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Leben
Sein Atem ging keuchend und mit jedem Stoß wirbelte er wie kleine weiße Wölkchen durch die Luft. „Verdammt, warum habe ich die Scheißlauferei schon wieder so lange schleifen lassen“ schoss es ihm durch den Kopf. Es war jedes Jahr dasselbe Spiel. Am Jahresanfang war die Motivation riesig, flaute dann immer mehr ab, denn er hatte ja besseres zu tun, als im Frühling und Sommer mit der Lauferei weiterzumachen wo doch die Biergärten und kurzen Kleider seine Aufmerksamkeit viel eher brauchten. Und pünktlich mit den ersten fallenden Blättern und den sinkenden Temperaturen packte es ihn wieder. Die Runde um den See lief er diese Woche schon zum dritten Mal und er merkte, dass seine Muskeln nicht alles vergessen hatten, was er mal erreicht hatte. „Macht schon Spaß irgendwie“ dachte er halb lachend und schraubte das Tempo noch ein bisschen nach oben. Es war windig und die Blätter wirbelten um ihn herum als würden sie einer unbekannten Melodie folgen. Seine Schritte wurden noch schneller, der Wind schlängelte sich um seine nackten Beine und er begann die Entscheidung zu bereuen, ganz manly man der er war, die kurzen Hosen angezogen zu haben.
Egal, jetzt gab es kein Zurück und er musste sich die notwendige Wärme selbst erarbeiten. Sein Atem wurde immer schneller und er spürte seinen Herzschlag nicht nur in der Brust sondern auch als leisen Hall in seinen Ohren, als Kribbeln auf seiner Haut und als dumpfer Beat in seinem Kopf. Er sprintete am See entlang als wäre er Usain Bolt auf dem Weg zu einem neuen Weltrekord. Die Laternen, die den Weg säumten, tauchten die Dunkelheit immer wieder in honigwarme Flecken und er begann die Sekunden zu zählen, die er von einer Honiginsel zur nächsten brauchte. „16, 17 und… geschafft“. Wie eine Nähmaschine bewegten sich seine Beine und angespornt von der Messbarkeit seiner Schnelligkeit legte er noch einen Zahn zu. Seinen Blick starr nach vorne gerichtet rannte er weiter und die Zahlen in seinem Kopf flogen dahin.
Doch zu seiner Überraschung schob sich etwas anderes als das warme Licht in seine Trance. Vor ihm lief jemand. Er wurde instinktiv langsamer, auch wenn er nicht recht wusste wieso. Gehörte es sich so, dass man am Abend, in der Dunkelheit, das Tempo drosselte, wenn man an jemanden vorbei lief? Er schüttelte kaum merklich den Kopf und seine schwarzen Haare, die gerade lang genug waren um sich dabei zu bewegen, fielen ihm leicht ins Gesicht. Mit einer energischen Geste wischte er sie weg. Immer näher kam er der Person, die da vor ihm lief und er begann die Informationen, die ihm seine Augen ans Gehirn funkten, zu verarbeiten. Es war eindeutig eine Frau, die da in der Dunkelheit ihres Weges ging. Sie trug einen langen schwarzen Rock, der kurz über dem Boden endete. Darüber trug sie einen schwarzen Kapuzenpull, der irgendwie unförmig wirkte und ihr einen schwer definierbaren Oberkörper bescherte. Sie war groß und schien sehr kräftig zu sein. „Kräftig ist so eine komische Bezeichnung für dicke Menschen… als ob sie stark wären oder so…“ quatschte sein rhetorisch bewandertes Ich durch seine Informationsaufnahme. Mit jedem Schritt trabte er näher an die Frau heran, die keine Anstalten machte, sich umzudrehen, wie man es ja oft macht, wenn man im Dunkeln irgendwo langläuft und hinter sich ein Geräusch vernimmt. Er war jetzt bis auf 5 Meter an die Frau heran gelaufen und bemerkte nun auch den Grund für das augenscheinliche Desinteresse an Selbstschutz dieser. Undefinierbarer Lärm schallerte aus den Kopfhörern die sie trug und wohl alles andere abschirmten. „Wie ein Kokon aus Musik“ grätschte wieder seine innere Stimme dazwischen. Noch 2 oder 3 große Schritte und er war auf Augenhöhe mit ihr. Aus irgendeinem Grund beschleunigte er fast unmerklich wieder und räusperte sich, auch wenn klar war, dass sie nichts davon mitbekommen würde. Dann war der Moment da: An einem Montagabend, irgendwann zwischen sieben und acht Uhr abends, waren er und diese fremde Frau, die eine fast greifbare und merkwürdige Ausstrahlung hatte, am fast exakt gleichen Ort.
