Leben und andere strafbare Versuche
Tausend Morgen
Er war erwacht. Pünktlich wie immer und bevor es los ging. Jahre war er erwacht, bevor es losging.
Neonlicht drang durch Türritzen. Durch die Spalte hindurch konnte er Menschen riechen, deren Atem neben seinem Bett explodierten. Wenn er schlief, störte der Gestank nicht. Keinerlei Rauferei stummer Nichtigkeiten. Und sowieso, nicht deshalb war er wach, nicht weil es so war wie es war, sondern rechtzeitig. Jahrelang schon.
Wortlose Stimmen hörte er, ohne deren Sinn zu enträtseln. Eisernes Klappern. Sirrendes Schneiden von Luft in den Windfängen des Gebäudes. Den rumpelnden Fahrstuhl. Eine entfernte Vibration, die sich über eiserne Bettstäbe ohne Umschweife auf seinen Magen übertrug, die an heftigem Beben gewann, unrhythmisch wurde, je näher sie kam; eine träge Walze kam ins Rollen. Darauf hatte er die Nacht gewartet.
Ihm wurde schlecht. Plötzliche Übelkeit später Jahre über Zeiten hinweg. Er wusste zwar nicht warum, - konnte aber damit umgehen.
Die linke Hand auf Höhe des Magens abgelegt, mit der rechten eine vorbereitete Selbstgedrehte zwischen den Lippen. Mit dem Dunhill Flamme. Zwei drei tiefe Züge und der Brechreiz floh in den dunklen Teil des Gartens.
Im Fensterglas spiegelte zartes Rosa. Ein Hauch Helligkeit zog dies Rosa über den Himmel. Ein vielversprechender Hoch-Zeit-Schleier. Doch nicht für ihn.
Er bereitet sich vor und während er rauchte, tickte er die Wadenmuskeln an. Einmal, zweimal, dreimal. Darauf kam es an.
Er, ein Sportler, ein Artist, der sich vor dem Wettkampf aufwärmte. Ohne dem war nichts, und er könnte die ruhelose Nacht unter der Matratze verstecken.
Das Rosa wurde Rot. Das Vibrieren stand ab und an. Leichte Rollgeräusche, die schwerer wurden, näher kamen. Deutliche Stimmen. Er kannte die. Rollgeräusche wie Stimmen. Die übertönten sein Leben. Das Sirren im Windfang. Den Fahrstuhl. Den Mief. Das Rot, dass das Rosa gefressen - und gleich war er dran.
Kreischen von Stahl vor der Tür. Schweißgestank. Seine Augen tranken Helligkeit als die Deckenlampe zwitscherte. Die Blendung irritierte ihn, wie jedes Mal.
Den linken Fuß hatte er in Position.
Ein dröhnender Morgengruß vor der Tür, Hall der im Nichts verflog; den ließ er sowieso unbeachtet.
Die Tür öffnete sich spaltbreit. Ein Messer sah er in der Lücke blitzen, eine Hand. Das Messer flog im hohen Bogen in seine Richtung und drehte sich umeinander im Flug einer verliebten Taube.
In einer tausendstel Sekunde zuckte sein Bein und in diesem Reflex fing, griff, schnappte er zu, bevor der Stahl ihn traf. Er hatte das Metall, es wippte unterjocht zwischen seinen Zehen. Die Hand verschwand. Stahl kreischte. Das Rollen fern. Das Rot Himmelblau. Sirren und beständiges Summen.
Der Fuß, mit dem Messer zwischen den Zehen, entspannte auf der Bettdecke. Das Dunhill klackte dem lebenslänglichen Künstler Beifall. Rauch zog zum Fenster, umspielte das Gitter, kräuselte zur kostbaren Gardine.
Die Rolex zeigte sechsuhrdreißig, wie immer.
Frühstückszeit.
- Um achtzehn Uhr, nach dem Abendbrot, musste er das Messer wieder abgeben.
Ein Wärter sammelte sämtliches Werkzeug der ’lebenslänglichen’ Station ein und steckte die riskante Gerätschaft, Schneide nach unten, in einen Holzkasten, den sicherte er dann im verschlossenen Abteilungsdienstraum.
Knast
Alles beginnt hier, am Anfang.
Und es endet, wo alles beginnt, am Anfang; und genau da, wie hier, wird jede Existenz auf Kante getrimmt, auch eine scheinbare Wirklichkeit, und man kann dem zuwider nichts unternehmen, denn es ändert sich hier alles wie von selber, oder nicht, und das ist die radikalste Form von endlichem Anfang.
Kurt
Vor achtundvierzig Stunden lag er noch auf der Pritsche in der Strafanstalt Tegel. Haus drei, Zelle 317. Dann die überraschende Entlassung. Ausschub! Weihnachtsamnestie im August diesmal. Was für eine verrückte Idee. Ungewöhnlich aber wahr. Die Justiz benötigte solcherweise freiwerdende Zellen für die nächste Häftlingsgeneration.
Nach den Gerichtsferien geht es wieder los, da wird verknackt was die Paragraphen hergegeben, und die Knäste waren bereits seit Jahren zum Bersten voll. Viele Zellen permanent überbelegt. Aus einer Einzelzelle wurde eine Buchte für Zwei. 'Stell dir vor, wenn einer scheißen musste durfte der andere zusehen'!
Eine Schamwand ums Klo gab es nicht, auch wäre die wegen Platzmangel nicht stellbar. Ein Laken musste abhelfen. Doch der Gestank; Halleluja! Penetrant suppte Kotgeruch - wie Zigarettenrauch sichtbar - durch die Stube. Und in heißen Sommern...
Die Kubikmeteranzahl die jedem Häftling zustand interessierte sowieso einen Dreck. Ohne lange Erklärung schmetterten die Schließer lässig eine Matratze zusätzlich in den Raum, das war's!
Solch schweinische Umstände waren für alle nervig, anderseits: Gerade der menschenstinkend übervolle Knast hatte ihm den hier zu tuenden Job letztlich leichter gemacht.
- Kurt kehrte nichts um was er nicht wollte, da war er sicher. Sein Leben ist was es war, und wahr ist dass es ist und Erinnerungen sind ihm beliebig, er stellte die her, wenn er sie brauchte und ist dann wie Gott, schöpfte, alles Andere ist Lüge.
Ja, ein harter Junge, er. Er musste keine leeren Räume füllen, wenn er da sein wollte, wo er wollte, nicht hier, nicht draußen. Nicht dass nun jemand denkt, dass ihm alles am Arsch vorbei ging, nein, das wahrlich nicht, er kannte sich, und wenn er wollte nahm er die Tür, aber er konnte auch anders...
Und kaum war er draußen, war er wieder drinnen. Drehtüreffekt, Karussell, Achterbahn, Kreisverkehr, was noch? Drehscheibe, Ringelspiel..., na dann wollen wir mal.
- Angeklagt wegen ’Mord’ saß er (wieder) in U-Haft. Unschuldig, versteht sich.
Tötung, Mord, solche Taten erschwerten ein Hier sein im Üblichen schon... mord-tod-schlag zeigten eher seelische Gefahren. Schuld, Trauer, Mitleid mit sich, - mit anderen manchmal, und dann den Opfern, die aus dem Verbrechen entstanden, die im Umkehrschluss in Haft restriktiv erbracht werden mussten; gerade die und das erlaubte normales Überleben dauerhaft nicht: „Ertragen können musste man.“
Die Kategorie ’Straftat wider die normale Sexualität’, die erschwerte den Aufenthalt im Knast. Die machte in allen Belangen das Hiersein lebensgefährlich. Kurt konnte die Perversen auf den Tod nicht ab. Und so in sich rund lebte er, andere Macken wusste er nicht, hatte sie demnach auch nicht.
Zweiundzwanzig Stunden am Tag in einer winzigen Zelle. Wenn er da saß, lag, einfach so, schräg nach oben zu dem winzigen Fenster blickte, um den Himmel zu entdecken, eben weil aus gekrümmter Position, vom speckigen Tisch, auf verbrauchter Matratze vom Bett, kein anderer Blickwinkel nach draußen möglich als der schräg hoch. Kurt in solcher Behinderung hinauf blicken musste, dann fand sich dort nichts, auf dem seine Augen ruhen konnten. Gitter lediglich.
Die sind enge Stäbe, monumentale Balken. Die täuschen ihn, wenn er lag, saß, in Büchern, in Heften blätterte, wachend träumte, halb schlief, dann tauchten Schatten in Augenwinkeln auf. Schwarze Vergangenheiten. Rabenvögel, die im eleganten Bogen schwebten, grässlich kreischend.
Ein Irrtum alles, wusste er, ein immerseiender Irrtum. Auch dass er hier war, weiß er. Trotz allem: In erster Zeit stand er auf, wenn er Zweifel merkte, stellte den Stuhl ans Fenster, zog sich an den Gitterstreben hoch, sah nach draußen. Nichts war dort was er nicht kannte. Krieg war und Knast. Lärm konnte er hören, quälende Streitereien. Eine Schlacht wurde geschlagen, und seine Seele erschreckte darüber einen Moment, sonst nichts. Nichts sonst...
- Sein Krieg kann sich nicht irren (du, ich, wir alle können irren), sein Krieg nie.
Fast waren die frühen Wunden verheilt, doch zunehmend fingert er nun wieder daran herum; besonders nahe der Narbe, hinter dem frontalen Stirnbein, fühlte er diffusen Reiz, den übermächtigen Zwang daran herum zu murksen. Er meinte die Nerven der leeren Augenhöhle erwachten; und wenn es so wäre, wollten die noch mal das Leben sehen, war es Frühling im August?, ...oder vielmehr Winter, sein Kriegswinter...?
- Und wieder war es die Wiederholung, in der er lebte: Er wusste, von oben herab musste man den Schuss führen um alles zu haben, auf und davon wollte er, ferne Horizonte erreichen, deswegen.
Ruumms ging das Stahlgewitter los, und prompt lag auf der Spitze des Grabhügels ein Krieger, - liegt er dort.
Ach, es ja nichts war neu daran, lediglich seine Zeit war eben um, und auch das war nicht weiter schlimm, denn auf den Tod war Kurt seit jeher vorbereitet, aufs Leben nicht.
Ja, richtig, auf das Leben eben nicht, denn: wie wird man auf das Leben vorbereitet - es zu leben, so zu leben, dass es richtig vorschriftsmäßig scheint. Man kann leichter Alles falsch tun als richtig, meinte er. Deswegen, weil menschenwürdige Normen für Wahrheiten extra kompliziert angesiedelt waren und es daher daneben gehen musste.
Leben? Da sollte jedermann lange und geduldig suchen, bevor da drinnen zu existieren möglich war, sagte er. Leben? Ein Haufen Fäkal das man ein da sein lang mitschleppte, raunte der Tod. Leben? Mein Gott, sagte Gott, dass ist doch sowieso ganz was Anderes als der sich selbst genügende Tod. Und Kurt dachte oft darüber nach.
Den Tod, seinen zum Beispiel, den reflektierte er, wenn er so etwas dachte, sagte er. Und die träge Idee über das 'Nichtsein' lag in bewusster Endgültigkeit vor ihm, seit er Leben als eben das begreifen konnte, jedenfalls ab da, als er mit der Mutter und deren Bruder Ewald über die grüne Grenze, raus aus Berlin, zum Hamstern fuhr.
Jenseits des reißenden Stroms sollten das zwölfteilige Silberbesteck, das seit Jahren der Familie gehörte, ein bronzener Leuchter, ein Teppich, den Ewald als Kriegsbeute aus Holland heimgetragen hatte, gegen Kartoffel, Brot, Speck, Milch, drei vier Eier getauscht werden. Bereits beim Grenzübertritt an der Elbe wurden sie von den Russen geschnappt.
Heute noch vernahm er die Kalaschnikowschüsse. Und: „Stoj!“ schrien sie. Noch eine Salve, dicht an seinem Ohr. „Stoj!!!“ der Befehl. Kaum verstand er der Russen Kommando, glaubte taub zu sein vom Donner der Explosionen, - seitdem hörte er auf dem rechten Ohr schlecht. Die flüchtende Mutter und Ewald gaben ihr Rennen längs des Flusses auf, als einer der Wachtposten drohte 'Kurtchen' zu erschießen.
Eingesperrt ins Kellerloch der GPU froren sie sich während mehrerer grauenvoller Tage ihr Hoffen auf Kartoffel, Brot, Eier, Milch und Speck aus dem Sinn. Die Mutter wurde täglich vergewaltigt.
