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Lebenskampf
Ich sitze unter der alten Linde auf einem kleinen Hügel, nicht weit abgelegen von dem Dorf in dem ich aufgewachsen bin und noch immer lebe. Rings um mich herum sehe ich nur grüne Wiesen und Felder, hier und da ein einzelner Baum, die wie verloren in dieser grünen Weite erscheinen. Genauso verloren wie ich mich in diesem Moment fühle oder mich schon immer gefühlt habe. Ich weiß es nicht, will all diese negativen Gedanken aus mir verbannen, einfach nur dasitzen und dem Rauschen des Windes lauschen. Doch es gelingt mir nicht, immer wieder tauchen die Bilder von Peter in meinem Kopf auf. Ich versuche mich auf das zwitschern der Vögel zu konzentrieren, doch ich kann es nicht genießen. Vielmehr erscheint es mir schon nach kurzer Zeit als unglaublich lästig. Dichte Wolken ziehen über den Himmel, welcher sich nach und nach in ein tiefes dunkles grau verwandelt. Grau und unergründlich, wie Peters Augen.
Ich hatte das Abitur gerade abgeschlossen und war meinem tiefsten Wunsch gefolgt endlich aus dieser erdrückenden Enge des Dorflebens zu entfliehen. Nie hatte ich mich hier wohl gefühlt. Jeder Tag war ein Kampf gegen meine Eltern und meine Schulkameraden. Sobald ich Lesen konnte flüchtete ich mich in die Welt der Bücher, eine Welt die mir ganz andere Perspektiven und Werte aufzeigte, als die , die mir meine Eltern aufzuzwingen versuchten.
Meine Eltern waren Landwirte und verlangten von mir, sobald ich laufen konnte, auf dem Hof mitzuarbeiten. Vor beginn der Schule musste ich meinen Eltern beim melken der Kühe helfen. Für Hausaufgaben wurde mir wenig Zeit gelassen, es war klar, dass ich eine Tages den Hof übernehmen würde, was für meine Eltern hieß, dass ein Schulabschluss nach der achten Klasse genügen würde. Mein Vater war sehr Autoritär und duldete keine Wiederrede. Es war einfach nicht möglich mit ihm über meine Träume und Wünsche zu sprechen. Als ich ihm eines Tages von meinem Wunsch berichtete, mein Abitur zu machen und danach zu studieren, wurde er richtig aggressiv. „ Du bist in diese Familie hineingeboren und wirst diesen Hof weiterführen, ich werde dir ein Studium verbieten so wahr mir Gott helfe.“ Er schrie laut und Spuckefäden rannen ihm über das Kinn, sein Kopf war rot angelaufen. Mein Vater hatte mich nie geschlagen, doch jedes kleinste Wiederwort endete mit solch cholerischen Ausbrüchen. Meine Mutter war eine sehr schweigsame Person, sie schien als wäre sie nicht wirklich auf dieser Welt. Sie arbeitete hart und effektiv, doch sie erschien mir oft eher wie ein Roboter als ein Mensch. Meine Mutter hatte nie viel mit mir gesprochen und so hatte ich mich auch von ihr zurückgezogen. Geschwister hatte ich keine, ich wusste nicht warum und ich hatte nie gefragt.
Unser Hof lief zwar gut, doch wir wurden von der Dorfgemeinde gemieden. „Die Hubers das sind seltsame Menschen.“ hieß es. Meine Eltern waren zwar etwas Menschenscheu, aber warum niemand etwas mit ihnen, und auch mit mir zu tun haben wollte, fand ich nie heraus. Fleisch, Milch und Eier wurden von verschiedenen Firmen aus den umliegenden Dörfern abgeholt. Dies waren die einzigen Besucher die ich dort jemals erlebte. Aus unserem Dorf kam niemand. Verwandte hatten wir keine, meine Großeltern waren Tod, von weiteren Verwandten wusste ich nichts, es wurde nie darüber gesprochen.
