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Leben mit den Stolperfallen

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07.08.2002
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Leben mit den Stolperfallen

Plötzlich habe ich Herzklopfen!
Ich bin aufgeregt und fürchte mich ein wenig, weiß nicht, was mich jetzt erwartet.
Ich beginne loszulaufen, die anderen tun es auch!
Die ersten Schritte fallen mir schwer.
Ich fühle mich unsicher, ganz vorsichtig, bedächtig, fast tastend, bewege ich mich fort.
Lasse einen Schritt dem nächsten folgen.
Mein Herz schlägt regelmäßig und kräftig.
Die kleinen verlockenden runden Formen am Boden liegen auf der Lauer, wirken bedrohlich, werde versuchen sie zu meiden.
Was wollen sie von mir?
Ich höre die Älteren tuscheln: „Stolperfallen“.
Keine Ahnung, was sie meinen! Vor mir rennt ein größeres Mädchen, bald werde ich es eingeholt haben.
Sie schwankt und rudert mit den Armen.
Auf gleicher Höhe bemerke ich die Blässe in ihrem Gesicht.
Ihre blauen Augen sind ganz leer, nichts Lebendiges in Ihnen.
Ich laufe weiter, meine Bewegungen sind koordinierter.
Hinter mir ein dumpfer Aufprall.
„Das Mädchen läuft nicht mehr“, denke ich.
Die Älteren weinen, die Jüngsten staunen.
„Stolperfalle Kindstod!“
Meine beiden großen Begleiter, sorgen sich um mich, weichen nicht von meiner Seite.
Ich stolpere, bemerke es gar nicht, bleibe aber auf den Beinen.
Stolperfalle „Lungenentzündung!“
Es geht immer weiter, meine Schritte werden länger.
Gehöre schon nicht mehr zu den Kleinsten.
Wir sind sehr viele, einige schließen sich zu Gruppen zusammen, andere laufen alleine, alle scheinen dieselbe Richtung zu wählen.
Gestern steuerte eine „Schwarze Wolke“ auf eine Gruppe in meiner Nähe zu. Einem Jungen war es möglich aus dieser Unheil verbreitenden Wolke zu flüchten, er lief weiter, die anderen verschwanden in ihr.
Der Geruch nach Kerosin und verbranntem Fleisch liegt in der Luft. Der Anblick seines entstellten Gesichts, seiner verdrehten Gliedmaßen, bleibt mir nicht erspart. Jedoch freue ich mich, daß er weiter läuft.
Ich kann nun fühlen, ich kann mich freuen!
Ältere erzählen mir, daß ich schon alle großen Tore passiert hätte.
Tore, die die Individualität jedes einzelnen prägen.
Das Blau, das sich zum Tiefgrünen in meinen Augen wandelt, das Dunkelblonde auf meinem Haupt, die Ungeduld in mir, die Trübsal, die Heiterkeit. Hätte ich sie bloß gesehen, diese Tore, liebend gerne nähme ich Einfluss, einige hätte ich mit Sicherheit umlaufen, doch will ich nicht klagen, sie sind mir vom Schicksal bestimmt.
Stolperfallen gestalten sich äußerst tückisch, sie geben sich selten zu erkennen. Manche lauern unter der Oberfläche, niemand ist vor ihnen sicher, andere erscheinen harmlos und entpuppen sich dann zum todbringenden Feind. Die Furcht erregenden schwarzen Wolken sind groß, sie können Menschenansammlungen umhüllen, sie mit sich fortreißen, die Alten und die Jungen verschlingen, die Kranken und Gesunden, und sie geben die wenigsten wieder her.