Wenn der eiserne Kellereinlass wie ein getretener Köter anschlug, hielt ihm Ewald hastig Augen und Ohren zu, wohl damit Kurtchen den Gewaltakt nicht mitbekäme. Selbstverständlich hörte er, wenn nagelbeschlagene Stiefel krachend die Kellertreppe quälten, - dann war es höchste Zeit für den Onkel.
„Davaj! Davaj!“ Und „Rabotti!“ grölten sie, und während einer nach dem anderen die Mutter spreizte, tanzten die wartenden Kasaschoch. Und, bei diesem Umeinanderhopsen, schluckten sie aus Wodkaflaschen, bis ihnen die Lippen bluteten.
Außerdem stanken die wie Ziegenböcke und urinierten in die Kellerecken, rauchten Papyrossi, brüllten: „Nix Kultura!“ Und der angstschlotternde Onkel, der seinen Neffen Kurt körperlich längst freigegeben hatte, damit der sehen konnte was es zu sehen gab, damit der hören konnte, damit der lernen konnte, der musste mitrauchen, trinken, und sie luden ein, es ihnen auf der Mutter gleichzutun, klatschten ihr den blanken Hintern wie man Pferd oder Kuh auf dem Markt pries.
Von der Mutter hörte man kein einziges Wort, die schwieg während ihres Leidens still, einmal hat sie sich die Pulsader zerbissen, da jauchte ihr Blut hellrot in die Pissrinne. Einen Lederriemen taten sie ihr ums Gelenk, damit der Saft schweigt wie sie. „Davaj! Davaj!“; es sollte weitergehen und der Mutter Leib quoll über vom Samen der Steppensöhne.
’Die Sieger nehmen sich immer alles’, lernte er vom Onkel. Der sollte es wissen, der war selber mal Soldat. Und weiter blieben das Silberbesteck und auch der Teppich verhaftet. Und Kurt wusste ab da: alles Haben, alles Sein, egal wie lange, wie intensiv gehabt, gelebt, endet.
- Richtig ist: mancher Tod besucht die noch Lebendigen. Seine Mutter blieb ihm ewiges Beispiel:
'Wenn jeder Mensch einen anderen Menschen liebt, gibt es nie wieder Krieg'.
Diese sinnlos scheinende Position bezog sie bald nach der Hamsterfahrt, und erst ihre Einweisung in's Irrenhaus brachte wieder Ruhe in Stunden und Tage. Starb sie dort? Jedenfalls kam Kurt ins Kinderheim. Dort sollte er zum Menschen reifen.
'Wenn jeder Mensch einen anderen Menschen, den er liebt, tötet, gibt es nie wieder Krieg', meinte Kurt. Und er blieb sich im Leben, bis zum Ende hin, ein unkalkulierbares Risiko. Ein alltäglich wild dahin brausender Fluss war er. Eine dramatische Kopie von Tun und Lassen, von Gebot-Verbot, von Gut-Böse, dass von dort irgendwo herkam und ins sonst wohin ging. Diese ewige unlustige Lebensprüfung war sein Ding, - eine Heimsuchung der besonderen Art, diese Existenz. Und jeden Tag, jede Nacht bemühte er sich nicht feig' zu sein, zwang seinen Geist die ihn qualvoll ständig beschleichende Angst nicht zu verleugnen, entzog, bewog das Sein, um sich fortwährend, mit systematischem Mut und ihm eigener Ordnung, neu in die Schlacht zu werfen, in sein Leben. Jetzt ins Hier!
- Ja Herr, er kannte bereits frühzeitig das finalistische Vakuum, jedoch der dornige Weg dahin hielt ihn fatalerweise über alle Maßen auf, - die hinderliche Krone, die ihm von Dir aufgesetzt. Und nochmals Herr, Du hast ihm auf dem langen Weg zum Richtplatz nie sichtbar beigestanden, ließest ihn krepieren, nachdem er sein Kreuz durchs Leben geschleppt. Und Kurt? Sogar dem kam von Anfang an sein Leben als totale Verblödung daher. Und der kannte eigentlich alles von Beginn an, - wusste er schon vom viel späteren Schuss? War es möglich dass er seherische Fähigkeiten besaß? Ein Schamane besonderer Art war? Die meisten glaubten, er wäre ein gewöhnlicher Ganove. Ein klein unbedeutender, was seine Taten betraf, ein groß mächtiger, wenn es um das Absitzen von Strafe ginge.
*Herrgott, wie sich Menschen von anderen einteilen lassen müssen.*