- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Leben mit den Stolperfallen
Plötzlich habe ich Herzklopfen!
Ich bin aufgeregt und fürchte mich ein wenig, weiß nicht, was mich jetzt erwartet.
Ich beginne loszulaufen, die anderen tun es auch!
Die ersten Schritte fallen mir schwer.
Ich fühle mich unsicher, ganz vorsichtig, bedächtig, fast tastend, bewege ich mich fort.
Lasse einen Schritt dem nächsten folgen.
Mein Herz schlägt regelmäßig und kräftig.
Die kleinen verlockenden runden Formen am Boden liegen auf der Lauer, wirken bedrohlich, werde versuchen sie zu meiden.
Was wollen sie von mir?
Ich höre die Älteren tuscheln: „Stolperfallen“.
Keine Ahnung, was sie meinen! Vor mir rennt ein größeres Mädchen, bald werde ich es eingeholt haben.
Sie schwankt und rudert mit den Armen.
Auf gleicher Höhe bemerke ich die Blässe in ihrem Gesicht.
Ihre blauen Augen sind ganz leer, nichts Lebendiges in Ihnen.
Ich laufe weiter, meine Bewegungen sind koordinierter.
Hinter mir ein dumpfer Aufprall.
„Das Mädchen läuft nicht mehr“, denke ich.
Die Älteren weinen, die Jüngsten staunen.
„Stolperfalle Kindstod!“
Meine beiden großen Begleiter, sorgen sich um mich, weichen nicht von meiner Seite.
Ich stolpere, bemerke es gar nicht, bleibe aber auf den Beinen.
Stolperfalle „Lungenentzündung!“
Es geht immer weiter, meine Schritte werden länger.
Gehöre schon nicht mehr zu den Kleinsten.
Wir sind sehr viele, einige schließen sich zu Gruppen zusammen, andere laufen alleine, alle scheinen dieselbe Richtung zu wählen.
Gestern steuerte eine „Schwarze Wolke“ auf eine Gruppe in meiner Nähe zu. Einem Jungen war es möglich aus dieser Unheil verbreitenden Wolke zu flüchten, er lief weiter, die anderen verschwanden in ihr.
Der Geruch nach Kerosin und verbranntem Fleisch liegt in der Luft. Der Anblick seines entstellten Gesichts, seiner verdrehten Gliedmaßen, bleibt mir nicht erspart. Jedoch freue ich mich, daß er weiter läuft.
Ich kann nun fühlen, ich kann mich freuen!
Ältere erzählen mir, daß ich schon alle großen Tore passiert hätte.
Tore, die die Individualität jedes einzelnen prägen.
Das Blau, das sich zum Tiefgrünen in meinen Augen wandelt, das Dunkelblonde auf meinem Haupt, die Ungeduld in mir, die Trübsal, die Heiterkeit. Hätte ich sie bloß gesehen, diese Tore, liebend gerne nähme ich Einfluss, einige hätte ich mit Sicherheit umlaufen, doch will ich nicht klagen, sie sind mir vom Schicksal bestimmt.
Stolperfallen gestalten sich äußerst tückisch, sie geben sich selten zu erkennen. Manche lauern unter der Oberfläche, niemand ist vor ihnen sicher, andere erscheinen harmlos und entpuppen sich dann zum todbringenden Feind. Die Furcht erregenden schwarzen Wolken sind groß, sie können Menschenansammlungen umhüllen, sie mit sich fortreißen, die Alten und die Jungen verschlingen, die Kranken und Gesunden, und sie geben die wenigsten wieder her.
Während die Jahre vergehen und ich meinem Ziel näher komme, habe ich immer wieder Entscheidungen zu treffen. Welche Abzweigung soll ich nehmen? Welcher Weg ist der richtige? Ist dieser Weg nicht zu steinig?
Meine Instinke, die mir früher noch sagten, was ich zu tun habe, sind ausgeschaltet.
Immer häufiger schaue ich auf andere.
Was für einen Weg nehmen sie?
Ich setze mir ihr Tun zur Norm, werde konformistisch!
Nur allzu oft stelle ich später fest, dass ihr Weg wenig für mich geeignet ist, ich mich auf Abwegen befinde. Ich gehe große Umwege, denke, es sind Abkürzungen, um nach Jahren dort anzukommen, wo ich früher schon einmal gewesen bin.
Andere haben weniger Glück. Für einige gibt es kein Zurück, keinen Neuanfang. Einmal die richtige Abzweigung verpasst, führt es sie geradewegs ins Unglück. Sie werden in hoffnungslosen Situationen zu hilflosen Opfern, straucheln, unfähig sich zu erheben, verbluten, jeder für sich. Haben die Kräfte die Unglücklichen einmal verlassen, bleiben sie am Boden und sind bald vergessen.
Jeder läuft für sich!
Warum existieren die Stolperfallen?