Sie hatte ihn nun auch bemerkt, denn ein kaum merkliches Zusammenzucken rollte durch ihren Körper. Unwillkürlich hob sie den Kopf und schaute nach links, dort wo er nun war anstatt der Dunkelheit. Auch er hatte den Kopf gewandt, nach rechts natürlich und ihre Augen trafen sich für einen Moment, der eine gewisse Ewigkeit in sich hatte. Was er sah, erschreckte ihn. Es war nicht das Gesicht, welches ein wenig zu weich wirkte und scheinbar keinen Hauch Make-up trug. Auch nicht die Haare, die lieblos und irgendwie zu kurz um dieses Gesicht fielen. Genauso wenig der Mund, dessen Lippen zusammengepresst eine harte Einheit bildeten. Nein, was ihn erschreckte waren die Augen dieser Frau. Diese Augen, die ihn da im Schein einer Honiglampe ansahen waren ein wenig zu groß um als attraktive Rehaugen durchzugehen und hatten eine Schwärze in sich, die er so noch nicht gesehen hatte. Keine farbliche Schwärze, sondern ein Gefühl. „Als ob Traurigkeit und Verzweiflung ein Kind gemacht hätten“ probierte sein rhetorisches Ich diesem Gefühl einen Namen zu geben. Nun war er an der Reihe damit, ein Zittern durch seinen Körper zu spüren. Seine Beine jedoch interpretierten dies als Zeichen zur Flucht und tackerten wieder schneller in den Boden. „Schnell weg hier“ warnte sein Instinkt und er gehorchte.
Nach ein paar Metern wandte er den Kopf noch einmal schnell um und sah, dass die Frau ihn anscheinend schon wieder vergessen hatte, denn mit gesenktem Kopf und leicht hängenden Schultern lief sie stoisch weiter. Irgendwas in ihm begann sich zu rühren und an ihm zu ziehen… seine Schritte wurden erneut langsamer und etwas in seiner Brust probierte sich den Weg zu seinem Bewusstsein freizuschaufeln. Er konnte noch nicht genau den Finger darauf legen, was gerade in ihm abging, doch wirklich wehren gegen die körperliche Konsequenz des Langsamerwerdens schien unmöglich. „Mitleid nennt man das, mein Lieber“ assistierte seine innere Stimme. Nun waren seine Schritte lediglich noch vom Tempo eines schnellen Wandersmann und er überlegte fieberhaft, was er mit diesem Gefühl in seiner Brust anfangen sollte. „Warum zur Hölle habe ich Mitleid mit dieser Frau… weder kenne ich sie noch habe ich wirklich das Bedürfnis sie kennenzulernen. Oder doch? Was ist Mitleid überhaupt? Meine Fresse, was soll das da??“. Fragen über Fragen schossen ihm durch den Kopf. Erstaunt stellte er fest, dass er mittlerweile zum Stillstand gekommen war und nun schwer atmend, mit den Händen in die Hüften gestützt, mitten im Weg stand. Die Frau, die ihn irgendwie an eine wikingerwalkürenartige Comicfigur erinnerte, kam ihm immer näher. „Der Weg ist breit genug, sie wird einfach an dir vorbei gehen und gut ist“ beruhigte ihn sein Inneres. „Mensch, ich habe ja auch keine Angst oder sowas“ meldete sich nun auch mal Herr Rationalität zu Wort. „Darum geht es ja auch nicht.. vielleicht braucht sie unsere Hilfe“ vermeldete das Mitleid. „Haltet doch einfach alle mal den Mund“ raunte er kaum hörbar zu sich selbst. Die Frau war nun fast an seiner Seite und er sah im Schein der Laterne, dass es in diesen schwarzen Augen glitzerte. „Sie weint“ vermeldet Kapitän Offensichtlich. Und damit ist die Entscheidung für ihn klar. Aus irgendeinem Grund ist er heute genau zu dieser Zeit an diesem Ort und begegnet dieser Frau. Als sie auf seiner Höhe ist streckt er vorsichtig den Arm aus und berührt sie leicht und beinahe unmerklich am Arm. Fast panisch blickt sie auf und ihm geradewegs erneut in die Augen. Der Blick, die Schwärze wird nun zusätzlich gefärbt von Verwirrung und Panik. Schnell zieht er die Hand zurück und hält beide Handflächen leicht nach oben. „Gut gemacht, schön zeigen dass du harmlos bist“ brummelt der Instinkt aus dem Unterbewusstsein. Die Frau hat sich etwas gefasst und streift mit einer Hand einen der Kopfhörer von ihrem Ohr. Die Situation ist aufgeladen mit Erwartungen und er schluckt einmal hart einen imaginären Kloß in seinem Hals herunter. Dann räuspert er sich und seine Worte schneiden durch die kalte Herbstluft: „Hallo“. Eine weitere Facette findet den Weg in die Augen der Frau – Verwirrung. „Hallo“ sagt sie zurück und ihre Stimme klingt angenehm tief, aber dennoch weiblich. „Ähm… also, ich wollte fragen, wieviel Uhr es ist“.