In einem nahegelegenen kleinen Städtchen ging ich zur Schule. Vom ersten Schultag an wurde ich gemieden. „Das ist die seltsame Huber, komm der bloß nicht zu nah.“ hieß es. Es war nicht so das die Kinder so sprachen, es waren die Eltern die ihren Kindern dies verinnerlichten. So verlief meine Schulzeit ebenso isoliert und einsam, wie meine Kindheit.
Ich wurde nie gehänselt, ich wurde einfach gemieden. Meine Lehrer waren nett zu mir, doch auch sie verhielten sich distanziert. Ich hatte nichts anderes in meiner Kindheit gelernt und so war diese Einsamkeit für mich normal, ich vermisste nichts wirklich, denn ich kannte nichts anderes. So verspürte ich auch nicht den Drang etwas zu verändern. Ich las viel, ich verschlang jedes Buch das mir in die Finger kam. Eine meiner Lehrerinnen erkannte diese Leidenschaft und lieh mir ständig neue Bücher. Es entwickelte sich eine Art Freundschaft zwischen uns, etwas das ich vorher nie gekannt hatte. Wir sprachen über die Inhalte der verschiedensten Lektüren und lachten viel. Ich begann zu spüren dass das Leben mehr zu bieten hatte. Diese Lehrerin schaffte es, meinen Vater zu überreden, das Gymnasium besuchen zu dürfen. Durch den Schulwechsel verlor sich der Kontakt zu ihr und ich lebte wieder in meiner kleinen einsamen Welt. Ich wurde weiterhin von meinen Mitschülern gemieden. Während diese Freundschaften zum anderen Geschlecht aufbauten und erste sexuelle Erfahrungen machten, konnte ich diese nur durch die Welt der Bücher erleben. Ich bemerkte die Veränderungen an meinem Körper kaum, es war, als wäre das nicht wirklich ich.
Als ich das erste mal meine Tage bekam, war ich nicht schockiert, ich wusste aus Büchern was mit mir geschah. Ich bekam kein Taschengeld und mit meiner Mutter konnte ich nicht darüber reden, so benutzte ich Toilettenpapier als Schutz. Es machte mir nichts aus. Meine Kleidung war alt und abgetragen, wenn ich etwas neues brauchte nähte meine Mutter etwas für mich. Es war immer aus alten Stoffresten und diente lediglich dazu, der Jahreszeit entsprechend gekleidet zu sein. Die Blicke meiner Mitschüler waren nun oft abwertend auf meine sporadische Kleidung gerichtet. Ich begann mich deswegen zu schämen. Es war, als ob bei mir zu Hause die Welt stehen geblieben war, während sie sich sonst im rasenden Tempo drehte. Ich versuchte mir selber Kleidung zu nähen, doch es misslang, mir fehlten das Geschick und die Technik.
Mein Vater achtete streng darauf, das neben der Schule meine Arbeit auf dem Hof nicht nachließ. Vor der Schule musste ich melken, nach der Schule musste ich mich um die Tiere kümmern, das Feld düngen. Der Hof war nicht groß, doch für uns drei gab es immer viel zu tun. So lernte ich oft bis spät in die Nacht. Ich wollte das Abitur schaffen. Ich litt an chronischer Übermüdung, hatte keine Zeit über meine Einsamkeit nachzudenken.
Während andere in der Disco waren, Partys feierten über die neuste Mode redeten, war ich wie eingesperrt zwischen Hof und Abitur.
Die Mühe hatte sich gelohnt. Ich bestand mein Abitur mit einer glatten eins. Ich schwebte in einem absoluten Glückszustand. Ich begann zu Träumen, zum ersten Mal. Ich stellte mir mein zukünftiges Leben vor, weit weg von meinen Eltern. Doch das Glück währte nicht lange. Mein Vater wollte mich nun als volle Arbeitskraft für seinen Hof. Es war als würden zum ersten Mal nach Jahren der Einsamkeit und Entbehrung all meine Trauer und Wut aus mir herausbrechen. Ich schrie und weinte Tagelang. Ich war kaum mehr ansprechbar.
Da spürte ich zum ersten Mal so etwas wie Verständnis und Liebe meiner Eltern mir gegenüber. Sie würden mir ein Studium finanzieren unter der Vorraussetzung das ich Landwirtschaft studieren würde, und ich in den Semesterferien als volle Arbeitskraft zur Verfügung stände. Ich konnte mein Glück kaum fassen und bewarb mich in allen nur erdenklichen Städten für ein Studium der Landwirtschaft. Es ging mir nicht darum was ich studierte, sondern einfach nur um eine Flucht vor dieser immer bedrückenderen Enge.
Ich bekam viele zusagen, doch ich entschied mich für Frankfurt. Ich wollte die Luft der weiten Welt spüren, möglichst weit weg von meinen Eltern.
Ich bezog ein kleines Einzimmerappartement in einem Studentenwohnheim. Ich war aufgeregt doch ich genoss die Ruhe etwas ganz für mich alleine zu haben. Ich träumte von wilden Partys, heißen Männerbekanntschaften allem was ich nie gehabt hatte.
Vor dem ersten Studientag betrachtete ich mich besorgt im Spiegel. Meine Kleidung war unmodern und alt, meine Harre wirkten strähnig obwohl sie frisch gewaschen waren. Meine Haut war mit Pickeln übersäht. Zum ersten mal betrachtete ich mich so bewusst im Spiegel und schämte mich meines Aussehens. Ich wünschte ich wäre nie hergekommen, ich war mir sicher es würde sich doch nichts ändern.
Der erste Tag an der Universität war schrecklich. Keiner schenkte mir Beachtung, keiner redete mit mir. Es war zwar das was ich kannte, dennoch wuchs in mir ein Knoten aus Enttäuschung und Trauer. Ich hatte mir so sehr eine Veränderung gewünscht. Während meine Kommilitonen erste Kontakte knüpften, stand ich außen vor, es war als wäre ich für sie unsichtbar. In den Pausen stand ich alleine in der Ecke, nichts hatte sich verändert, nur der Ort. Ich fühlte mich einsamer als je zuvor.
Die Zeit verging und ich hatte schon alle Hoffnungen aufgegeben jemals Glücklich zu sein. Ich lernte viel für mein Studium um mich von der Einsamkeit, die mir mehr und mehr schmerzte, abzulenken.
Ich stand wieder alleine in einer Ecke des Universitätsgeländes und tat so als würde ich in einem Buch Lesen doch ich sah genau, das ein junger Mann auf mich zukam. Ich schaute verkrampft auf mein Buch, ich hatte mittlerweile richtig Angst vor Menschlichen Kontakten.
Der junge Mann blieb direkt vor mir stehen und sagte „Hallo“. Ich schaute von meinem Buch auf und merkte, wie ich im selben Moment rot anlief. Es war das erste Mal in meinem Leben, das mich überhaupt ein Mensch einfach so ansprach. Aber es war nicht nur das, ich fand ihn unglaublich attraktiv er hatte wunderschöne graue Augen, seine Haare lagen perfekt und mit der Kleidung hätte er aus einem Modekatalog entsprungen sein können. Ich wusste beim besten Willen nicht was er von mir wollte. Ich konnte nichts sagen, alles in meinem Kopf rauschte. „Ich habe schon oft gesehen das du hier alleine rumstehst. Da habe ich mich gefragt so ein hübsches Mädchen ganz allein? Na ja und da wollte ich dich halt zum Kaffee einladen.“ Ich konnte nur nicken. Ich konnte es einfach nicht fassen, das ich von so einem hübschen Mann angesprochen wurde. Was fand so einer bloß an mir? Wir setzten uns in ein Cafe` und unterhielten uns. Das heißt er unterhielt mich, ich war kaum in der Lage ein Wort Rauszubringen. Er hieß Peter und Studierte im 3. Semester BWL. Nach dem Kaffee begleitete er mich nach Hause und fragte ob wir uns am nächsten Tag wiedersehen würden. Ich sagte zu.
Ich konnte den ganzen Abend an nichts anderes mehr denken als an Peter. Ich war mir ganz sicher alles würde sich von nun an zum guten wenden. Wir trafen uns auch am nächsten Tag und an den darauffolgenden. Da ich es nicht gewohnt war viel zu sprechen, war ich recht Wortkarg doch es schien Peter nicht zu stören, er war ein wunderbarer Erzähler. Ich fühlte mich wie in einem Märchen. Ich hatte mich richtig verliebt und Peter schien auch mehr zu wollen.
