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Lebst du noch oder stirbst du schon?
Dachte Rudolf Rohdorf, als er eines nachts aus unruhigen Träumen erwachte. Mehr wußte er vom Geträumten nicht. Nur dieser eine ominöse Satz hatte sich in seinem Bewußtsein verschanzt, bevor ein erwachender, mentaler Türsteher zur Tat schritt und die unliebsamen nächtlichen Gäste aus Rudolfs Kopf verbannte. Nun war das irrationale syntaktische Gebilde abgespalten von seinem inhaltlichen Kontext. Es verblieb als formal dahingestellte Version eines eingängigen Werbeslogans. Jedoch denkwürdig entstellt durch Traumarbeit.
Man kann nicht gerade sagen Rudolf hätte einen klassischen Alptraum gehabt, aber sein Aufwachen war eine instinktive Willensleistung zur Vermeidung des bevorstehenden Schreckens gewesen, eine präventive Maßnahme, sozusagen.
Nun war Rudolf, ein dreiunddreißigjähriger Bankangestelter, kein Mensch mit einer philosophischen Neigung des Geistes. Er hätte sich für gewöhnlich auf die andere Seite gelegt und die Decke höher gezogen, um wieder möglichst traumarme Schlafgefilde aufzusuchen.
Wenn diese absurde Frage nicht gewesen wäre. Lebst du noch oder stirbst du schon? Er versuchte sich die Stimme des Fragestellers vorzustellen und kam zu dem Schluß, es müsse die Stimme eines sehr alten Mannes sein, der durch tiefgreifende Lebenserfahrung einen immensen Fortschritt bezüglich der Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens haben müsste. Doch auch diese vermeintliche Erkenntnis brachte ihm den wahren Hintergrund der scheinbar a priorischen Sentenz nicht näher. So sehr er sich auch bemühte, er konnte die dazugehörige Traumszene nicht rekonstruieren. So wälzte er sich trotz immer noch vorherrschender Müdigkeit hin und her; mit wachsender Frustration. Es war halb drei und er mußte am nächsten Morgen früh aus dem Bett.
Ikea, dachte er plötzlich. Es war eine unendliche Stunde vergangen.
"Wohnst du noch oder lebst du schon" sagte er laut und richtete sich im Bett auf. Die Müdigkeit war schlagartig verflogen. Ein Schmunzeln, das vom Stolz auf seine mentale Detektivarbeit kündete zeichnete sein Gesicht. Und nun folgten die Bilder der dazugehörigen Werbespots dem Slogan zurück in Rudolfs Bewußtsein.
Einem Beobachter wäre der Anblick von Rudolfs mimisch ausgedrückten Denkprozessen vermutlich suspekt vorgekommen. Es erschien, als ob die Werbeclips in Echtzeit vor seinen Augen abliefen und jeweils durch ein verstohlenes kleines Kichern quittiert würden. Freilich hätte der potentielle Beobachter nur die Bekundungen der Komik, nicht jedoch deren visuellen Anlass gesehen. Man darf behaupten, der Beobachter hätte sogar - im Stillen - die geistige Gesundheit des Bänkers angezweifelt. Doch Rudolf lebte schon seit Jahren allein und man kann nicht sagen, ob dies die Ursache oder die Wirkung seines Geisteszustands war.
Als hätte er das wachsende Misstrauen eines hypothetischen Beobachters bemerkt, erlosch das irre Lächeln, das in Rudolfs mimischen Repertoire ohnehin selten geworden war. Die humoröse Ikea-Facette war nicht der eigentliche Inhalt des versprengten Satzes. Sie war nur ein unbewußt konstruierter Aufhänger für etwas anderes. Das wußte er. Und dieses Etwas machte ihm Angst. Es war die Angst des erwachsenen Alptraums.
