Was ist neu

Leben?

Mitglied
Beitritt
19.04.2003
Beiträge
33
Zuletzt bearbeitet:

Leben?

„Ich muss hier raus. ICH MUSS HIER RAUUUUS!“
Ihr stummer Schrei übertönte alle Gedanken, alles in ihrem Kopf.
Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
„Geht es Ihnen nicht gut? Ich verstehe, dass Sie schockiert sind. Es tut mir leid. Möchten Sie..., möchten Sie ein Beruhigungsmittel?“
Stumm schüttelte sie den Kopf.
„Ich... brauche frische Luft!“, flüsterte sie heiser und mit krächzender Stimme. Doch diesmal sagte sie es wenigstens wirklich.
Der Mann in weiß nickte mit dem Kopf und sagte: „Wenn Sie aus meinem Büro herausgehen, nehmen Sie die Treppe links und gehen bis ganz nach unten. Dort ist ein Personalausgang zu einem kleinen Park. Dort sind Sie ungestört. Oder soll ich Ihnen jemand mitschicken?“
Sie schüttelte den Kopf und erhob sich. Mit bleichem Gesicht und so, als wäre sie gar nicht hier, schloss sie die Tür hinter sich. Lauter Menschen gingen auf dem Flur herum.
Menschen in weiß. Oder Grün.
Oder ganz normale. Sie nahm sie nicht wahr.

Hinter der Tür, die sie gerade zugezogen hatte, schüttelte ein Mann um die vierzig traurig den Kopf. Er liebte seinen Beruf. Doch an Tagen wie heute und bei Fällen wie diesen wäre er liebend gerne nur ein Krabbenfänger.

Mittlerweile stand sie draußen. Unter einem Baum ließ sie die Sonne auf sich wirken. Es war ein wunderschöner Tag.
Frühling. Sie liebte den Frühling. Mit den Blumen. Und den Tieren.
Und der Mai-Sonne. Die Stimmung der Menschen war erfrischender, fröhlicher als im Winter. Als an dunklen Tagen.
Sie lächelte, als sie ein Eichhörnchen sah, das über die Wiese lief. Es bewegte sich, als würde es fliegen.
Als würde es um die ganze Erde herumfliegen können. Und in den Himmel.
Sie sackte in sich zusammen. Saß auf dem Boden.
Und schluchzte und lachte, mit Blick in den Himmel.
Sie schrie.
Schrie den Himmel an. Sie wollte, dass er zurückschrie.
Der Himmel sollte sie verdammt noch mal anschreien. Sie wollte sich mit dem Himmel streiten. Und gewinnen. Sie wollte wenigstens eine Chance haben, sich gegen den Himmel zu wehren.
Sie wollte doch noch nicht weg von hier.
Schrei! Himmel. Verdammter, verfluchter Scheißhimmel!
„Nun schrei doch endlich!“, schrie sie schluchzend. Und ihr Kopf sank auf ihre Knie. Sie zitterte. Wollte nicht weg.
„Will nicht weg. Will hier bl...eiben!“
Das Schluchzen übertönte ihre Stimme. Und sie ließ es zu.

