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Lebewohl, mein Freund
Marco, mein bester Freund, verabschiedete sich von mir. Mit einem Händedruck und guten Wünschen für alles Weitere und Neue, wollte er sich von der Heimatstadt trennen und das hiesige Leben hinter sich lassen. Wegziehen, ohne irgendwelche Erinnerungen an früher, das war sein Ziel. Alles vergessen, für immer, denn hier war für ihn die Hölle. Er erklärte mir alles, warum er das tat. Für ihn hatte es hier keinen Sinn mehr.
Seine Frau Maike war vor einiger Zeit an Krebs gestorben, schon nach kurzem Kampf hatte sie aufgegeben und ließ den Tod gewinnen. Doch Marco hatte den Tod schon viel eher hassen gelernt. Seinen einzigen Sohn verlor er schon vor sieben Jahren, als der Kleine erst ganze drei Jahre alt war. Ein Unfall kam aus dem Nichts in die glückliche Familie, in das Leben, was Marco immer wollte, und wirbelte die Gefühle bis zum Zerreißen in das sonst so frische, liebende Elternhaus auf.
David war sofort tot. Ein verstohlener Trost für meinen alten Schulkamerad, denn es war zu wenig Zeit, um Vater zu sein.
Ich bewunderte Marco immer dafür, mit wieviel träumerischer Konsequenz er sich einen Jungen wünschte. Schon in der Schule sprach er nur davon, wie er später einmal seinen Sohn, den er gerne David nennen wollte, erziehen wird. Was er besser machen würde, als sein Vater und was er gut fand.
Wir waren damals, als die Welt für Marco und Maike zusammenbrach, in noch engerem Kontakt. Meine Frau Sfeffi und ich versuchten so gut es ging das vorher zufriedene, jetzt auf grausamste Art plötzlich kinderlos gewordene Ehepaar von dem erbarmungslosen Schicksal abzulenken.
Es schien nicht zu gelingen. Maike zerbrach, resignierte und zog sich zurück. Wir kamen nicht mehr an sie heran. Auch für Marco schien es keinen noch so steinigen, komplizierten Weg zu ihrem Innern, zu ihrem so schnell verwelkten Herzen zu geben.
Als ihre Krankheit diagnostiziert wurde, war sie erleichtert und hieß sie willkommen. Sie lachte seit so langer, einsamer Zeit.
Seit diesem Augenblick hatte ich so starke Angst um Marco, daß ich ihn fast nicht mehr aus den Augen ließ. Ich wollte ihn nicht verlieren. Meine Sorge, auch er würde keinen Sinn mehr in seinem Leben sehen, machte mich fast verrückt. Marco sprach nie darüber, wie es in ihm aussah. Er war so verschlossen, es machte mich wütend. Doch ich versuchte ihn zu verstehen. Und ich hätte ihn auch verstanden, wenn er suizidale Gedanken geäußert hätte. Doch er schwieg.
Steffi mußte ebenfalls alle Energie zusammennehmen und nicht nur die sterbende Maike versorgen, sondern auch sämliche Reserven aufbringen, um Marco und mich zu beschützen. Sie kümmerte sich so liebevoll um mich. Sie ließ mich trauern und kämpfen. Es war so fremd, es wirkte so unwirklich den Jugendfreund zerschlagen, am Ende seiner Fähigkeiten und seines Willens zu sehen, und andererseits eine Frau, die so sehr liebt, an meiner Seite zu spüren.
Es vergingen Tage, Monate und sogar Jahre. Wir dachten, es wäre geschafft, überwunden, verdrängt. Doch wir, nein, ich täuschte mich. Um so schmerzlicher war es nun, von der Realität eingeholt zu werden. Marco hat sich gequält mit dieser erdrückenden Last auf seinen schmerzenden Schultern.
Seine Geburtsstadt, unsere kleine Metropole, die für uns die Welt bedeutete und die uns soviel Freude in der Jugend gebracht hatte, sollte ihn in reiferen Jahren so erschüttern, verlassen und beängstigen.
Mit schweren Herzen reichten wir uns erneut die Hände und es war wie ein Teil seines eigenen Lebens einfach abzuschütteln. Einen angenehmen Teil, der fast das ganze, schon gelebte Leben zu einem gehörte. Ich wollte nicht, daß er geht, ihn nicht verlieren. Ich wollte ihn festhalten, doch kein reden half, er war zu entschlossen. Es schienen Erinnerungen, Freude und Trauer, Spaß und Erfolg, genauso wie Grausamkeit, Lachen und Entsetzen ins Ungewisse zu schwinden.
Wir beschlossen, auch weiterhin in Kontakt zu bleiben. Doch als Marco ins Auto stieg, allein, den festen Entschluß gefaßt, zu vergessen und ich seinen vollbeladenen Wagen langsam am Ende des Horizonts verschwinden sah, wurde mir klar, daß wir uns nie wieder sehen.