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Leberkäs und Tod
Es war einer jener Apriltage in München, der viele Bewohner mit Kopfweh überfällt: Blauer Himmel, stechende Sonnenstrahlen, warme Südwinde und verbliebene Winterkälte mischten sich zu einer Atmosphäre in der die Zahl der Ehestreits, der Autounfälle und der Arztbesuche hochschnellt.
An so einem Tag schleppte ich mich vom Schwabinger Krankenhaus, in dem ich in den letzten Wochen um mein Leben gerungen hatte, zum ersten Mal wieder in die Welt der Gesunden.
Erschöpft vom dreiviertelstündigen Marsch sank ich im Hofgarten auf eine Bank mit Blick auf den Pavillon und die Staatskanzlei. Wieder überwältigte mich die Verzweiflung der letzten Wochen. Tief steckte sie in meinem Körper und wirbelte mein Bewusstsein in ein schwarzes Loch. Das verführerische Leuchten Münchens sog hingegen meine Seele in die Vorfrühlingsluft. Das Außen vermengte sich mit dem Innen, das Oben mit dem Unten, das Bewusste mit dem Unbewussten, Raum mit Zeit. Auflösung im Nirgendwann und Nirgendwo.
Die entstellten Gesichter der Brandopfer, das Lallen des dementen Opas, das Zittern eines Parkinsonpatienten, das Weinen der sterbenden Mutter von drei Kindern, die Verrenkungen eines Epileptikers – dieses Höllenspektakel aus meiner Zeit im Krankenhaus endete mit dem Spruch der Weißkittelfratzen: „Wir können Ihnen keine Hoffnung machen.“
Ich lebe noch! Explodieren wollte ich. In Raserei verfallen. Ich lebe – noch?
Reglos saß ich da. Einfrieren war meine Überlebensstrategie. Damit bannte ich meine Gefühle. Wenn mein Bruder mich zusammenschlug und quälte, rettete mich die Vorstellung, alles in mir wäre Eis. Damit ertrug ich es. Mit der Kälte stand ich über der Wirklichkeit.
Ohne Schmerzen zu spüren, schaute ich dann von außen auf die Szene. Kalt.
Es musste schon längere Zeit neben mir gesessen haben, das uralte Männlein. Genüsslich biss es in seine Semmel mit einem riesigen Stück Leberkäs. Andächtig kaute er es und spülte es mit einem Schluck aus einer Bierflasche hinunter. Schamlos demonstrierte es Wohlbefinden.
Ich rückte ein wenig zur Seite.
„Schönes Wetter. Da hört man die Englein singen!“
„Ja.“
Mehr brachte ich nicht heraus. Englein! Idiot! Alleluja!
Ich schielte zu dem Alten hinüber. Er musste weit über achtzig Jahre alt sein. Sein Körper krümmte sich nach vorne, als wollte er in die Erde schlüpfen. Sein Gesicht strahlte Ruhe, Zufriedenheit und Glück aus. Aus seinen tiefen Falten blinzelten listige Äuglein, wach beobachtend.
Wieder ein Biss Leberkäs.
„Man muss das Leben genießen, solange man es noch hat.“
Meine gespannten Nerven ertrugen dieses Fröhlichkeitsgeschwätz nicht. Zum Aufstehen und Weggehen fehlten mir Kraft und Wille.
Meine Finger zitterten. Ich war nahe daran ihn zu erwürgen. Dieser Lebenslusteuphoriker. Die Fröhlichkeitsnudel! Dieser Ulkopa!
„Man spürt schon Italien. Riechen sie doch nur: Das ist der Gardasee. Forsythien und Mimosen. Das Paradies auf Erden.“
Und du der Adam darin. Lächerlich, ihn sich nackt im Paradies rumrennend vorzustellen.
„Waren Sie schon einmal in Italien?“
„Nein!“
Er sog tief die Luft ein. „Das ist mein letzter Frühling.“
„Seien sie doch still!“
Meine Stimme verzerrte die Wörter. Ich war mit meinen fünfzig Jahren gerade dem Tod entronnen.