Nachdem wir uns ungefähr eine Woche kannten lud er mich zu sich nach Hause ein. Ich war ganz aufgeregt, was würde mich erwarten. Ich versuchte mich schick zu machen mit dem was ich besaß, doch ich war mir sicher, das für Peter mehr als nur mein äußeres zählte. Kurze Zeit später stand ich mit klopfendem Herzen vor seiner Tür. Auch er bewohnte ein kleines Appartement in einem Studentenwohnheim. Als er die Tür öffnete, lächelte er so herzlich das mir ganz warm wurde. Das weiche Licht einiger Kerzen gaben dem Zimmer eine gemütliche Athmosphäre. Leise, sanfte Musik spielte im Hintergrund. Nervös setzte ich mich auf sein Bett,es war die einzige Sitzgelegenheit im Raum. Ich lächelte unsicher, was hatte er vor wollte er mich verführen? Ich bemerkte dass meine Hände zitterten. Peter setzte sich neben mich, streichelte meine Wange und sagte dass sie ganz rot wären. Ich versuchte zu lächeln, doch es wurde eher eine Grimasse. Ich fühlte mich unglaublich unsicher auf der anderen Seite hatte ich das Bedürfnis alles zu tun was er wollte. Er begann sanft die Stelle meiner Wange zu küssen die er zuvor berührt hatte, dann küsste er meinen Mund ich spürte seine Zunge. Ich bebte, mein erster Kuss. Während er mich küsste knöpfte er mir langsam die Bluse auf, ich trug nichts darunter, hatte noch nie einen BH besessen. Sanft streichelte er meine Brüste. Ich ließ alles mit mir geschehen, es war so schön. Er zog mir die Schuhe, dann die Hose aus, ich fühlte mich unglaublich begehrt. Ehe ich mich versah war ich vollständig nackt, ich spürte keine Hemmungen hatte das Gefühl, Jahrelang nur auf Peter gewartet zu haben. Ich fühlte seine Kleidung auf meiner nackten Haut, er war noch vollständig bekleidet.
Plötzlich ging die Deckenbeleuchtung an, das grelle Licht blendete mich. Ich hörte Gelächter, das klicken eines Fotoapparates. Als ich wieder klar sehen konnte sah ich drei Jungen und ein Mädchen die lachten, ich sah Peter an, auch er lachte. Ich sagte kein Wort fühlte mich zutiefst beschmutzt. Es war mir unglaublich peinlich. So schnell es ging versuchte ich mich anzuziehen. Immer wieder hörte ich das klicken des Fotoapparates, das Lachen. Jemand ließ das Wort „Wette“ fallen. Mit geöffneter Bluse und gesenktem Blick stürzte ich an den Leuten vorbei. Es war der reinste Albtraum, nie zuvor in meinem einsamen Dasein hatte ich mich so alleine gefühlt.
Nun sitze ich hier unter der Linde. Ich hab Frankfurt sofort am Tag danach verlassen. Meine Eltern haben sich gefreut mich wieder als Arbeitskraft zu haben. Ich bin Einsam wie zuvor.Aber jetzt habe ich diese tiefe Wunde in mir, die mich nie mehr an das gute im Menschen glauben lässt, die auch nicht zu einer Narbe verheilen wird. Es hat zu regnen begonnen, ich habe das Gefühl der Himmel würde um mich weinen, es gibt mir ein wärmendes Gefühl, doch das reicht nicht. Ich hole den Strick aus meiner Tasche und klettere den Baum hinauf. Geschickt knote ich ihn um einen Ast der fest genug sein wird. Ich schaue mich ein letztes mal um, von hier oben sieht alles so klein und unbedeutend aus, wie mein Leben. Ich mach eine Schlaufe am Ende des Seils, alles ist genau errechnet. Die Schlaufe legt sich wie von selbst um meinen Hals. Es ist vorbei, ich springe.