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28.04.2017
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Lebenszeit

Es ist die aufgehende Sommersonne, die ihn an diesem Morgen aufweckt. Sie scheint auf seine geschlossenen Lider. Er dreht sich mühsam auf die Seite, um dem immer stärker in das Bewusstsein dringenden Licht zu entgehen. Doch es ist zu spät. Der Schlaf verflüchtigt sich, rinnt davon, ist nicht mehr zurückzuholen. Mit ihm gehen die düsteren Träume der Nacht. Sie verstecken sich in den dunkelsten Ecken des dämmrigen Schlafzimmers, harren den Tag über aus und bereiten sich auf ihre Rückkehr vor. Dem aufwachenden Mann ist das perfide Spiel der Träume bekannt. Er hat sich damit abgefunden, jeden Abend von den gleichen Dämonen heimgesucht zu werden. Auch wenn die Nächte quälend sind, hat er sie als einen Teil von sich akzeptiert. Vieles ist ihm verloren gegangen: Liebe, Freude, Leichtigkeit, alles was ein Leben eben ausmacht, nichts davon ist geblieben. Es wird nicht einmal mehr schlechter, denn selbst das würde sich der Mann wünschen, es hätte endlich wieder Bewegung in dieses triste Leben gebracht.
Jeden Morgen nachdem der Mann aufgewacht ist, richtet sich sein Blick auf die Decke des Schlafzimmers. Dort ist das Bild seines Lebens, es breitet sich über seinem Kopf aus – nichts als eine weiße Decke. Auf den ersten Blick keine Besonderheiten. Lediglich kleine unregel¬mäßige Erhebungen im Rauputz, die in ihrer Gesamtheit eine monotone Gleichheit formen. Eine in ihrer chaotischen Beschaffenheit vollkommene Fläche, wäre da nicht dieser große dunkle Riss, der sich über Gut ein Drittel der Zimmerdecke zieht. Wie lange ist dieser Riss schon da? War er vielleicht schon immer da und ist ihm früher nur nicht aufgefallen? Eigentlich egal, denn er ist vorhanden, dringt jeden Morgen in das Bewusstsein des Mannes, vergegenwärtigt diesem die Fragilität seiner Umgebung. Stört ihn der Riss? Nicht mehr als die hämisch grinsenden Träume, die in den Tiefen des dunklen Risses lauern.

Der Mann richtet sich langsam auf. Er ist alt. Er streckt die schlaffen Arme über seinen Kopf, hört das Knacken einiger nicht identifizierbarer Knochen. Sein Blick wandert neben sich, der zweite Akt der täglichen Routinevorstellung beginnt. Die andere Hälfte seines Bettes ist leer. Früher galt der erste Blick des Tages keinem maroden Mauerwerk, sondern den weißen Lacken, die seine Frau umspielten. Er konnte nicht anders, er wollte nicht anders, als in die träumenden Züge seiner Liebsten zu blicken. Damals gab es keinen Riss, der einen finster begrüßte oder zumindest spielte dieser damals keine Rolle. Er streichelte ihr sanft über die Wange, ein zärtlicher Morgendienst, der seine Frau schonend in die Wirklichkeit des angebrochenen Tages verhelfen sollte. Meist gelang ihm diese morgendliche Geste, lediglich in seltenen Fällen wachte seine Frau vor ihm auf, doch war sie dann liebevoll bemüht, weiterhin die Schlafende zu spielen, damit ihr Gatte die Freude des Weckens genießen konnte.
Er schüttelt sich noch einmal, verwahrt die alte Erinnerung tief in sich und richtet sich end-gültig auf. Der Tag hat begonnen und muss demnach angemessen begrüßt werden. Hygiene, weniger Selbstzweck als vielmehr gesellschaftliche Normerfüllung, treibt ihn in sein Bade-zimmer. Kaltes Wasser überströmt den blassen Körper. Die grauen Haare werden akkurat gescheitelt. Das stoppelige Kinn sorgfältig rasiert. Dabei ist es unvermeidlich, in den Spiegel zu blicken. Man sieht sich selbst, soviel ist bekannt, doch ist man wirklich diese Person mit dem gescheitelten Haar und dem frisch rasierten Kinn? Solche seltsamen Fragen stellt man sich gewöhnlich erst am Abend, wenn der Tag zur Neige geht. Der er alte Mann fragt sich an den Abenden etwas ganz Anderes.
Nachdem der Kaffee auf dem Tisch steht, lauscht der Alte in die Stille. Erst wenn er sicher ist, dass diese vollkommen ist, nimmt er sich eine seiner Zeitungen, die er täglich liest, zur Hand. Er möchte informiert sein. Regional und Überregional. Nicht um sich zu empören, das tut er schon lange nicht mehr. Er möchte nur wissen, was geschieht, vielleicht das entfernte Gefühl von Teilnahme verspüren. Als Letztes – der Kaffee ist schon lange leer getrunken – liest der alte Mann die Todesanzeigen. Kennt er jemanden? Und in welchem Jahrgang sind die ältesten Verstorbenen? Auch heute ist einer älter als er selbst. Das ärgert den Lesenden, denn so weiß er, dass er heute noch nicht an der Reihe ist. Also steht der Alte auf, zieht seine verbrauchten Schuhe an, streift den mottenstichigen Anorak über und macht sich auf den Weg zu seinem Lieblingsplatz.