„Ich fürchte ihn nicht.“
Der Alte da kokettierte mit ihm. Müsste doch schon lange tot sein, mager, wie er war. Uralt und redselig wie ein Pubertierender. Der überlebt mich noch.
„Wir sind auf einer Weltreise.“
Wir? Eine Frau hat er auch noch? Auch so klapprig?
„Gestern Rom; letzte Woche Kairo, vor zwei Wochen Mauritius.“
Meine Fingernägel bohrten sich in die Handballen. Ich wollte Schmerzen empfinden.
Verschwinde, lass mich in Ruhe, Dummkopf. Weltreise? Für mich war der Gang vom Krankenhaus hierher eine Weltreise. Eine Geburt.
„Heute München. Wir haben ein Haus hier. Aber morgen geht es weiter: Paris, Madrid.“
Hörauf, hörauf! Mein Kopf platzt!
„Der Hofgarten ist Münchens schönstes Plätzchen.“
„Ja!“
„Genießen sie doch das Leben, junger Freund. Es ist so schnell vorbei. Sie weinen ja?“
Tränen rannen mir die Wangen hinunter. Er reichte mir ein Taschentuch. Mühsam stoppte ich ihren Fluss. Kein Gespräch anfangen!
„Bleich sind Sie …“
„Ja.“
Er packte sein Butterbrotpapier fein säuberlich zusammengefaltet in den Rucksack. Dann folgte der letzte Schluck aus der Flasche, die er ebenso sorgfältig verstaute.
„Was fehlt Ihnen?
„Nichts!“
Er nestelte an seinem Rucksack herum.
„So, das reicht. Nun, meine Liebe“, sagte er zu seinem Rucksack gewandt, „können wir weitergehen?“
Spricht mit seinem Rucksack. Komischer Kauz. Altersdemenz. Verschwinde endlich, alter Dummkopf. Ruhe, ich brauche meine Ruhe.
„Wissen Sie, ich habe meine Frau immer bei mir, hier, in diesem Rucksack.“
Spinner. Freigänger aus dem Irrenhaus. Inzuchtprodukt aus einem Alpental.
„In diesem Rucksack trage ich meine Frau mit mir herum. Wir hatten fünfzig Jahre eine gute Ehe. Vor sieben Jahren starb sie. Ich wollte mich nicht von ihr trennen. Ich liebe sie nämlich.“
„Aber wenn sie tot ist?“
„Eine Gemeinheit ist es“, donnerte das kleine Männlein urplötzlich mit großer Kraft los, „eine Gemeinheit ist es, dass man sich nach dem Tod trennen muss. Warum kann ich sie nicht im Garten begraben oder die Urne zu Hause aufstellen? Nein, ich hätte sie weit weg von mir verscharren müssen! Im Ostfriedhof.“
Er grinste.
„Aber nicht mit mir. Hier schauen Sie, das ist meine Frau.“
Er zog einen Knochen aus seinem Rucksack und hielt ihn mir hin.
Angesichts des Oberschenkelknochens seiner Frau traten mir Schweißtropfen auf die Stirn. Mit rudernden Armbewegungen wehrte ich den Anblick ab.
Er packte den Knochen wieder ein: „Als sie gestorben war, ließ ich sie in Athen beerdigen. Ich wusste, dass in Athen Grabstellen sehr gefragt sind. Deshalb schicken die Friedhöfe nach drei Jahren die Skelette in einer Totenbox an die Verwandten. Ich zog nach Athen, besuchte meine Frau täglich und nach drei Jahren stand der Postbote vor der Tür und überbrachte mir das Päckchen.“
Meine Muskeln waren so verhärtet, dass ich nur noch starr sitzen konnte. Jede Bewegung hätte einen Wutanfall oder eine Depression ausgelöst.
„Man braucht im Leben einen Begleiter. Das war sie. Man konnte uns nicht trennen.“
Er schulterte seinen Rucksack und sagte. „Lass uns weitergehen, Karin, in die Asamkirche. Da haben wir nämlich geheiratet."
Er reichte mir seine Hand.
„Und Sie, junger Mann, Ihnen steht die Todesangst ins Gesicht geschrieben. Fürchten Sie ihn nicht. Genießen Sie den Tag!“