Während die Jahre vergehen und ich meinem Ziel näher komme, habe ich immer wieder Entscheidungen zu treffen. Welche Abzweigung soll ich nehmen? Welcher Weg ist der richtige? Ist dieser Weg nicht zu steinig?
Meine Instinke, die mir früher noch sagten, was ich zu tun habe, sind ausgeschaltet.
Immer häufiger schaue ich auf andere.
Was für einen Weg nehmen sie?
Ich setze mir ihr Tun zur Norm, werde konformistisch!
Nur allzu oft stelle ich später fest, dass ihr Weg wenig für mich geeignet ist, ich mich auf Abwegen befinde. Ich gehe große Umwege, denke, es sind Abkürzungen, um nach Jahren dort anzukommen, wo ich früher schon einmal gewesen bin.
Andere haben weniger Glück. Für einige gibt es kein Zurück, keinen Neuanfang. Einmal die richtige Abzweigung verpasst, führt es sie geradewegs ins Unglück. Sie werden in hoffnungslosen Situationen zu hilflosen Opfern, straucheln, unfähig sich zu erheben, verbluten, jeder für sich. Haben die Kräfte die Unglücklichen einmal verlassen, bleiben sie am Boden und sind bald vergessen.
Jeder läuft für sich!
Warum existieren die Stolperfallen?
Warum sind die Wolken nicht in ein Rosarot getaucht? Ich suche sie vergeblich, die Rosaroten!

Viele Jahre hielt ein Junge mit mir Schritt, voller Energie und Lebensfreude. Er war mir zum Freund geworden. Eines Tages, als die Sonne lachte, die Blumen wollten nicht aufhören zu blühen, zeigte sich am Horizont eine dieser Verderben bringenden schwarzen Wolken. Plötzlich war sie dort, warf keine Schatten, kündigte sich nicht an. Ich sah sie, mein Freund bemerkte sie nicht. Er verschwand in ihr, ich wurde verschont.
„Zerfetzt“ in einer motorisierten Welt!
Jahr für Jahr, Tag für Tag stelle ich sie mir erneut, die Frage nach dem Sinn!
Ein Hamster in einem Laufrad hat es einfacher, diesem Geschöpf stellt sich die Frage nach dem Sinn nicht!
Vor mir läuft der Älteste, den ich in all den Jahren je gesehen habe, ganz langsam, ganz mühsam.
Warum lächelt er? Ich drossele mein Tempo.

„Warum lächelst du? Die Beine müssen Dir doch schwer werden?“
„Das stimmt, sie fühlen sich recht müde an, aber um´s Herz wird es mir leicht!“
„Warum? Woher nimmst du diese Energie?“
„Ich lasse mein Leben leben!“
„Wie? Sag es mir!“
„Ich bin im Jahre 1898 losgelaufen und wollte die Welt erobern. Stolperfallen hatte ich bis dahin nicht kennengelernt. Die dunkle Wolke, die sich 1914 über Europa legte, die habe ich erlebt. Sie brachte uns die Schützengräben, wir spielten dort Verstecken. Morgens begrüßte uns die Artillerie mit Granaten. „Guten Morgen liebe Soldaten, seid ja heute so zahlreich zum Sterben erschienen!“ Die Schrapnelle zerrissen unsere Leiber, gelbe Rauchschwaden zerfraßen unsere Lungen, Gas wütete in unseren Körpern. Wir Kinder sind bereitwillig auf dem Felde der Ehre geblieben. Mit geschwellter Brust, Splittern als Souvenir. Tausende habe ich schreien gehört! Ein seltsamer Hurra-Schrei. Ich habe ihn noch in den Ohren, den letzten Schrei der im Dreck Krepierenden, den Ruf nach ihrer Mutter.
Die zweite Wolke, die sich 1933 erst über Deutschland, später über die ganze Welt, verbreitete, war schwarz. Nicht dunkel, sie war schwarz, überhaupt nicht vergleichbar mit den Wolken, die dich bis jetzt verschlingen wollten und doch verschonten. Sieben meiner Kinder, meine Eltern, meine Geschwister und alle meine Verwandten feierten rauschende Feste mit den Schergen und Aufsehern des Konzentrationslagers Auschwitz.
Ein Abschlussball in den Gaskammern, dafür, dass sie Ihnen die Ehre erwiesen!
Die Kapelle spielte Moll!
Ich höre noch das Wimmern der einen, das Lachen der anderen!
Für mich ist jeder Tag etwas Besonderes, ein Geschenk. Schau zum Himmel, die Sonne, sie lacht! Ich darf den Regen spüren, an Blumen riechen, sie sprechen mit mir, ich darf mir Gedanken machen, dafür erlaube ich ihnen, dass sie mich quälen. Mit ein bisschen Glück darf ich morgen wieder atmen, habe ich mehr Glück, raubt der Morgen mir den Atem. Ich weiß heute nicht, was ich morgen erleben darf. