Leben vor dem Tod
Sie hatten Albert am Kopierer überredet mit ihm in diese Bar zu gehen. Albert hatte „Nein“ gedacht, nichts gesagt, was dann von Berny und Otto als Ja gewertet wurde. Die Einladung, wenn man es überhaupt Einladung nennen konnte, war so überraschend gekommen, dass er einfach keine Antwort dagegen parat hatte. Natürlich kam er sich dumm vor, dass er keine Ahnung dagegen parat hatte. Und ihm fiel Ottos generöse Art auf, wieder einmal. Warum fragte er ihn dauernd nach solchen Sachen? Es konnte ihm ja nicht wirklich etwas dran liegen. Vielleicht steckte er ja mit diesem Berny unter einer Decke. Und das dicke Ende kam immer. Das Leben war voll von dicken Enden. Aber Berny schien so harmlos. Gut, er steckte meist mit Otto zusammen, eigentlich immer, er und Otto waren schon fast so was wie siamesische Zwillinge. Aber eigentlich war Berny ja harmlos. Aber Stille Wasser, die sind tief, hatte auch seine Mutter immer gesagt, und er sich immer ein wenig gefürchtet.
Berny war sicher harmlos. Schließlich hatte er nie was anderes bemerkt. Berny war zuvorkommend, er sprach zwar nicht viel mit ihm, aber er war zuvorkommend. Und warum sollte er zuvorkommend sein, wenn er eigentlich schlechtes Spiel mit ihm plante. Was hätte er davon. Aber vielleicht war ja gerade das ihre Masche. Stille Wasser sind tief, hatte seine Mutter immer gesagt, und auch seine Großmutter, und immer wenn sie davon sprachen, hatte er schnell weggesehen, als ob er gar nicht zuhörte. Vielleicht war Berny ja harmlos, vielleicht war Otto auch harmlos, aber vielleicht waren sie es zusammen nicht, und warum wollten sie ihn eigentlich dabei? War es eigentlich das erste Mal? Eigentlich ja, wenn man die Betriebsfeiern abzählte, aber das zählte ja nicht, denn da war man ja zwangsweise zusammen. Also war es das erste Mal. Und warum eigentlich heute? Mitten in der Woche? Aber was machte das schon für einen Unterschied, die Frage war ohnehin – wieso überhaupt?
Ja, er hätte nein sagen sollen, zu so was sagte er doch immer Nein. Aber es war einfach zu überraschend gekommen. Hatten sie ihm die Überraschung vielleicht angesehen? Mit Sicherheit. Der Körper lügt nie, hatte er in seinen schlauen Büchern gelesen, und als er das gelesen hatte, war er zwar nicht überrascht, aber noch entmutigter gewesen. Vielleicht erzählten sie es ja rum. Klar, keine großen Storys, aber in Büros brauchte es keine großen Storys, um sich stundenlang darüber zu unterhalten. Sie würden darüber reden, soviel war klar. Sie würden sich das „Maul zerreißen“, noch so ein Lieblingsausdruck seiner Mutter. Warum hatte er diese Sprüche eigentlich alle da oben gespeichert, und warum flossen sie ständig aus ihm raus, auch wenn sie noch so unerwünscht waren?