Unerträglich positive Menschen pflegen das aufmunternde Sprichwort „man sei nur so alt, wie man sich fühlt“, wahrlich der pure Spott, denkt der Alte. Wie alt ist man, wenn man aufgehört hat, zu fühlen? Um zu fühlen bedarf es nicht viel, lediglich das konzentrierte Hineinhören in den inneren Mechanismus. Man lauscht. Es knirscht und rattert, vielleicht zwickt es auch gelegentlich, doch sonst ist es ausgesprochen still. In die Suche nach verlorenen gegangen Emotionen versunken, trifft der Alte nach einem kurzen Fußmarsch an seinem Lieblingsplatz ein. Es ist ein Klischee, dessen ist sich der Alte bewusst, denn wie die meisten einsamen Geister verbringt er den Tag auf einer Parkbank und blickt dem langsam vergehenden Tag stur entgegen. Die vom Alten angesteuerte Bank ist mit Abstand die Dienstälteste des ganzen Parks, was eine vertraute Leidensgenossenschaft zwischen den Beiden erzeugt. Die rituelle Begrüßung wird besiegelt durch den Gleichklang des knirschenden Körpers und den ebenso ächzenden Brettern der Bank, die den Vorgang des Sitzens mit leidvollem Gesang verkünden. Die Bank ist beinahe ganztägig von den umstehenden Bäumen beschattet, andere Sitzmöglichkeiten des Parks sind angenehm weit entfernt. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, das Treiben auf dem naheliegenden Spielplatz bestmöglich zu beobachten, ohne selbst allzu sehr wahrgenommen zu werden. Denn dies ist wohl der eigentliche Grund, der den Alten hier seit Jahren Platz nehmen lässt. Er kann sehen, zu welchem Glück Menschen, vorzugsweise junge Menschen, fähig sind. Er sieht die rasenden Kinder, sieht sie springen, lachen und gelegentlich auch weinen, sieht besorgte Mütter, entspannte Väter, – wenn diese auch für gewöhnlich nur am Wochenende in größerer Zahl zu sehen sind – er sieht das Leben. So verbringt er Tag für Tag. Er ist ein stiller Beobachter, lediglich wahrgenommen von den im Geäst sitzenden Vögeln.
Manchmal wird diese Harmonie unterbrochen. Wenn es regnet oder wenn der Spielplatz von der Stadt gesperrt ist. Dann bleiben dem Alten nur die Vögel und die Wolken am Himmel. In letzter Zeit muss man sich auch über die zunehmende Verschmutzung seiner Bank beklagen. Der eingetrocknete Vogelkot gehört ja noch irgendwie dazu, doch klebriger Kaugummi, Glasscherben, Zigarettenstummel und Verpackungsmaterial stören doch enorm. Er hat schon die Schuldigen ausgemacht, hegt einen begründeten Verdacht, doch würde er sich niemals trauen, die jugendlichen Verschmutzter anzusprechen. Er muss sich damit abfinden, dass er nur am Tage hier zu Hause ist, die Nacht gehört jemand anderem.
Es sind immer die gleichen Ärgernisse, die den Alten hier beschäftigen. In seltenen Fällen geschieht jedoch auch etwas Ungewöhnliches. So wie am heutigen Tag. Gerade als der Alte seine Augen schließen will, spürt er, wie die Bretter neben ihm knarren. Erschrocken fährt der Alte herum und blickt in das Gesicht einer jungen Mutter. „Entschuldigen sie bitte, ich hätte wohl um Erlaubnis fragen sollen, bevor ich hier einfach Platz nehme. Ich hoffe, ich habe sie nicht zu sehr erschrocken?“ Der alte Mann schüttelt ungläubig den Kopf und bringt kein Wort heraus. „Die unteren Bänke sind alle belegt und ich dachte mir, es würde meiner Kleinen guttun, wenn sie nicht ständig unmittelbar vor meinen Augen herumtanzen muss. Wissen Sie, ich bin erst hierhergezogen und da soll sie ruhig in Kontakt mit den anderen Kindern kommen und nicht ständig bei ihrer Mutter hängen. Aber ich merke ich rede schon wieder zu viel, lassen sie sich von mir nicht weiter stören.“
Wie lange ist es her, dass der alte Mann ein Gespräch geführt hat, ein richtiges Gespräch, ein hin und her von zusammenhängenden Sätzen. Nicht nur dieses ständige ‚Dankeschön‘ und ‚Auf Wiedersehen‘, das er beim Bäcker und im Supermarkt zu hören bekommt. Er erinnert sich, dass das letzte echte Gespräch zwischen ihm und dem Pfarrer stattfand. Er musste diesem jungen Burschen, der direkt von der Universität kommend in des Alten Stadtbezirk eingeteilt wurde, erzählen, was seine Frau für ein Mensch gewesen war. Worin ihre großen Leistungen bestanden hatten, ihre schmerzvollsten Niederlagen, sprich, ihr ganzes Leben ausbreiten. Das Resultat damals war eine trockene Predigt, die dem Alten mehr Schmerz bereitete, als sie ihm Trost spendete. Die genauen Phrasen oder Bibelzitate, die der Geistliche abgesondert hatte, sind lange verblasst, kein einziges Wort ist mehr greifbar, nur das Gefühl des Abschieds ist ihm von damals noch so präsent, wie wenn es gestern gewesen wäre. Seit diesem Tag hat er kein Gespräch mehr geführt. Sein Sohn wollte nichts von ihm wissen, andere Verwandtschaft war ebenso desinteressiert oder einfach nicht vorhanden.
„Wie heißt den ihr Kind?“ Zugegeben, ein schlichter erster Satz nach so vielen Jahren, doch immerhin berechtigt und keineswegs verwerflich. Die junge Frau blickt ein wenig irritiert zu ihm hinüber, scheinbar rechnete die Frau schon nicht mehr mit einem Wort aus dem Munde dieses seltsamen Mannes. „Luise ist ihr Name. Sehen Sie das kleine Mädchen mit dem oran-gefarbenen Strickjäckchen, das ist sie.“ Der Alte findet in dem bunten Treiben schnell das be¬sagte Mädchen und ist positiv überrascht, sie bereits im Spiel mit einem anderen Kind zu sehen. „Wie es scheint hat ihr Plan Erfolg und ihre Luise knüpft erste Kontakte“. Auch nicht schlecht für einen zweiten Satz, beinahe routiniert, vielleicht verlernt man Kommunizieren ebenso wenig wie das Fahrradfahren. „Ja, sie ist ein offenes Mädchen. Sie müssen wissen, mit knapp sechs Jahren sind wir schon zum zweiten Mal umgezogen. Ich hoffe wirklich, dass wir jetzt, da sie in die Schule kommt, ihr endlich ein wenig Konstanz bieten können.“ Der Alte nickt zustimmend und ist sich unschlüssig, ob er nun weiterfragen soll oder am besten einfach schweigt.
Die Entscheidung wird ihm abgenommen, da die junge Frau neben ihm einfach weiterspricht: „Ich heiße übrigens Doro, also eigentlich Dorothea, es freut mich, Sie kennen zu lernen.“ Sie streckt ihm ihre zierlichen Finger entgegen und wartet darauf, dass er ihre Hand ergreift und seinen Namen mitteilt. Der Alte umfasst zögerlich die fremde Hand und setzt dazu an, sich vorzustellen: „Es freut mich ebenso, mein Name ist…, ich heiße…“ Der Alte spürt wie Ströme seines Blutes in seinen Kopf schießen, er kann sich nicht erinnern. Erstens, wann er zu letzt vor Scham rot geworden ist und zweitens, wann er das letzte Mal seinen Namen ausgesprochen oder auch nur an ihn gedacht hatte. Gerade, als die irritierte Dorothea die Situation mit einem Lächeln auflockern möchte, steht der alte Mann auf und verlässt fluchtartig den Park.

Verschwitzt trifft der Alte Zuhause ein. Durch seinen Kopf rast nur ein Gedanke: Wer bin ich? Er weiß keine Antwort. Er sucht verzweifelt in seiner Wohnung nach Indizien für seine eigene Existenz. Er bekommt ein Bild in die Hand. Er erkennt seine Frau. Sie hieß Lore. Er schließt die Augen. Sein verlorener Sohn heißt Andreas. Der Pfarrer heißt Lenz. Spielende Kinder heißen Luise, fremde Frauen Dorothea und nennen sich selbst Doro. Doch wie heißt dieser Mann auf dem Bild. Der Alte hat eine Idee. Er greift nach seinem Geldbeutel und fummelt zitternd seinen Ausweis aus dem abgegriffenen Fach. Da steht es. Sein Name ist…

Der Alte liegt in seinem Bett. Sein aufgeregtes Herz beginnt sich endlich zu beruhigen. Die Ordnung ist wiederhergestellt. Endlich weiß er wieder, wer er ist. Wie konnte er das auch nur vergessen? Er grinst ein wenig über die peinliche Angelegenheit. Er löscht das Licht und liegt im Halbdunkel des vergehenden Tages. Erschrocken blickt der Alte noch einmal auf. Er ist erneut der Verzweiflung nahe. Denn seit wann befindet sich in seiner Schlafzimmerdecke ein Riss?

 

Hallo Johannes Bargeld,
ich bin Deiner Geschichte gefolgt, weil das ein zeitaktuelles Thema ist, was Du beschreibst. Die Vereinsamung alter Menschen, die nicht mehr in einer generationenübergreifenden Familie aufgehoben sind, sondern in sinnentleerten Alltagsstrukturen dahinleben. Die Details dieser Lebensphase triffst Du meiner Meinung nach zielsicher. Da ist alles drin, von seniler Bettflucht bis zur verlassenen Parkbank und schließlich zum Vergessen des Selbst. Ich bin da zu wenig kundig, ob man vor dem eigenen Namen nicht alles andere vergisst. Aber gut. Daran hängt auch die Pointe der Begegnung mit der jungen Frau. Also, inhaltlich kann ich die Geschichte gut mitgehen. Dann ist aber in der Erzählung der Pinsel schon manchmal recht breit, wenn es um allgemeine Feststellungen zum Alter geht. Das geht in der Perspektive schon weit von der Figur weg, ins Erklärende hinein in einem manchmal umständlichen Tonfall.
Hier zum Beispiel:

Unerträglich positive Menschen pflegen das aufmunternde Sprichwort „man sei nur so alt, wie man sich fühlt“,
Zugegeben, ein schlichter erster Satz nach so vielen Jahren, doch immerhin berechtigt und keineswegs verwerflich.
Hygiene, weniger Selbstzweck als vielmehr gesellschaftliche Normerfüllung,
Was mir dann noch von Anfang an im Weg liegt, ist eine Umständlichkeit in der Sprache. Dadurch ist die Szenerie so gestelzt und unwirklich, auch unentschlossen, ob sie jetzt ironisch, realistisch, distanziert oder wie auch immer sein soll. Das kulminiert für mich vor allem in der direkten Rede der Frau. Das klingt wie abgelesen und ist einfach kein realistischer Tonfall, der bei der Begegnungsszene sinnvoll wäre:
„Die unteren Bänke sind alle belegt und ich dachte mir, es würde meiner Kleinen guttun, wenn sie nicht ständig unmittelbar vor meinen Augen herumtanzen muss. Wissen Sie, ich bin erst hierhergezogen und da soll sie ruhig in Kontakt mit den anderen Kindern kommen und nicht ständig bei ihrer Mutter hängen. Aber ich merke ich rede schon wieder zu viel, lassen sie sich von mir nicht weiter stören.“
Exemplarisch ein Satz, den ich im ironischen Unterton nicht einordnen kann. Das ist für mich zu unentschieden, wie schon gesagt. Entweder soll es wirklich ironisch sein, dann aber konsequenter. Aber die Umstände, die geschildert werden, passen für mich nicht dazu. Und dann erscheint es mir eben sprachlich zu verquast, was bei einer klareren ironischen Linie wieder passen würde. Aber das will der Text ja nicht sein. Soweit ich es verstehe, steht das Vereinsamungsmotiv und der Umgang damit im Vordergrund, nicht eine ironische Brechung.
Er streckt die schlaffen Arme über seinen Kopf, hört das Knacken einiger nicht identifizierbarer Knochen. Sein Blick wandert neben sich, der zweite Akt der täglichen Routinevorstellung beginnt.
In der Summe kann ich also mit dem Inhalt etwas anfangen. Mich stören da auch die ausufernden erklärenden Passagen nicht so sehr, auch, wenn sie ein wenig künstlich wirken und die Intensität eines reinen Darstellens reduzieren. Sprachlich ist mir die Geschichte zu umständlich gestaltet, außer, sie wendet sich ganz eindeutig einer ironischen Richtung zu, was bei der Thematik aber wohl auf dünnes Eis führt.
Herzliche Grüße
rieger

 

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