. Vielleicht gelingt mir ja bald was Pralleres!

Viele grüße
Maxi

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom