Lebensgefühl (Das Konzert)
Wir recken unsere Hände in den Himmel und beten den Augenblick an. Den Moment auf den wir alle gewartet haben und der uns die Flucht aus der Realität ermöglicht. Um nichts anderes geht es an diesem Abend. Wir wollen den Alltag hinter uns lassen, der uns mit seiner Oberflächigkeit und den darauf lebenden Menschen an unsere Grenzen treibt. Es überfordert unseren Verstand, wie sich die Gesellschaft selbst manipuliert. Ein dunkler Kreislauf, über den sich die Manipulierten selbst erbosen. So naiv sind sie, dass sie nicht einmal merken, dass sie sich ihre eigene Welt verdrehen. Doch auch diese Gedanken sollen uns fremd sein und bleiben, denn im Mittelpunkt stehen wir. Eine Masse aus schwitzenden Körpern, die sich in Vorfreude badet, darauf wartend, dass es weiter geht.
Ich bin ein Teil dieser Masse, aber es irritiert mich nicht und es macht mir auch nichts aus, einer unter vielen zu sein, denn hier ist es anders, anders als auf Dorffesten oder in Einkaufszentren, denn hier sind wir frei.
Ich blicke mich um, beobachte die vielen Gesichter, jedes anders und jeder Verstand dahinter ebenso individuell. Neben mir steht eine Frau, deren langes schwarzes Haar, feucht von ihrem Schweiß, wie Wasser an ihr herunterläuft. Ihre Augen sind schwarz umrandet und aus diesen dunklen Höhlen stechen zwei blaue Lichter hervor. Sie sehen mich an und ich entdecke ihre freie Seele und auch in meinen Augen sieht sie etwas, denn ein Lächeln umspielt ihren Mund, bevor sie sich wieder nach vorne wendet, um nicht den Anfang zu verpassen.
Vor mir steht eine weitere Frau. Anders vom aussehen, anders vom Geruch und doch ist sie kein fremdes Objekt, was nicht hier hereinpasst. Sie sticht aus der Masse heraus, denn sie trägt ein weißes Top und hochgesteckte, blondierte Haare und doch gehört sie dazu, weil sie aus dem gleich Grund da ist, weil sie so denkt wie wir.
Ich drehe mich herum und stoße meinen linken Ellbogen dabei in die Seite eines Mannes, der sich gerade eine Zigarette anzündet, die nun glühend zu Boden fällt. Er hat einen vollen, roten Bart. Seine langen, ebenso roten Haare, vermögen nicht die große Tätowierung zu verdecken, die sich von seinem Nacken über den ganzen rechten Arm zieht. Er hat etwas dunkles an sich, etwas böses. Sein Gesicht verkommt zu einer ironischen Maske und er haut mir dabei auf die Schulter. Sei sowieso schlecht für die Gesundheit sagt er und geht zu Theke, um sich ein Bier zu holen.
Plötzlich wird es still und alle Lichter dunkeln ab, so dass man einen kurzen Augenblick lang mit sich allein ist. Ein Knistern wird den Boxen entlockt und dann geht es los. Wir fliehen in eine Ekstase, die uns niemand und nichts geben kann. Wir sind frei. Jetzt!
Saiten erklingen, eine Zyster spielt ihr charakteristisches Lied. Dann schlägt eine große Trommel ihren Rhythmus und die Stimme von Klaus Kinski vibriert über die Membranen der Lautsprecher, liest Villon. Das Intro läuft und wird von vielen Pfiffen und Schreien begleitet.
Mögen eure Lästerzungen schmoren, heißt es. Die Ansage kommt: Meine Damen. Meine Herren. Der Rest geht unter...
Es wird laut unter uns. Es wird laut auf der Bühne, denn die Band erscheint vollzählig unter den gleißenden Scheinwerfern. Der Sänger wirft einen Blick ins Publikum, schreit uns an, fordert uns heraus. Er weiß; sie wissen, dass wir fliehen wollen und sie ermutigen uns zu diesem Schritt. Führen uns. Wir folgen.
Rhythmus. Sticks schlagen auf ein Becken. Die Begleitung setzt ein. Gitarren, Bass und die Stimme des Sängers erhebt sich wie ein Schleier über uns; fängt uns ein. Ein dunkles, raues Timbre, dass trotz seiner Rohheit kaum an Anmut übertroffen werden kann. Es sind nicht nur Wörter, die über seine Lippen kommen. Es ist ein Bekenntnis, ein Versprechen und eine Klage zugleich. Und in jedem von uns bewirken sie etwas anderes, etwas sonderbares, denn trotz aller Hingabe zur Musik, beginnt unser Verstand zu arbeiten.
-Wenn die Nacht für uns gemacht
Dunkle Schleier schickt
Wenn keine Liebe schlafend liegt
Der Zeiger weiterrückt
Wenn Leidenschaft mich besiegt
Das Feuer entfacht
Wird mein Herz
Von dir getrieben-
Wir denken an die Liebe. Wir denken an das Leben. An Vergangenes und an das, was sein wird. Gedanken, getrieben von einer rohen Sanftheit, treiben in dem grünen Licht der Bühne. Unsere Augen haften auf den Musikanten unsere Ohren hängen an ihren Instrumenten, doch unser Geist bleibt bei uns.
-Ich komm zu dir wenn alles schläft
Ich komm zu dir nur in der Nacht
Ich warte dass die Sonne untergeht
Und beug mich zitternd deiner Macht-
Meine Gedanken bewegen sich aus dem Kollektiv heraus. Ich denke an die Dinge, nach denen ich mich verzehre. Nach denen ich mich richte und welche die Erfüllung meines Lebens darstellen. Melancholie zieht durch mich hindurch und ich sehe in den Augen der anderen, dass auch sie ihren Gedanken nachhängen. Andere, aber doch so gleich.
Ich warte auf den Chorus. Die Zeilen die ich aus vollen Halse mitschreien möchte, um meinem Frust freien Lauf zu lassen, um mein Glück in die Freiheit den anderen mitzuteilen und um die Zukunft anzurufen, sie möchte mir das geben, wonach ich mich sehne.
-Still die Gier, die Gier in mir
Halt mich fest
Still die Gier, die Gier in mir
Erhöre mich
Es leuchten die Sterne
Am weiten Himmelszelt
Für dich und mich
Bis die Nacht zerfällt-
Schweiß läuft an mir herunter und rote Lichter blenden mich, während sich der letzte Rest von mir befreit. Ich habe Durst, meine Beine schmerzen und in meinen Ohren liegt ein leises Pfeifen. Der Bass schlägt auf meine Brust. Der Dudelsack lässt mein Trommelfell vibrieren und in jedem anderen Moment würde ich die Flucht ergreifen, doch nicht hier, hier liegt die Erfüllung.
-Wenn der Atem lusterfüllt
Die Lippen brennen
Wenn dies Licht uns erhellt
Wirst du erkennen
Das Herzensglut Ketten sprengt
Die Qual verfällt
Wir verglühen
Es wird Zeit-
Ich stelle mir vor, wie ich bekomme, was ich will und ein Gefühl reines Glücks durchströmt mich. Mein Kopf wippt auf und ab, meine Beine katapultieren mich hinauf in die Luft und das Geschrei der Menge bringt mich auf eine neue Ebene. Eine Ebene, in der nicht einmal mehr meine Gedanken eine Rolle spielen, sondern nur das Gefühl am Leben zu sein.
-Ich komm zu dir wenn alles schläft
Ich komm zu dir nur in der Nacht
Ich warte dass die Sonne untergeht
Und beug mich zitternd deiner Macht-
Noch einmal erhebe ich meine Stimme, lasse sie mit denen der anderen mitschwingen und leere meinen Geist. Es existiert nur noch die Musik, die Lichter und ich; wir.
Tief sauge ich mir die feuchte und heiße Luft in die Lunge...
-Still die Gier, die Gier in mir
Halt mich fest
Still die Gier, die Gier in mir
Erhöre mich
Es leuchten die Sterne
Am weiten Himmelszelt
Für dich und mich
Bis die Nacht zerfällt-
Das Licht erlöscht. Beifall erklingt.
Es ist noch nicht vorbei. Es hat gerade erst begonnen und ich schweife ab, versinke in meinen Gefühlen, in unseren Gefühlen...