Warum sind die Wolken nicht in ein Rosarot getaucht? Ich suche sie vergeblich, die Rosaroten!
Viele Jahre hielt ein Junge mit mir Schritt, voller Energie und Lebensfreude. Er war mir zum Freund geworden. Eines Tages, als die Sonne lachte, die Blumen wollten nicht aufhören zu blühen, zeigte sich am Horizont eine dieser Verderben bringenden schwarzen Wolken. Plötzlich war sie dort, warf keine Schatten, kündigte sich nicht an. Ich sah sie, mein Freund bemerkte sie nicht. Er verschwand in ihr, ich wurde verschont.
„Zerfetzt“ in einer motorisierten Welt!
Jahr für Jahr, Tag für Tag stelle ich sie mir erneut, die Frage nach dem Sinn!
Ein Hamster in einem Laufrad hat es einfacher, diesem Geschöpf stellt sich die Frage nach dem Sinn nicht!
Vor mir läuft der Älteste, den ich in all den Jahren je gesehen habe, ganz langsam, ganz mühsam.
Warum lächelt er? Ich drossele mein Tempo.
„Warum lächelst du? Die Beine müssen Dir doch schwer werden?“
„Das stimmt, sie fühlen sich recht müde an, aber um´s Herz wird es mir leicht!“
„Warum? Woher nimmst du diese Energie?“
„Ich lasse mein Leben leben!“
„Wie? Sag es mir!“
„Ich bin im Jahre 1898 losgelaufen und wollte die Welt erobern. Stolperfallen hatte ich bis dahin nicht kennengelernt. Die dunkle Wolke, die sich 1914 über Europa legte, die habe ich erlebt. Sie brachte uns die Schützengräben, wir spielten dort Verstecken. Morgens begrüßte uns die Artillerie mit Granaten. „Guten Morgen liebe Soldaten, seid ja heute so zahlreich zum Sterben erschienen!“ Die Schrapnelle zerrissen unsere Leiber, gelbe Rauchschwaden zerfraßen unsere Lungen, Gas wütete in unseren Körpern. Wir Kinder sind bereitwillig auf dem Felde der Ehre geblieben. Mit geschwellter Brust, Splittern als Souvenir. Tausende habe ich schreien gehört! Ein seltsamer Hurra-Schrei. Ich habe ihn noch in den Ohren, den letzten Schrei der im Dreck Krepierenden, den Ruf nach ihrer Mutter.
Die zweite Wolke, die sich 1933 erst über Deutschland, später über die ganze Welt, verbreitete, war schwarz. Nicht dunkel, sie war schwarz, überhaupt nicht vergleichbar mit den Wolken, die dich bis jetzt verschlingen wollten und doch verschonten. Sieben meiner Kinder, meine Eltern, meine Geschwister und alle meine Verwandten feierten rauschende Feste mit den Schergen und Aufsehern des Konzentrationslagers Auschwitz.
Ein Abschlussball in den Gaskammern, dafür, dass sie Ihnen die Ehre erwiesen!
Die Kapelle spielte Moll!
Ich höre noch das Wimmern der einen, das Lachen der anderen!
Für mich ist jeder Tag etwas Besonderes, ein Geschenk. Schau zum Himmel, die Sonne, sie lacht! Ich darf den Regen spüren, an Blumen riechen, sie sprechen mit mir, ich darf mir Gedanken machen, dafür erlaube ich ihnen, dass sie mich quälen. Mit ein bisschen Glück darf ich morgen wieder atmen, habe ich mehr Glück, raubt der Morgen mir den Atem. Ich weiß heute nicht, was ich morgen erleben darf. Keine Ahnung, ob es mir morgen vergönnt sein wird, etwas zu erleben, oder ob ich irgend jemanden in seiner Einzigartigkeit kennenlernen darf. Es wäre ein Erlebnis. Heute habe ich dich erlebt!
Ich denke oft an die Worte des alten Mannes.
Seit Jahren beschäftigt mich diese Begegnung. Ich habe es aufgegeben, nach dem Glück zu suchen, zumindest versuche ich, nicht allzu sehr Ausschau zu halten. Ich übe mich in Gelassenheit, wünsche mir die Kraft, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Ich laufe und versuche, Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Hätte…Würde…Könnte…soll für mich nicht weiter existieren.
Nun sehe ich sie doch!
Nach so vielen Jahren zum allerersten Mal.
Eine rosarote Wolke! Ist sie für mich bestimmt?
Ein faszinierender Anblick, ein Geschenk!
Ich glaube, sie ist so alt wie ich.
Wir schauen uns an. Ich denke sie ist so wie ich!
Nungut...nicht ganz.
Tiefgrün begegnet dem Haselnussbraunem, Dunkelblond gesellt sich zu Schwarz, aber…Herz trifft Herz!
Wollen wir beide zusammen weiterlaufen?