Zwei Stunden später saß sie immer noch unter diesem Baum. Der Himmel war etwas dunkler geworden. Bald würde es dämmern. Die Tage sind noch nicht am längsten.
Sie starrte vor sich. Die Beine angewinkelt, die Arme darum geschlungen.
Die Tränen waren längst getrocknet. Sie fühlte eine schreckliche Stumpfheit in sich.
Und ihr Kopf pochte. Er tat weh.
Es wurde immer schlimmer.
Sie kannte das. Jeden Tag. An jedem verdammten Tag hatte sie dieses Pochen. Diese immer schrecklicher werdenden Schmerzen.
Langsam, mühsam stand sie auf. Ihre Gelenke waren steif.
‚Was kümmert mich das?’, dachte sie.
Mit schnellen Schritten ging sie wieder auf das große Gebäude zu und in die Tür hinein, aus der sie auch herausgekommen war.
Die Treppen hoch. Treppenlaufen. Das war merkwürdig schwierig geworden. Sie wollte nicht den Punkt erreichen, an dem sie es gar nicht mehr konnte.
Sie klopfte an die Tür des Büros. Des Büros vom weißen Mann.
„Ja bitte?“, tönte es aus dem Büro.
Sie trat ein.
„Hallo. Entschuldigen Sie. Wegen eben. Ich... ich konnte es nicht begreifen.“
Er lächelte sie an.
„Ist schon gut. Wollen Sie darüber reden? Das ist keine Nachricht, mit der man einfach so zurecht kommt.“
Sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber seinem.
„Nein. Eigentlich nicht. Ich weiß nicht, was es da zu bereden gibt. Ich habe nur noch ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie nicht gerade zu beschäftigt sind.“
Er nickte. „Fangen Sie an.“
Sie holte tief Luft. „Gut. Wissen Sie mit Sicherheit, dass ich in drei Monaten sterben werde? Ist eine Heilung vollkommen ausgeschlossen?“
„Es tut mir leid. Eine Heilung ist – ohne Wunder – vollkommen ausgeschlossen. Wissen Sie, der Tumor ist mittlerweile riesig. Im Anfangsstadium hätten wir noch operieren können. Das ging nicht mehr. Die Symptome wurden einfach zu spät erkannt. Eine Chemotherapie würden Sie auch nicht überleben. Das wäre normalerweise die einzig mögliche Chance. Aber Sie sind nicht stabil genug dafür. Und ich glaube, auch für eine Chemotherapie ist der Tumor schon zu groß.
Es ist zu erwarten, dass Sie eine solche Belastung nicht überleben würden.
Und ob Sie in drei Monaten sterben, kann niemand mit Sicherheit sagen. Ich sage Ihnen nur, was zu erwarten ist. Ich bin Mediziner.
Heutzutage kann man zwar sagen, dass jemand vermutlich stirbt. Und man kann auch sagen, wann jemand höchstwahrscheinlich sterben wird. Doch sicher ist das nicht. Es gibt Wunder. Ich habe schon so manche erlebt. Ich kenne jemanden, der hat vor zehn Jahren gesagt bekommen, dass er nur noch ein halbes Jahr hätte. Und er lebt immer noch. Wollen Sie sich einmal mit ihm treffen?“
Sie schüttelte stumm den Kopf.
„In Ordnung. Ich kann Sie zu nichts zwingen. Ich gebe Ihnen aber trotzdem einmal seine Telefonnummer.“
Er nahm einen Zettel und einen Stift und kritzelte eine Nummer und einen Namen auf den Zettel. Dann drückte er ihn in ihre Hand.
So etwas wollte sie doch gar nicht. Sie steckte den Zettel rasch ein.
Er sprach weiter: „Sie hatten noch eine Frage?“
„Eh. Ja. Können Sie es so einrichten, dass ich mit Hilfe von Medikamenten in den nächsten zwei Monaten schmerzfrei bin? Oder zumindest, dass ich nicht den Rest meines Lebens – wortwörtlich – unerträgliche Schmerzen habe. Und... ich möchte nicht im Krankenhaus bleiben.“
Er nickte. „Das ist selbstverständlich möglich. Das mit den Schmerzen kann ich Ihnen aber nicht garantieren. Sie können natürlich starke Schmerzmittel haben. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange diese noch wirken. Es tut mir leid. Ich kann da nichts voraussagen.“
„Okay. Das war es. Ich danke Ihnen.“
Sie stand auf und schüttelte seine Hand.
„Kein Problem!“ Er stand ebenfalls auf.
„Hören Sie, wenn Sie Hilfe brauchen. Sie können mich jederzeit erreichen. Ich bin nicht einer, der seinen Beruf bei Schichtwechsel ablegt. Ich kann Ihnen auch viele Menschen empfehlen, die Ihnen eventuell helfen könnten. Pfarrer, Therapeuten, andere Menschen, die einfach Ahnung haben davon... Haben Sie Familie?“
Sie nickte. „Danke. Sie haben mir wirklich geholfen.“
Damit löste sie ihre Hand und drehte sich um. Er sollte nicht sehen, dass ihr eine Träne über die Wange lief.
„Auf Wiedersehen!“, rief er ihr nach.
Sie schloss die Tür hinter sich.
Sie hatte ihr Auto nicht dabei.
Sie zitterte unentwegt. Eine Krankenschwester auf dem Gang sprach sie an: „Was ist denn, junge Frau? Ist alles in Ordnung?“
Sie konnte und wollte jetzt mit niemandem reden.
Sie startete einen Versuch, die Schwester anzulächeln. Ihr Versuch gelang fast.
Dann ging sie weiter.
Wieder die Treppen herunter. Treppen.
Plötzlich hasste sie Treppen. Früher war sie einmal sehr gut im Sport gewesen. Sehr gut.
Der Tumor aber sorgte dafür, dass sie manchmal ihre Beine nicht mehr fühlte. Oder es war einfach nur schwer, sich zu bewegen.
‚Die anderen wissen gar nicht, was sie an ihren Beinen haben. Und was sie davon haben, sich einfach nur bewegen zu können’, dachte sie verbittert und zwang sich Stufe pro Stufe die Treppe herunter. Es gab einen Aufzug. In jedem Krankenhaus gibt es einen Aufzug. Hier gab es sogar mehrere.
Aber sie musste diese Treppen schaffen.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Es war so schön, zu leben. Einfach nur zu leben.
Ein plötzlicher Druck ging von ihrem Kopf aus. Sie schwankte.
Ein wenig in Panik hielt sie sich am Treppengeländer fest.
Ihr ganzer Körper schüttelte sich. Tief atmend zwang sie sich dazu, ruhig zu warten bis der Anfall vorüber war. Der Schmerz, der Druck.
Sie brauchte dringend Schmerzmittel.