Wem würden sie es wohl zuerst erzählen? Lisa? Nicht nur weil sie mit Berny gemeinsam im Büro saß, sondern weil er es Berny am ehesten zutraute, das er es ihr erzählte. Obwohl er es auch Otto zutraute, aber etwas weniger, und vielleicht lag er auch ganz falsch, und er vertraute Otto einfach nur zuviel. Lisa wäre so etwas natürlich willkommen. Lisa wartete nur auf solche Geschichten, wahrscheinlich würde man sie zu ihrer Pensionierung aus dem Büro zerren müssen. Nicht weil ihr die Arbeit soviel Spaß machte, sondern weil es dann keine Geschichten mehr für sie gab. Und schon gar nicht so lustige. Die man dann weitererzählen konnte. Vielleicht ihrer Kegelrunde, die bestand aus lauter Lisas, jede fröhlicher als die andere und je fröhlicher sie waren, desto begieriger waren sie auch auf Geschichten. Daran ernährten sie ihre Seelchen, hielten ihr Radar immer auf Empfang, und verpassten keinen Sturz. Aber wenn Berny es Lisa erzählte, dann konnte er es ja nicht ernst, und schon gar nicht freundschaftlich gemeint haben. Und wenn es Berny nicht freundschaftlich gemeint hatte, konnte es dann Otto so gemeint haben, obwohl er Otto mehr vertraute. Und wenn es Otto nicht so gemeint hatte, sollte und konnte man ihm dann eigentlich vertrauen?
Die letzte Kopie rutschte durch. Albert spürte seine Kleidung auf dem Körper. Kein Kratzen oder Kneifen, einfach nur den Stoff, und er spürte ihn überall. Sein Hemd schien plötzlich so weit, schien sich immer mehr aufzublähen wie tausend Nummern zu groß und hing nur mehr wie ein Fetzen an dürrem Geäst. Die Hosenbeine auch so unendlich weit. Das war kein gutes Zeichen. Er nahm die Kopien und ging zurück an seinen Platz. Auch der Nacken war verspannt, aber das fiel ihm schon gar nicht mehr auf.
Otto fuhr sie mit dem Auto durch die nächtliche Stadt. Albert saß hinten, denn Berny saß vorne. Ihm war es recht, dann hatte er nicht dauernd Bernys Blick im Nacken, der sich schon so schrecklich steif und hölzern anfühlte. Er würde Kopfschmerzen bekommen, das hatte er schon am Nachmittag bemerkt und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er würde Kopfschmerzen bekommen, soviel stand fest, und dann war echt Feierabend. Feierabend war ein blödes Wort.
Albert prüfte seine Hosen, sie waren immer noch weit, zu weit wie er feststellte, aber was sollte er jetzt dagegen machen? Er hätte die anderen Hosen anziehen sollen, eine von seinen Jeans, aber dazu war es jetzt wohl zu spät. Er wusste, dass die anderen es sehen würden. Natürlich würde keiner was sagen, sie würden ihn nicht einmal anstarren, aber das war reine Höflichkeit, die er immer weniger zu schätzen wusste. Früher hatte er sich noch dafür bedankt, aber jetzt hasste er sie, weil er sich dafür bedanken musste. Und was sollte er reden? Vor allem, was sollte er mit Berny reden. Wo er doch meistens mit Otto redete, und man sich gleich wieder fragen konnte, warum sie ihn überhaupt eingeladen hatten, wo es doch wahrscheinlich gar keine Einladung war. Es war eine Aufforderung, Befehl war vielleicht zuviel gesagt, aber Aufforderung kam hin. Und warum hatte er Ja zu dieser Aufforderung gesagt? Warum ließ er sich auffordern, ohne etwas dagegen zu sagen?
Sie würden dort bestimmt jemanden treffen. Vielleicht war es ja so was wie ihre Stammkneipe, und dann würden sie bestimmt jemanden treffen. Und was sollte er dann mit denen reden? Wo er doch nicht mal wusste, was er mit Berny und Otto reden sollte. Und natürlich würde es auffallen, dass er nicht mit ihnen redete, und sie würden wieder höflich zu ihm sein. So tun, als ob es ihnen nicht auffallen würde. Und er würde sie hassen dafür, und aufspringen und ihre höflichen Gesichter zu Brei schlagen wollen. Mit seinen dünnen Ärmchen in den riesigen, wehenden Ärmeln seines Hemdes. Es war blau. Und die Hose schwarz. Er war angezogen wie ein Idiot.
Vielleicht würden sie ja gar nicht freundlich sein, aber hassen würde er sie trotzdem. In letzter Zeit hasste er viele Menschen, und das war gut. Manchmal sagte er sich vor dem Einschlafen halblaut die Namen auf, die er hasste, und es waren meistens die gleichen, nur ab und zu kamen einige hinzu. Es dauerte immer länger die Liste abzuschließen.
Berny und Otto sprachen nicht miteinander, und wahrscheinlich wollten sie ihn damit auf die Probe stellen, wollten ausprobieren, wie lange es dauern würde, bis er etwas sagte. Und sie würden sich merken, wie lange es gedauert hatte, um es dann weiter zu erzählen, vielleicht an Lisa. Ein weiters Steinchen in ihrer Miniaturensammlung, schön eingeordnet und abgelegt. Der Stoff der Hosentasche brannte auf seinen Oberschenkeln, und so sehr er auch herumrückte, er bekam ihn nicht weg. Ob sie merkten, dass er so unruhig auf dem Sitz herumrutschte? Natürlich bemerkten sie es, ihre Antennen waren mit Sicherheit ausgefahren, ganz weit, denn heute abend brauchten sie sie schließlich.
Berny sagte etwas zu Otto, und Albert zuckte erschrocken zusammen. Er hatte nicht aufgepasst, war mit seinen Gedanken so weit weg gewesen, und hatte Bernys Kommentar überhört. Gleich würden sie ihn fragen, nach seiner Meinung und er würde keine Meinung haben, sondern halbseidene Ausreden erfinden, warum er keine Meinung habe. Und sie würden seine Ausrede akzeptieren, aber wissen, dass es eine Ausrede war, jedoch kein weiteres Wort darüber verlieren. Aber sie würden denken, sich ‚ihren Teil’ denken, über ihren so stummen Gast mit den viel zu großen Hosen und dem viel zu großen Hemd. Sie sparten die Gedanken auf, immer und immer wieder, wie Groschen im Gurkenglas, und irgendwann würde er kommen, der Tag an dem sie ihr Erspartes auf die Bank brachten.
Stop, wie oft hatte er sich das gesagt? Geholfen hatte es fast nie. Gute Kommentare von Menschen die kein Stop brauchten, daher auch nicht wussten, dass Stop nicht half, und je weniger sie wussten, dass es nicht half, desto überzeugter waren sie vom Gegenteil. Gute Kommentare gab es wie Sand am Meer, und sie waren wie der Sand am Meer - es war schön eine zeitlang darin zu spazieren, aber am Ende blieb doch nur das unangenehme Gefühl von tausenden kleinen Steinchen zurück, die einem unsanft in die Sohlen drückten.
„Da wären wir“, sagte Otto, und fuhr den Wagen gekonnt in eine Parklücke.
Albert zerrte an seinem Gürtel, der nie richtig zu sitzen schien. Mitte, links, rechts. Entweder er fühlte ihn gar nicht, oder so stark, dass er manchmal meinte, er würde ihm den Atem abschnüren. Heute abend war Atem abschnüren an der Reihe. Albert sah aus dem Seitenfenster und las das beleuchtete Schild über der großen Eingangstür. „Pub“ stand dort in großen, seltsam verschnörkelten Lettern geschrieben, und Albert wusste, dass er Pub hasste. Das Wort strahlte in seiner hinterhältigen Kürze bereits hinterhältige Freude aus, und hinterhältige Freude gab es genug in seiner Welt. Er hätte sich nie zu der ganzen Sache überreden lassen sollen. Hastig kramte Albert nach irgendeiner Strategie, irgendeiner Möglichkeit, wie er diesen Abend rumbekommen könnte, aber Otto stellte bereits den Motor ab, und je dringender er suchte, je überstürzter er die Fragen stellte, desto besser versteckten sich die Antworten.
Sie stiegen aus. Albert versuchte das Gefühl seiner Kleidung zu ignorieren. Das Hemd hing wie ein nasser Lappen vor seinem Bauch, es war um so vieles zu groß für seinen kleinen Körper. Die Beine juckten und er hatte plötzlich das Bedürfnis Millionen Schritte zu gehen, Milliarden Schritte, Billionen. Sitzen zu müssen, schien ihm plötzlich eine einzige Folter.
„Kennst du das Lokal“, wandte sich Berny an Albert.
Albert schaute ein wenig überrascht, weil er nicht gerechnet hatte, das Berny ihn ansprach, obwohl damit hätte rechnen müssen.
„Nein“, antwortete Albert kurz angebunden.
Wieder ein Groschen ins Gurkenglas. Einsilbig, nüchtern, dumm – wie würden sie ihn wohl nennen, wenn es darum ging ihre Sammlungen zu vergleichen? Sein Denken kramte nach mehr, nach einer echten Antwort, aber es hieß bloß, sein Netz durch fischleere Gewässer zu ziehen.
Als sie das Lokal betraten, und Albert andauernd das Gefühl hatte, mit den riesigen Stofffetzen, die an seinem Körper hingen, irgendwo an der Tür hängen zu bleiben, durchzuckte ihn plötzlich die glorreiche Idee, seine Strategie, die Antwort.
Alkohol.
Aber wie lange würde der Alkohol brauchen, um zu wirken? Und vor allem, was würde er in dieser Zeit, die sich in seinen Gedanken immer mehr zu dehnen schien, alles sagen und tun? Sagen und tun müssen. Und sie würden es ihm ansehen. Der Alkohol würde ihn verändern, und sie würden es bemerken, und nichts sagen, sondern wie immer wissend schweigen. Er würde dumme Dinge sagen, und es würde ihm nur nicht auffallen, dass er dumme Dinge sagte. Aber ihnen würde es auffallen, weil sie nie so betrunken sein konnten wie er, selbst wenn sie betrunken waren. Das Spiel würde von vorn beginnen, vielleicht war ja genau das ihr Spiel. Womöglich brauchten sie nur ein Gesprächsthema für ihre kurzen, unendlich langen Gesprächspausen.
Lisa war da, sie saß am Tresen und winkte ihnen zu. Zuerst konnte, dann wollte Albert es nicht glauben. Er hatte zwar daran gedacht, dass sie Lisa hier treffen könnten, dass es ausgemacht war, sich hier zu treffen, aber das war nachmittags gewesen. Er hatte danach einfach nicht mehr daran gedacht, diese Möglichkeit vergessen, und zu vergessen war tödlich. Nicht Lisa, war alles woran Albert denken konnte.
Er trottete hinter den anderen zum Tresen. Sie grüßten sich, Albert sagte kurz „Hallo“. Seine Stimme hatte zu hoch geklungen. Er hatte es gehört, seine übliche Zu-Hoch-Stimme, nicht viel schlimmer als sonst, aber auch nicht viel besser. Wahrscheinlich hatten sie nicht bemerkt, dass die Stimme zu hoch gewesen war, wegen all des Lärms ringsherum. Oder sie hatte gar nicht richtig gehört, was er gesagt hatte, weil er mit so hoher Stimme gesprochen hatte, und wenn sie ihn nicht gehört hatte, dann wusste sie, dass seine Stimme zu hoch gewesen war. Es lief ohnehin immer aufs Gleiche raus und Gewinner war er zum Schluss fast nie. Eigentlich gar nie.
Lisa lächelte freundlich. Aber freundliches Lächeln bedeutete in seiner Welt nicht viel, in einer Welt, in der auf tausend Masken ein Gesicht kam. Ihre Augen, ihr Blick schien sich durch seine Augen zu bohren, bis hinein in die hintersten Winkel seiner Gedanken. Blicke, die diese Winkel ausleuchteten, untersuchten, jeden noch so scheuen Gedanken ans Licht zerren wollten, wie van Helsing seine Vampire.
Lisa zeigte auf die junge Frau, die neben ihr saß und die Albert noch gar nicht bemerkt hatte, weil er so auf Lisa geachtet hatte, obwohl er die andere Frau bemerken hätte müssen. Sicherlich würde es ihnen aufgefallen sein, dass er sie noch nicht bemerkt hatte, und sie würden sich fragen, warum er sie nicht bemerkt hatte, wo sie doch keine Probleme damit hatten. Und sie würden wissen, dass er nicht aufgepasst hatte, dass seine Gedanken so weit weg waren, und sie würden sich fragen, warum sie so weit weg waren und warum das so oft vorkam. Und dann würden sie es sich merken, ein kleines Häkchen auf ihren Listen machen.
„Das ist Maria“, sagte Lisa. „Wir haben uns zufällig getroffen und ich dachte nimmst du sie mal mit, dann kann sie gleich mal die ‚netten’ Arbeitskollegen kennen lernen.“
„Sag mal, warum betonst du denn das ‚nett’ so komisch“, grinste Otto. „Wir sind doch immer nett.“
Alle lächelten vertraut, und Albert versuchte mitzulächeln. Dann gab er Maria die Hand. Den Namen sagen, den Namen sagen, den Namen sagen, ratterte die Stimme in seinem Kopf und klang dabei so aufgeschreckt, dass er Angst vor ihr bekam. Namen sagen, Namen sagen ... wie sagen ... locker ... Hallo, ich bin ... Hallo, ich heiße ... Mein Name ist ... zu förmlich, locker klingen lassen, locker klingen lassen, schrie die Stimme von rechts ... lässig klingen lassen, schrie die Stimme von links ... nicht zuviel, nicht zu wenig ...
„Albert“, sagte Albert kurz.
Er hatte seine Stimme nach unten gezwungen, zu tief nach unten, beinahe hätte er husten müssen, es aber gerade noch zurückhalten können. Den anderen war es sicher aufgefallen, dass er zu tief gesprochen hatte, und sie würden sich fragen, warum er zu tief gesprochen hatte, und obwohl er in diesem Moment nur Maria ansah, konnte er die Blicke der anderen drei auf sich spüren. Blicke, die sie untereinander austauschten, hinter lächelnden Fassaden versteckten, und die eigentlich keine Blicke, sondern ein stummes Grinsen waren. Grinsen über ihn, und das er so tief sprach, wo er doch sonst immer so hoch sprach, wenn er überhaupt einmal sprach. Und sprechen musste er. Sollte er noch etwas sagen. Maria, sah ihn noch immer an, nicht so durchdringend wie Lisa, aber nicht weit davon entfernt. Erwartete sie noch etwas? Bestimmt erwartete sie noch etwas, wahrscheinlich noch viel mehr und er hatte sich nichts überlegt, obwohl er sich etwas hätte überlegen müssen, aber er hatte zu wenig Zeit dafür gehabt, und die anderen würden merken, dass er sich nichts überlegt hatte, oder überhaupt, dass er es notwendig hatte, sich etwas zu überlegen, und dass er nichts sagen konnte, ohne es sich zu überlegen, oder dass er nicht fähig war, sich etwas zu überlegen, ohne es danach klingen zu lassen, dass er es sich überlegt hatte.
Er konnte seinen Körper spüren, wie er zusammenschrumpfte, dünner und immer dünner, die Kleidung, die immer weiter und weiter wurde. Die Ärmel seines Hemdes hingen wie Segeltücher von seinen Armen, die Hosenbeine schlackerten frei und ungehindert und nichts bot ihnen Widerstand.
„Setzen wir uns doch an einen Tisch“, sagte Lisa und alles stimmten zu, außer Albert, der gar nichts sagte, weil er noch immer überlegte, ob er bei Marias Begrüßung mehr hätte sagen sollen.
Maria und Lisa standen auf und nahmen dabei die Getränke, die sie schon zuvor bestellt hatten, mit. Getränke, rief ihm die Stimme in seinem Kopf zu. Was sollte er trinken? Was musste man trinken, was konnte man trinken? Gab es etwas, dass man auf keinen Fall trinken durfte? Tausend Regeln und warum fiel es ihm so schwer, sie zu lernen, wo er doch all die anderen unwichtigen Dinge so schnell begriff? Auf jeden Fall Alkohol, es musste auf jeden Fall Alkohol sein. Dasselbe wie die anderen, das war eine gute Lösung, dann konnte er nicht falsch liegen. Aber vielleicht würde es ihnen auffallen, dass er nur dasselbe bestellte wie die anderen, und dann würden sie wissen, dass er nicht für sich alleine bestellen konnte. Oder etwas ganz anderes nehmen, als die anderen. Auf jeden Fall etwas Alkoholisches. Aber vielleicht würden sie ihn dann fragen, warum er gerade das genommen hatte, und er würde keine Antwort parat haben, weil er nicht wusste, warum er es genommen hatte, und sie würden merken, dass er nicht wusste, warum er es genommen hatte.
Die kleine Gruppe setze sich in Bewegung, vorne die beiden Frauen, dahinter Otto und Berny und ganz hinten Albert. Der leichte Luftzug der Bewegung verstärkte das unangenehme Gefühl der Kleidung auf seiner Haut noch. Er spürte den Stoff, wie er auf allen Seiten seines Körpers herabhing und im Takt seiner Schritte hin und her schwang, und er beobachtet die Leute an den Tischen, an denen sie vorbeigingen. Ob sie ihn ansahen, ob sie es auch bemerkten. Aber sie sahen ihn nicht an, aber er hatte ständig das Gefühl, dass sie ihn, kurz bevor er sie ansah, auch noch angesehen hatten, und jetzt nur so taten, als ob sie ihn nie angesehen hätten. Jetzt widmeten sie sich vielleicht gerade ihren Getränken oder Gesprächspartnern, aber sobald er an ihnen vorbei war ...
Sie setzen sich an einen Tisch in der Ecke. Albert bekam den Stuhlplatz, die anderen vier setzten sich auf die Bänke, die den Tisch auf drei Seiten einrahmten. Albert fragte sich, ob sie das so wollten. Aber es hatte nicht nach Absicht ausgesehen, alle hatten sich einfach hingesetzt, und weil er der Letzte gewesen war, war nur mehr der Stuhl frei gewesen. Nein bestimmt nicht Absicht, aber wissen konnte man nie.
Der Kellner nahm die Bestellung auf. Alle bestellten etwas, auch Lisa und Maria, obwohl sie ja noch etwas hatten. Albert versuchte sich zu merken, was jeder nahm, und ob es irgendwelche Regeln dafür gab. Er kam als letzter an die Reihe und bestellte das Gleiche wie Otto, der als Drittvorletzter bestellt hatte. Erst nachdem der Kellner wieder weggegangen war, fiel Albert auf, wie glorreich diese Taktik gewesen war. Jetzt konnte er nichts Falsches bestellt haben, da Otto ja das Gleiche genommen hatte, aber Bernys Bestellung dazwischen lag. Aber natürlich war das keine Sicherheit, und auf der Hut musste man immer sein.
Die Gespräche begannen sich zu drehen. Urlaub ... Wohnung .... was arbeitest Du? ... wo arbeitest Du? ... lachen, mitlachen, und dazwischen reden, reeden, reeeeden ... die Stimme brüllte in seinem Kopf ... reeeeden. Die Gedanken versickerten irgendwo auf dem Weg zum Mund ... reden heißt denken, und wie sollte man denken, wenn der ganze Kopf dröhnte ... mehr, weniger, nicht das, mehr, weniger, überhaupt etwas, nicht das, fang an, fang an, FANG AN, hör auf, lächle, lächle mehr, nicht so viel, weniger, trink, du zitterst, aufpassen, du zitterst, warte, warte nicht mehr, FANG AN, fang anders an, hör endlich auf, ansehen, nicht ansehen, lächeln, lächeln, lächeln, nicht grinsen ...
