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Kurze Szene.
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Du bist so kaltherzig, hinterhältig und manipulativ. Die Worte seines Kollegen hallten in Lians Kopf. Es stimmte, wie er zugeben musste. Alles, was die Leute in seinem Umkreis an Vorurteilen über ihn hatten, entsprach der Wahrheit; dass er launisch und reizbar war, keine Freunde besaß, immer wie gedruckt log – und natürlich, dass er nicht Gott anbetete, sondern etwas anderes, das die Außenwelt nur abschrecken und mit unverständlicher Miene kommentieren würde, wenn er es ihnen erzählen würde. Wenn sie eine Antwort auf ihre Fragen über ihn erhofften, so zuckte er nur unbekümmert die Achseln und ließ sie weiter in ihrer Ahnungslosigkeit schmoren.
Schmoren. Ja, das tat er auch. Sein Leben war gezeichnet von einem unmissverständlichen Schicksal, das ihm bereits in seinen frühen Jahren klar gemacht worden war. Er hatte es angenommen – dankbar und mit einem naiven Funken Hoffnung, das ihn am Leben hielt, weil er sich immer wieder sagte, dass alles gut gehen wird, dass er Gefühle irgendwann spüren dürfte. Bestimmt. Und das alles würde nur Seinetwegen funktionieren.
Schweigend ignorierte Lian seine Kollegen, als er das Gebäude verließ und sich auf dem Weg nach Hause machte. Heute hatten sie ihn schon wieder herablassend nach seiner Narbe am Unterarm gefragt; woher sie stamme, ob er die sich selber zugefügt hätte. Bei letzterem hatte er selbstverständlich verneint - was für eine Lüge – und sich schließlich eilig verabschiedet. Da hatte er keine Scham oder Unbehagen gefühlt. Er fühlte nie etwas. Das einzige, was er spüren konnte, waren Schmerzen, die ihm schon seit dem fünften Lebensjahr beigebracht worden waren.
Denn Er will es so, hatte seine Mutter ihm früher immer ins Ohr geflüstert, als Lian einmal schrecklich geweint hatte, weil sie ihm ein glühend heißes Eisen in den Rücken gedrückt hatte. Das umgedrehte Kreuz, das es dabei hinterlassen hatte, befand sich noch immer an derselben Stelle. Seit mehr als zwanzig Jahren. Lian hatte es nicht gewollt, hatte so gelitten, aber irgendwie ... hatte er dabei auch noch tiefe Zufriedenheit und Entspannung gefühlt. Er hatte es sich nicht erklären können, hatten die Worte seiner Mutter in jener Nacht doch die ganze Zeit in seinem Kopf gedröhnt: Er will es so.
Jetzt im Zug hörte er immer noch die leise, von Zigarettenrauch vergiftete Stimme seiner toten Mutter, die durch Herzversagen gestorben war. Der Mann ignorierte die verwunderten und leicht verängstigten Blicke der Leute, die ihn musterten als wäre er ein Monster, von einem anderen Planeten, obwohl seine äußerliche Erscheinung so ... normal und durchschnittlich schien mit den dunklen Haaren, dem markanten Gesicht und der etwas zu großen Nase. Er verstand nicht, weshalb die Leute ihn so komisch anstarrten, überhaupt nicht.
Lian betrachtete das halb so schöne Zeichen auf seinem Unterarm, welches er sich selber mit einem einfachen Küchenmesser zugefügt hatte. Sein umgedrehtes Kreuz war ein wenig schief und krumm. Das lag wahrscheinlich daran, dass er bei den Schnitten so gezittert hatte und seine Hände feucht von Schweiß waren. Aber er hatte die Qual genossen, über ihr geschwebt und sich vollends von ihr benebeln lassen.
Eine monotone Frauenstimme teilte allen Fahrgästen die Station mit. Lian musste in wenigen Augenblicken aussteigen. Er räusperte sich und richtete sich auf. Ein kleines Mädchen saß ihm gegenüber und guckte ihn mit der wahren Unschuld eines Kindes an, das gerade die Anwesenheit eines Menschen, der Antipathie verströmte, bemerkte. Sie schleckte an ihrem bunten Lutscher, während sie, unbekümmert von den Rufen ihrer Mutter, den unheimlichen Mann mit ihren glasblauen Augen anschaute. Lian lächelte schwach. Dann erstarrte die Mimik, als die Mutter das Mädchen gewalttätig am Arm Richtung Ausgang des Zuges zerrte und ihn mit einem finsteren Blick streifte. Die Frau erinnerte ihn an seine Mutter, die viel schlimmer mit ihm umgegangen war, wie er zugeben musste.
Zuhause durchsuchte er sogleich seine Kommode nach einem Gürtel. Als er ihn fand, atmete er einmal tief durch, gefasst auf die Schmerzen. Denn sie waren die einzigen, die er wahrhaftig spüren konnte, seine treuen Begleiter des Lebens.
Kräftig schwang er den Gürtel und ließ ihn auf seinen nackten Oberschenkel fahren. Er heulte auf. Wieder peitschte er seine Haut. Er schrie – nicht mehr so laut wie vorher. Erneut schlug er ein - und das so oft, bis sein linker Oberschenkel rot angeschwollen war und pochte. Selbst die kleinste Berührung schmerzte ihn mit höllischen Qualen, als er sich die Hose überstreifte. Doch er war stolz auf sich. Immer fühlte er sich innerlich so leer und ohne Gefühl wie eine Maschine. Doch Du gibst mir die Fülle, Satan.