5 Minuten lang musste sie so dort stehen bleiben.
Es ging jetzt wieder. Ja, jetzt war es wieder in Ordnung.
Schwach lief sie nach draußen. Einfach herum. Durch die Straßen und Gassen.
In der Ferne sah sie eine Bushaltestelle.


Sie tanzte. Sie ließ alles aus sich heraus. Tanzen macht Spaß. Tanzen ist befreiend.
Augen geschlossen, die Arme und Beine frei herumschwingend bewegte sie sich zu dem Rhythmus. Die Musik war laut, das Licht grell, aber es gefiel ihr.
Sie war jung. Sie hatte nur noch drei Monate zu leben.
Da lässt man schon mal ‚die Sau raus’, wie ihre Mutter es sagen würde.
Aber sie wollte jetzt nicht an ihre Mutter denken.
Ihre Mutter wusste von dem Arzttermin. Sie würde sich vermutlich Sorgen machen.
Aber daran wollte sie jetzt auch nicht denken.
Momentan wollte sie an gar nichts denken. Und sie dachte auch an gar nichts.
Sie musste ihre verbleibende Zeit irgendwie besonders gestalten. Etwas besonderes machen. Es ausnutzen...
Drei Monate. Das war das Zauberwort.
Nein. Jetzt dachte sie schon wieder.
„Wieso kann ein Mensch nicht mal eine Minute lang ganz komplett ohne Gedanken sein?“, murmelte sie vor sich hin, immer noch die Augen geschlossen.
Plötzlich hielt sie inne. Sie hatte Durst.
Sie hatte Durst nach Bacardi-Kirsch. Und nach Spaß.
Und nach Flirten und Lieben und Träumen.
Aber nicht nach Sterben.
Sie sog die stickige Luft tief ein und ging zur Theke.
Mit ihrem Getränk setzte sie sich in eine Ecke und schaute den übrigen Menschen beim ausgelassenen Tanzen zu.
Ob die es wohl alle kannten? Das Geheimnis des Lebens?
Sie wusste plötzlich, was es war.
Das Geheimnis des Lebens.
Das Leben kann einfach so vorbei gehen. Es geschehen Wunder, keiner versteht sie. Es geschehen tragische Ereignisse. Keiner versteht es.
Aber es gibt auch nichts zu verstehen.
Das Leben kann schön und gut weitergehen. Es kann plötzlich vorbei sein. Es kann sogar vorbei sein, ohne dass man stirbt.
Es gibt kein Geheimnis des Lebens.
Das Leben selbst ist das Geheimnis. Und keiner kann es je verstehen.
Sie fühlte sich gut. Mit dieser neuen Erkenntnis fühlte sie sich plötzlich gut.
Na ja, vielleicht lag das auch am Alkohol und an den Schmerzmitteln, aber hauptsächlich, dass sie etwas wusste, was viele andere nicht wussten.
Sie fühlte sich weiser und reifer als andere.
Ihren Bacardi stellte sie neben sich auf den Boden und erhob sich. Es war ganz leicht. Man musste nur daran glauben.
Sie ging auf die Tanzfläche und tanzte weiter.
Wieder kullerten stumme Tränen an ihren Wangenknochen herab. Sie könnte jetzt nicht erklären, warum. Einfach so. Auf jeden Fall war es diesmal befreiender, zu weinen.
Sie wusste, sie wollte ihr Leben nutzen. Zumindest das, was noch davon übrig war.