Auf der Toilette war Albert alleine und atmete tief durch. Das Gefühl des Stoffes seines übergroßen wallenden Hemdes verflog ein wenig, gerade genug, um es zu bemerken. Er schwitzte. Es war sehr heiß im Lokal, vielleicht würden sie nicht bemerken, weshalb er schwitzte, aber wahrscheinlich würde es ihnen trotzdem auffallen. Sie würden sich fragen warum er so schwitzte, wo es doch keinen Grund gab zu schwitzen, und sie würden sich fragen, wo denn sein Grund dafür liegen könnte, und dann würden sie anfangen zu graben und sie würden immer etwas finden. Sie brauchten kein Glück.
Er setzte sich in eine der Kabinen und schloss ab. Er musste gar nicht aufs Klo. Würden sie sich fragen, warum er nicht musste. War es normal dass er nicht musste. Hätte er müssen müssen. Es würde ihnen auffallen, dass er gegangen war, ohne zu müssen. Sie würden es ihm angesehen haben, als er aufstand, und so kurz angebunden gesagt hatte, er müsse. Aber sie würden wissen, dass das nicht wahr war, sie sahen es einem immer an, so sehr man auch versuchte, es sich nicht ansehen zu lassen. Sie konnten die größten Idioten sein, doch diese Gabe fehlte ihnen nie.
Albert lehnte seinen Kopf gegen die Wand und versuchte das Herzklopfen unter Kontrolle zu bringen. Seine Hose war so weit, hing an ihm herab, und der Gürtel schnitt sich unbarmherzig in seinen Bauch. Er hatte Angst nicht mehr zurückgehen zu können, er konnte die Sekunden hören, wie sie verflogen, tick, tick, eine nach der anderen, und jedes Tick machte es ihm schwerer. Zurückzugehen, in ihre Gesichter sehen, die ihn ansahen, und alle Fragen stellten, auf die er so gar keine Antwort hatte. Sie würden merken dass er keine Antworten hatte. Sein Gesicht, sein Körper, verriet zuviel, und je weniger er verraten wollte, desto mehr verriet er. Tick, tick, mit wehendem Hemd und wehender Hose, zurück, vorbei an tausend Gesichtern, hin zu den vier Gesichtern, und jede weitere Sekunde, jedes weitere Tick, war eine Sekunde mehr vor Gericht, das nie Freisprüche fällte, vor allem nicht, wenn man unschuldig war.
Irgendwann nach fünf Minuten stand Albert auf und verließ die Toilette. Er stand vor der Tür mit dem Milchglasfenster, jener Tür, durch die er, als er zur Toilette gegangen war, einen der Kellner hereinkommen gesehen hatte, und für einen kurzen Moment hatte er auch einen Blick darauf erhaschen können, was hinter dieser Tür lag. Ein Hof. Und wenn er nur ein bisschen Glück hatte, besaß dieser Hof auch einen offenen Durchgang hin zur Straße ...
Albert ging hinaus.
Am nächsten Tag meldete sich Albert krank. Er war es zwar nicht, fühlte sich aber so. Seine Hose und das T-Shirt, mit dem er vor dem Fernseher lag, passten wieder. Vielleicht würde er morgen schon wieder zur Arbeit gehen. Man würde ihn natürlich fragen, wohin er denn abgehauen war, und warum. Und sie würden ihn wissender ansehen, als je zuvor, und wenn er weg war, würden sie ihn auslachen. Aber das war nichts Neues, es war jedes Mal das Gleiche, und je öfter es passierte, desto weniger fühlte er dabei. Manchmal hatte er kaum noch Angst.
Er verbrachte den ganzen Tag vor dem Fernseher, ruhig und friedlich, nur in der Nacht erwachte er einmal schweißgebadet aus einem Alptraum, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Als es ihm danach nicht mehr gelang einzuschlafen, blieb er wach in der Dunkelheit liegen, und wartete auf den nächsten Morgen.