Man könnte sagen, der Unterschied zum kindlichen Alptraum besteht darin, dass ein Kind den Auftritt seines mörderischen Schreckgespenstes ertragen muss, weil es nicht bemerkt, dass es nur träumt und das unbewußte Matinee jederzeit abbrechen könnte. Das erwachsene Ich, wenn es denn so etwas überhaupt gibt, erkennt die angstneurotische Pointe der Traumsequenz instinktiv im Voraus und leitet daraus die träumerische Irrealität ab. Es erwacht augenblicklich, weckt den geistigen Türsteher und verriegelt die Pforte zum menschlichen Abgrund.
Rudolf wußte nicht mehr, wann er das letzte Mal seinem Schreckgespenst ausgeliefert gewesen war. Er wußte nur, dass es immer irgendwo in den Schlupfwinkeln der Traumtopographie lauerte. Es war nie weit weg, wenn er träumte. Und das instinktive Aufwachen bei der Befürchtung einer bevorstehenden Begegnung mit diesem Namenlosen glich dem Reflex des Tauchers, schnellstmöglich an die Wasseroberfläche zurückzukehren, wenn der Sauerstoff knapp wird.
Dieser Notaufwachmechanismus bewahrte Rudolf zuverlässig vor Alpträumen, denn er registrierte auch das tückische, allmähliche Umschlagen eines Wunschtraums zum Schreckensszenario. Aber er bewahrte ihn auch gewissermaßen vor der Bewältigung eines tiefverwurzelten, psychischen Konflikts, den das Schreckgespenst schließlich in metaphorischer Form mit ihm auszutragen versuchte.
Wie sah das Schreckgespenst also aus?
Vielleicht sieht es so aus wie ich als alter Mann, dachte Rudolf, die Greisenstimme des Fragestellers im Hinterkopf. Darauf hin überkam ihn eine Gänsehaut.
Jetzt wurden Erinnerungen an seine Kindheit wach, die er in wohlbehüteten Verhältnissen eines Frankfurter Vororts verbracht hatte.
Schon von Jugend auf trainierte ihm sein Vater jene unerbittliche und zugleich sozial unterkühlte Disziplin an, die für das rohdorfsche Erfolgsmodell des Menschen unabdingbar war. Womöglich hatte der in Frankfurt beheimatete Positivismus seinen Teil zur Ausbildung des dort vorherrschenden auf Sinneseindrücke reduzierenden Menschentypus beigetragen. Wie dem auch sei, Rudolf Rohdorfs Charakter wurde durch die Umstände seines sozialen Umfelds und dessen Wertvorstellung zurecht gehauen. Offenbar gingen die Verantwortlichen dabei zu grobschlächtig vor, denn gewisse essentielle Teile der menschlichen Natur, allen voran die Vernunft und Moral, schienen in Folge der einseitigen geistigen Abrichtung zu verkümmern. Bereits zu dieser Zeit begann etwas in Rudolf zu sterben.
Gewissermaßen gleicht unser aller Leben ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr ohnehin einem Sterben. Die permanente Verbrennung unseres Körpers, auch als Atmung bekannt, beginnt dann Überhand zu nehmen. Denn aus unerfindlichen Gründen verlangsamt sich die Proteinsynthese dann dermaßen, dass der Schaden durch die Oxidation der Zellen nicht mehr ausgeglichen werden kann. Das Verhältnis kehrt sich dahingehend um, dass der menschliche Leib auf seine Weise zu rosten beginnt. Was sich in der Jugend auf wundersame Weise von selbst regenerierte, ist nun einer unromantischen humanen Verrottung preisgegeben. Dies wird umgangssprachlich auch als das Altern bezeichnet.
Doch in Rudolfs Fall begann das Sterben auf Raten ungleich früher, allerdings auf seelischer Ebene. Durch allzu intensiven Kontakt mit toter, empirischer Materie, übertrug sich deren Attribut auf den jungen Rudolf selbst. Mit umgekehrten Vorzeichen, versteht sich. Die positivistischen Kräfte seiner Umwelt bewirkten bei Rudolf somit allzu negative Folgen.
Da richtete man Rudolfs Augenmerk auf die visuell-realen Gegebenheiten der Wirklichkeit. Und so studierte er die darwinistische Wirtschaft der Zeit ohne ein Verständnis über die menschliche Natur und deren Sinn zu erwerben. Angemerkt sei hier, dass sich Rudolf innerhalb dieses Fachgebietes recht erfolgreich schlug, auch wenn ein gewisser Mangel an Ehrgeiz ihm die höchsten Weihen des Wirtschaftens verwehrt hatte.
Berücksichtigt sei zudem, dass sich Rudolfs eigentliche Erinnerung an seine Jugend mangels Selbstreflexion, auf die seelischen Qualen der Disziplinierung beschränkten. Auch wenn er später durchaus gelernt hatte aus dem oberflächlichen Erfolg des schulischen und beruflichen Lebens seine kastrierten Freuden zu beziehen, blieb ihm die Pein seiner Kindheit am Stärksten im Gedächtnis. So wie seine im Studium erworbene Kenntnisse nur diesseits der Gesellschaft galten, gelangte auch sein rudimentärer Sinn für das eigentlich humane nie über diese Schwelle ins Transzendente hinaus.
Da schrie die Erzieherin des kleinen Rudi, beim Anblick seiner erneut durchnässten Hose.
Da sass der kleine Rudi am schneeweißen Schreibtisch in seinem Kinderzimmer und paukte die Multiplikationstabellen mit Tränen in den Augen, während sein Vater im Bürostuhl daneben saß und darauf wartete den nächsten Fehler bei der neuerlichen Aufsageprozedur mit einer Ohrfeige zu würdigen.
Da bekam Rudi einen panischen Schrecken, als er bemerkt hatte, dass er seinen Schulranzen im Bus vergessen hatte, der bereits um die nächste Ecke bog.
Da hänselten ihn seine heimliche Jugendliebe, weil er in Krawatte zu seiner ersten Schulfete erschienen war.
Da saß Rudolf in seiner zwei Jahre währenden, pubertären Identitätskriese auf der Bettkante und weinte still in sich hinein, ohne zu wissen warum.
All diese schmerzlichen Szenen hatte Rudolf schließlich überwunden. In seinen ersten beiden Jahren als Bankkaufmann begann er dann an das Glück einer am Reißbrett entworfenen Welt zu glauben, kaufte sich seinen ersten Golf und versuchte sich in einer Beziehung mit seiner Büronachbarin.
Doch dieser Aufschwung, der einer skurrilen kurzen Renaissance glich, verkehrte sich allmählich mit einem langsam schwindenden Graphen, der einen kontinuierlichen Trend in eine schwarze Rezession bezeichnet. Dort gelangte Rudolf in dieser ahnungsvollen Nacht an. Jedenfalls drang ihm erstmals eine wage Skizze dieses gottlosen Lebensentwurfs ins Bewußtsein. Namentlich in der Frage: Lebst du noch oder stirbst du schon?
Mit dem Hauch einer wahren Erkenntnis schlief Rudolf schließlich ein. Das Bedürfnis nach Traumarbeit war damit erstmals seit sieben Jahren vorerst bewältigt. Auch wenn er die genannten Zusammenhänge bezüglich der Misere seines Lebens selbst im bewußten Zustand kaum herzustellen vermochte.
Am nächsten Morgen waren die -ohnehin hypothetischen- Ereignisse der Nacht vergessen. Da es für diese rudimentären Denkprozesse keine empirischen Zeugen gab, war ihre Existenz schließlich mehr als fraglich. Sinnlich beweisbar war jedoch die gute Laune Rudolfs, die nunmehr grundlos (quasi über Nacht) aufkam.
Nach getaner Arbeit besuchte Rudolf ein Reisebüro. Im Rahmen einer unüblichen Bettlektüre blätterte er abends in einem entsprechenden Katalog. Als er das Licht löschte und den Prospekt bei Seite legte, war eine Seite mit Bungalows in der Schwedischen Wildnis aufgeschlagen. Während Rudolf Rohdorfs Ich in den unbeschreiblichen Tiefen des Schlafs versank, hörte er wieder sein abgespaltenes altes Selbst. Es verkündete ihm die ewigen Wahrheiten der Welt, die er niemals verstand.