Jemand tippte ihr auf die Schulter.
„Entschuldigung. Ich habe Sie beobachtet. Und ich würde gerne wissen, warum Sie jetzt weinen? Eben haben sie doch so glücklich ausgesehen.“
Es war ein Mann. Er sah aus, als ob er nett wäre.
Sie lächelte. Und ein paar einzelne Tränen lösten sich von ihren Augen.
„Ich werde sterben!“, sagte sie mit klarer Stimme.
„Und jetzt will ich tanzen!“

 

Große Themen bekommen von mir immer einen Pluspunkt. Ich mag´s wenn´s gleich´s um den Sinn des Lebens oder so geht. Mich interessieren ja immer die Theorien anderer. Außerdem ist der Text für meinen Geschmack gut geschrieben, besonders die Stellen wo es wie aus der Pistole geschossen kurze Sätze hagelt. Ich mag es auch, wenn man versucht die augenblickliche Stimmung in einer kleinen Geschichte einzufangen und zwischen den Zeilen etwas vom Autor zu entdecken. So gesehen gefällt es mir zwischen Deinen Zeilen sehr gut. Wie gefällt es Dir zwischen den Zeilen meiner "New Frontier" Geschichte auch aus der Alltags Kategorie?

Nur der letzte Absatz mit dem Mann geht mir auf den Sack. Mußte das sein? Soll der zur Selbsberuhigung und zum "Alles-wird-besser Tenor" gut sein oder wozu? Vielleicht verstehe ich den auch nur nicht.

gib mir mehr

 

Hallo Fliegenbein!

Mir hat Dein Text gut gefallen. Du lässt den LEser ja lange in der Unsicherheit - gut! Mit dem bleiben wollen hast Du mich zuerst auch in eine falsche Richtung gelockt. Sehr gut finde ich die Stellen, wo die Prot allein bei dem Baum sitzt und einach nur ihre Gefühle frei lässt, hast Du durch Satzbau und Zusammenstellung sehr gut gemacht, find ich.

"Eichhörnchen sah, dass über die Wiese lief" - das

Sie holte tief Luft. „Gut. Wissen Sie mit Sicherheit, dass ich in drei Monaten sterben werde? Ist eine Heilung VOLLKOMMEN ausgeschlossen?“
- ich würde das VOLLKOMMEN wohl eher kursiv schreiben, so hebt es sich ermaßen hervor, dass es den Lesefluss eher stört...

"Und ob Sie in 3 Monaten sterben" Die Zahlen könntest Du noch ausschreiben

"Es gab einen Aufzug. In jedem Krankenhaus gibt es einen Aufzug. Hier gab es sogar mehrere.
Aber sie musste diese Treppen schaffen.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Es war so schön, zu leben" - sehr gut!

Ich werde sterben!“, sagte sie mit klarer Stimme.„Und jetzt will ich tanzen!“
- mir haben diese beiden Schlusssätze sehr gut gefallen, im Gegensatz zu Peter. Jeder nach seinem Geschmack. Der restliche Absatz ist allerdings auch für mich ein bisschen zuu...harmonisch. Muss der denn unbedingt gutaussehend sein ;) ?

schöne Grüße
Anne

 

Dankeschön ihr zwei.
Eure Kritik hat mich etwas stolz gemacht :)
Die Fehler habe ich verbessert.
Den letzten Abschnitt habe ich nur insofern umgeändert, dass jetzt dort steht, dass der Kerl nett ist. Und nicht guttaussehend *g*
Ihr habt Recht. Ist etwas zu harmonisch. Zu dick aufgetragen. Klischeehaft. Es gibt nicht nur gutaussehende, die in solchen Momenten auftauchen.
Den letzten Satz jedoch lasse ich. Der gefällt mir selbst gut.

Mit dem bleiben wollen hast Du mich zuerst auch in eine falsche Richtung gelockt.

Darf ich fragen in welche? Das würde mich interessieren. Ich dachte, das wäre offensichtlich, dass sie auf der Erde bleiben wollte. Hm. :)

 

Achja. Peter.
Deine Geschichte werde ich noch lesen. Das notier ich mir. Hab im Moment keine Zeit leider.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom