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Lebensgeflüster

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25.06.2002
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Lebensgeflüster

Oft scheue ich mich davor am Abend in mein Bett zu steigen. Zu groß ist die Angst davor, mich nicht gegen diese grausamen Gedanken wehren zu können, die mich immer dann befallen, wenn ich im Schutze der Dunkelheit zur Ruhe komme. Es sind Gedanken, die sich voller Wonne und doch mit erdrückender Stärke in mein Inneres bohren, Gedanken, die stets wie dichter Nebel an einem lauen Frühlingsmorgen um mich herum lungern, auf den Augenblick wartend, an dem ich ihnen nur schwer entgehen kann, an dem ich vor ihrem leisen Flüstern nicht mehr meine Ohren verschließen kann.
Wie schrecklich die Vorstellung dieser Gedanken. Unbeeindruckt führen sie mir ein Trauerspiel vor, und immer entdecke ich mich in dessen Hauptrolle wieder, leidend, an mir selbst erstickend, hilflos. Den Tod könnte ich nicht verkraften, eher meinen eigenen als jenen meiner Liebsten. Wie oft versperrt mir mein eigenes Leben doch die feste Gewissheit, dass ich ohne sie nicht leben könnte, dass die Rebe meines Daseins ohne sie niemals gereift wäre, ohne meine Eltern, ohne meine geliebten Freunde. Wie sehr lebe ich allzu oft in der Überzeugung, dass ich stark genug sei, um allein die Welt zu bewältigen. Wie kläglich vergesse ich die Kraft, die ich erst durch Andere erkenne, definiere, aufnehme und in meinem kleinen Kosmos zum Ausdruck bringen kann. Es ist wohl das Schicksal des Menschen, sich erst in Gedanken an den Tod dieser Bedeutung seiner Mitmenschen bewusst zu werden, ihre Liebe dann zu schätzen, wenn man bei dem Versuch ohne sie zu leben jämmerlich scheitert. Es mag paradox sein, doch wenn ich des Abends diesen Augenblick des Gedankens erhasche, merke ich erst, dass ich lebe. Zwischen Realität und Trauer liegt das Leben. Warm umhüllen mich die leisen Worte, von höherer Gestalt, denen ich mein ganzes Wesen preisgebe. Sie dringen in mich hinein, wohlwollend – ich liebe sie. Ich liebe mich. Ich liebe meine Liebsten. Sanft wiegt mich meine eigene Liebe in den Schlaf, in der Hoffnung, dass mich die Gedanken auch im Leben und nicht nur in Todesreflexionen begleiten mögen. Doch am Morgen wache ich auf, lieblos, kalt. So viel zu geben. Und ich sehne mich den ganzen Tagen mit jeder Pore meines Wesens nach dem Augenblick des Glücks. Ich möchte leben. Lieben. Liebe schenken.
Mich scheut es oft davor, am Abend in mein Bett zu steigen.

 

Hallo Werther!

Eine nette kleine Geschichte, wunderbar bildlich beschrieben und gut vorstellbar. Hat mir gefallen.

Auch den Schlusssatz, der inhaltlich auf den ersten zurückgreift, finde ich schön.

Weiter so!

Viele Grüße, Michael

 

Hallo Werther,

gerne schließe ich mich mit meiner Kritik Michael und Claudius an.
Dein Satz: „sich erst in Gedanken an den Tod dieser Bedeutung seiner Mitmenschen bewußt zu werden“ erinnert mich an das Motto -Lebe jeden Tag bewußt, es könnte Dein letzter Tag sein- .
Mit „zwischen Realität und Trauer liegt das Leben“ stimme ich nicht überein, Trauer ist doch ein Teil der (Lebens-) Realität.

Tschüß ... Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,

danke für Deine wieder einmal konstruktive Kritik. Du magst auch in gewisser Weise Recht haben, aber in "Lebensgeflüster" umfasst der Begriff 'Trauer' lediglich den Gedanken an den Tod und nicht die konkrete, gezwungene Auseinandersetzung damit. Lediglich die Vorstellung der Trauer löst somit das Gefühl des Lebendigseins, des eigentlichen Lebens hervor. Und diese Gedanken geschehen bei vollem Bewusstsein, also in der Realität.
Wenn man die ursprüngliche Definition des Begriffs nimmt, stimme ich Dir volll und ganz zu, dass die Trauer ein unabdingbarer Bestandteil unseres aktiven Daseins ist.

Liebe Grüße,
Werther

 

Hallo Werther,

mit Deiner Erklärung kann ich schon leben. Trotzdem habe ich mir eine kleine Spielerei ausgedacht. Setzt man in den von mir aufgegriffenen Satz für -Trauer- Deine Erklärung ein, ergibt sich folgendes: „zwischen Realität und `der Realität des Bewußtseins des Lebendigseins (ausgelöst durch Trauer)´, liegt das Leben.“
Wolltest Du das sagen?

Tschüß... Siegbert

 

Hallo Woltochinon!

Ja, das trifft das Ganze schon ziemlich gut. Vielleicht noch: "zwischen Realität und realem Bewusstsein des Lebendigseins durch die Ausmalung eines Endens seines eigenen Lebenselexils, liegt das Leben."

Liebe Grüße,
Werther

 

Hallo Leser,

es ist im Moment bei mir so, dass ich mir unglaublich viele Gedanken über den Tod mache. Ich setze mich offensiv und bewusst damit auseinander, wobei mir die Kurzgeschichten sehr behilflich sind. Sie dienen mir dazu, jenes irgendwie zu verpacken, zu verarbeiten, womit ich im Alltag einfach nichz fertig zu werden scheine. So setze ich mich zumeist nachts an den PC, zünde mir eine Kerze an, lege eine traurige Platte auf und schreibe -sehr oft tränenreich- einfach runter, was mir durch den Kopf geht. So entstehen meine Geschichten, zumindest jene, die eine Art Gedankenflut sind. Unglaublich wichtig sind mir daher v.a. "Begegnung mit der Wahrheit" und "Lebensgeflüster", in denen ich sehr viel preisgebe.

Liebe Grüße,
Werther

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Werther !

Du fürchtest dich vor den Gedanken welche die nachts umfangen. Siehst sie die Nebelschwaden, immer anwesend, versuchst sie zu ignorieren, siehst doch nach ob sie noch da sind. Die Wonne geht von dir aus – warum ?

Du beschreibst deine Stärke, die dich manchmal die Kraft vergessen lässt, welche von Seiten der Familie, der Freunde auf dich einströmt. Und das ist der Moment der mich aufhorchen lässt, denn diese Menschen die dir Kraft geben – wo sind sie denn in deiner Not?

Du erwachst, es ist kalt. Deine Liebe scheint nirgends ankommen zu können. Auch tagsüber möchtest du lieben und geben – wo sind sie da?
Dann kommt sie wieder die Nacht – wieder ohne die Liebsten findet sie statt. Du schreibst von einer Nacht des Alleinseins vor der du dich fürchtest, erwartungsvoll.

Denn genau in dem Traurigsein spürst du dich, lässt zu nicht mehr stark sein zu müssen, kannst du dich fallen lassen. Und genau in dieser Zeit, wenn die Angst um den Verlust deiner Liebsten spürbar wird, wo du vielleicht bereits um einen von ihnen trauerst, da endlich erfährst du die Liebe die sie dir den ganzen Tag vorenthalten haben. Die Sehnsucht nach ihnen gibt dir das Gefühl ihre Liebe ist zu dir gekommen.

Kann das sein?

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Du hast von dir aus, in einer Extrafußnote auf eine innere Ausnahmesituation hingewiesen, und damit einen Zugang geschaffen. Du hast über deine Tränen im Kerzenlicht geschrieben, wodurch immer sie hervorgerufen werden. Du hast dich über dein Traurigsein geöffnet.Ich will mit meinen Worten die Menschen deines Umfelds nicht angreifen oder ihnen Unrecht tun in meiner Fremdheit, versteh das bitte nicht falsch. Aber manche Fragen drängen sich förmlich auf, erscheinen unausweichlich.

Alles Gute für dich und lieben Gruß - schnee.eule

 

Hallo schnee.eule!

Ich kann mich ein zweites Mal nur vor Dir verbeugen und Dir ganz herzlich "danke" sagen. Deine Antwort zeugt von unheimlich großer Sensibilität und regt mich förmlich zu Gedankenfluten an. Ich verspreche Dir diese Fluten zu kanalisieren und mich bei Dir zu melden, sobald sie in ein sicheres Meer geflossen sind. Und dort wird sicher sein: Sie wurden angehaucht von einer sehr interessanten Person.

Liebe Grüße,
Werther

 

Ich habe etwas sehr Passendes zu diesem Thema gefunden, was meiner Meinung nach sehr schön auszudrücken vermag, in welchem Verhältnis Liebe und Tod zueinander stehen. Es stammt aus Epiktets "Handbüchlein der Moral", erschienen im Diogenes-Verlag:

Was liebst du eigentlich

Bei allem, was dich erfreut, was dir nützt und deine Liebe besitzt, sage dir stets, was es eigentlich ist.
Beginne bei dem Geringfügigsten. Liebst du ein Glas, so sage dir: Ich liebe ein Glas. Zerbricht es, wirst du dich nicht aufregen. Liebst du dein Kind oder deine Frau, so sage dir: Ich liebe einen Menschen. Stirbt er, so wirst du nicht aus der Fassung geraten.

Nachdenkliche Grüße,
Werther

 

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