Ernsthaft? Etwas Besseres fällt ihm nicht ein? Die Frau zieht ihre buschigen Augenbrauen nach oben und wirft einen fragenden Blick auf seine Armbanduhr, die passenderweise in der Dunkelheit leuchtet. Dennoch zieht sie ein Handy aus der Tiefe ihre Kapuzenweste und wirft einen Blick darauf. „Es ist 19.42 h“.
„Danke…“ murmelt er und die Frau stopft das Handy zurück dahin wo es hergekommen ist.
„Bitte. Bis dann“ sind die nächsten Worte die die Stille durchbrechen und sie will ihren Weg fortsetzen.
„Halt… warte“ bricht es aus ihm heraus und die Frau wendet sich ihm erneut zu. Wieder hat die Schwärze diese Augen in festem Griff und er muss sich aktiv davon losreißen bevor er die entscheidenden Worte rausquetscht:
„Geht es dir, also Ihnen, also… geht es dir gut?“. In der folgenden Sekunde, die sich auf eine gefühlte Stunde ausdehnt, kommt er sich vor wie in einem Kino, auf dessen Leinwand im Schnelldurchlauf die menschlichen Emotionen durchlaufen. Nur dass hier und heute die schwarzen Augen der Frau die Leinwand sind. Von Überraschung, Ärger, Wut, Verzweiflung, Trauer, Zuneigung, Ehrlichkeit, Entschlossenheit und Angst ist alles mit dabei. Er hat keine Ahnung was er jetzt machen soll, ob er noch etwas sagen soll und überhaupt fühlt er sich einfach nur dämlich, überhaupt was zu dieser Frau gesagt zu haben, die augenscheinlich keinerlei Interesse an menschlicher Interaktion hat. „Die Zeit hat die komische Eigenschaft, sich zu dehnen wie Kaugummi in Situationen, die mal so richtig scheiße sind“ bemerkt seine innere Miss Neunmalklug. Doch bevor Missie ihn weiter mit klugen Sprüchen volltexten kann, scheint die Frau, die ihm gegenüber steht, zu einer Entscheidung gekommen zu sein, wie sie auf seinen verbalen Überraschungsangriff reagieren will. Sie schaut ihn an und die Schwärze ist nun nicht mehr definierbar für ihn.
„Nein“ flüstert sie. „Nein, es geht mir nicht gut“.
Er erstarrt, denn irgendwie hat er mit dieser Antwort nicht gerechnet. Was eigentlich total Banane ist, war es doch genau dieses Wissen, dass es dieser Frau nicht gut gehen konnte, was ihn überhaupt initial berührt hatte. Unsicher stehen sie sich gegenüber, beide unfähig, noch irgendwas zu sagen, als hätten sie alle Worte auf dieser Welt verbraucht. Mit einem Mal übernimmt etwas Ursprüngliches in ihm, etwas, dass er auf keiner Party, keinem Date, keinem Moment in seinem Leben je so gespürt hat. Etwas, dass die Menschen zu Menschen macht und nicht zu Maschinen. Etwas, was ihm Hoffnung gibt, Hoffnung für sich, für diese Frau, für die Menschheit. Er greift nach der Hand der Frau, schließt seine eigene um diese und ist überrascht, als sein eigener Druck von ihr leicht erwidert wird. Wie ferngesteuert gehen sie zu einer nahestehenden Bank und setzen sich, die Hände fest ineinander verknotet. So vergehen Stunden, die auch Minuten sein können in denen er nichts hört als das Schlagen seines Herzens und das Rascheln der umhergetriebenen Blätter. Mit einem Mal bewegt sich die Hand, die er umklammert und entzieht sich sanft und überhaupt nicht falsch, seiner Berührung. Er blickt die Frau an, diese Frau mit der er gerade etwas geteilt hat, das über jede Körperlichkeit hinaus geht und stellt fest, dass die Schwärze nun von silbernen Fäden durchzogen ist. „Danke“ raunt sie ihm zu.
Sie stehen beide auf und ihre Wege trennen sich auf dieselbe unspektakuläre Art wie sie zusammengefunden haben. Er verfällt in einen schnellen Laufschritt und sie zieht sich die Kopfhörer wieder über die Ohren. Seine Schritte tragen ihn immer weiter fort von ihr, sein Atem wird schneller. Wer ihn sieht, wird äußerlich keinen Unterschied zu dem Mann von eben entdecken und doch ist alles anderes. Denn er ist jetzt ein Mann, der ein Leben gerettet hat. Ihr Leben. Sein Leben. Eins.