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Lebenslauf
30. April
Jeden Tag pumpt das Herz mehrere Liter Blut durch den ganzen Körper, von A nach B, immer und immer wieder. Dies funktioniert aufgrund eines riesigen Netzwerks, das im menschlichen Körper stattfindet. Durch das gepumpte Blut können Gewebe und Organe mit lebenswichtigem Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden, ein Hochleistungsmotor, der das Überleben eines jeden Körpers sichert.
Während ich gerade renne, werden bei meinerHerzfrequenz von 170 Schlägen in der Minute eine Blutmenge von 30 Litern durch mein Herz gejagt. Mein Herzschlag ist nur erhöht, weil ich Ausdauersport betreibe, das Laufen, meine größte Leidenschaft. Im Ruhezustand eines Körpers schlägt das Herz etwa 90mal und pumpt 6 Liter Blut, bei Leistungssportlern ist die Blutmenge auf ein Dreifaches erhöht. Das liegt daran, dass das Herz eines Ausdauersportlers mit 500 g fast doppelt so schwer ist wie das eines normalen, durchschnittlichen Menschen, nicht größer als eine Faust. Ich laufe, um diesem Dasein in einem normalen, durchschnittlichen Leben zu entkommen, um mich frei, unaufhaltsam zu fühlen, dorthin laufen zu können, wo auch immer ich möchte.
Meine Schwester hat das Laufen ebenfalls geliebt, bis sie aus einem Netz von Schicksalsschlägen in den Rollstuhl gesetzt wurde. Damals hat sie verschlafen, den Bus verpasst, musste laufen, kam etwas später am Stadion vorbei, als üblich, und ein Splitter der Bombe traf sie genau zwischen zwei Wirbeln. Ihr Herz war stark genug, um die OP zu überleben, ihr Körper hatte perfekte Nährwerte, nur das Rückenmark musste nachgeben und ließ sie eine Woche später vom Bauchnabel abwärts nichts mehr spüren. Von einer auf die andere Sekunde änderte sich ihr Leben, ein Schlag, der ihr Wesen, das was sie ausmacht, vernichtete. Sie war nie wieder so wie zuvor.
Sie wurde ruhig, hörte auf zu essen. Irgendwann war sie nur noch 43 kg, auf 1,68 Meter. Ihr Gesicht war eingefallen, Tiefe, dunkle Augenringe, braune kleine Augen, aus denen jedes Licht erloschen war. Sie hatte immer ein Glitzern um die Pupille, ein goldener Ring, der die Linse umrahmte. Jetzt waren sie fast ganz schwarz, leblos.
Jeden Tag versuche ich auf irgendeine Weise zu ihr durchzudringen, ich rede mit ihr. Ich erzähle von meinem Tag, dem Essen, was es abends geben wird, oder auch nur von dem Wetter. Ganz selten, aber immerhin manchmal, glaube ich bei besonders witzigen Geschichten aus meinem Alltag ein Lächeln ihre Mundwinkel umspielen zu sehen. Dann bin ich glücklich, zumindest ein Stück weit, und ich hoffe, dass auch sie in diesen Momenten etwas Glück empfindet. Zumindest ein Stück weit.
Vor einem halben Jahr dachten wir, sie würde vielleicht irgendwann wieder laufen können. Irgendein Stoff eines Medikaments hat einen Nerv in ihrem Bein angeregt, was dazu führte, dass ihre Zehen unkontrolliert zuckten. Bevor die Ärzte das erkennen konnten, machten sie ihr Hoffnung, sie begannen sogar mit Übungen, die die Muskeln wiederaufbauen sollten. Sie wünschte es sich sehr, sie fing sogar wieder an zu beten. Das letzte Mal, dass wir uns an Gott gewandt hatten, war als Kleinkinder. Jeden Abend erzählten wir von unserem Tag, unseren Träumen und unsere Mutter sang uns danach noch ein Lied. Ab der sechsten Klasse wurde das aber immer unwichtiger, bis wir es irgendwann ganz aufhörten. Doch während sie zur Zeit der Hoffnung wieder anfing zu beten, schwor sie dem Glauben ab in der Zeit der Enttäuschung.
Jetzt glaubt sie nicht mehr und hofft nicht mehr. Eigentlich lebt sie nicht mehr. Aber ich bin am Leben und laufe, um dem normalen, durchschnittlichen Leben zu entkommen.Aber vielleicht laufe ich auch nur vor dem Tod davon.