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Lebenshauch
Der Garten war alt. Seine Bäume hatten schon viele Jahreswechsel in ihren dicken Stämmen verewigt und nahmen senil und verkorkt kaum noch etwas von der Welt um sie herum wahr. Still lag die Luft über diesem kleinen, vergessenen Ort der Erde, denn eine hohe Mauer aus glatten runden Steinen umrundete ihn vollständig. Der Zahn der Zeit hatte am Mörtel zwischen diesen genagt und an einer Stelle sogar einige der menschkopfgroßen Brocken herausgelöst. Ein kleines enges Loch hatte sich so in dem ansonsten unüberwindlich scheinenden Wall gebildet, der weiter nur noch von einem mit braunem Rost überzogenen und mit seltsamen phantastischen Figuren verzierten Gittertor unterbrochen wurde. Laute Geräusche kannte man in dieser Welt des Schweigens nicht. Das Rascheln einer Maus in trockenem Laub oder das Zwitschern einer einsamen Amsel. Vielleicht ein verhaltenes Knirschen morschen Holzes. Trotz allem aber war die einnehmende Ruhe das bestimmende Element dieses Platzes.
Sanft strich ein plötzlicher Lufthauch über verwitterte Lettern. Efeu rankte sich über den Grabstein, welcher seinen Platz unter einer knorrigen Pappel einnahm. Nur noch der erste Teil der darauf gravierten Inschrift war zu erkennen: - Ruhe in Gottes Armen, liebster... -, „... Daniel.“, vollendete eine flüsternde Stimme den Satz. Eine schimmernde, kaum sichtbare menschliche Gestalt stand neben dieser mit Unkraut bewachsenen letzten Ruhestätte. Die Frau, um welche es sich hierbei handelte, hatte die Hände auf dem Bauch gefaltet und war in Gedanken versunken. Ihr Spiegelbild zeichnete sich auf der Pupille eines struppigen Eichhörnchens ab, das, auf einem nahen Ast kauernd, alles genau beobachtete. Seine Barthärchen bewegten sich dabei erregt auf und nieder.
Laura hatte den Moment ihres Dahinscheidens fast schon vergessen geglaubt. Ein strahlendes Licht und dann das Erwachen in einer neuen Form von Existenz. Sie war allein gestorben. Weiß und starr hatte ihr toter Körper im Bett gelegen und sie konnte nur auf ihr eigenes unbelebtes Antlitz herabblicken. Anfangs wähnte sie sich in einem Traum. Ihre Hand wollte damals über eine bleiche Wange streifen, fuhr dann aber nur widerstandslos hindurch. Alles war still geworden und sie schritt einfach davon, ein von schmerzvollen Erinnerungen erfülltes Leben zurücklassend. Ins Vergessen forttreibend.
Nun war sie hier. An seinem Grab. Ein längerer Moment der Erkenntnis inmitten einer glatten See aus grauem Nichtsein, der nicht von Dauer sein sollte. „Denn nur unsere Liebe war und ist es.“ Die Stimme umfing Lara wie eine alte Geliebte und strich über ihren zarten durchscheinenden Körper. Er war es gewesen, der sie der Leere entrissen hatte. Für einen Augenblick. Um wieder sie selbst zu sein.
Ein Brise wirbelte ihre langen silberfarbenen Haare durcheinander und bauschte das ätherisch-weiße Kleid auf, welches an ihrem Körper herabfloss. - Schaudern. - Eine Hand verflocht sich mit der ihrigen und ließ sie in sein Antlitz mit den darin funkelnden traurig-schönen Ebenholzaugen blicken. Worte waren nicht mehr von Belang. Selbst ihrer beider wache Existenz auf dieser Welt schien unwichtig und entschwand langsam, aber unwiederbringlich. Laura und Daniel flogen aufeinander zu und versanken in einer tiefen Umarmung. Ein süßer Kuss verschmolz die Lippen der beiden Liebenden, wie auch zwei Hälften einer Seele endlich wieder eins wurden. Das Glück schien unendlich und ein Leuchten, der Atem Gottes, trug das unauslöschbar Ewigliche hinfort.
Irgendwo, auf einem wohlbekannten Ast, umfasste das Eichhörnchen die Nuss, welche es die ganze Zeit zwischen seinen kleinen Pfoten gehalten hatte, noch etwas fester und schlug nun seine Schneidezähne voll frisch erwachten Heißhungers in die feste Schale, danach bestrebt, an das köstliche Innere zu gelangen. Es sollte schließlich noch besser schmecken als erwartet.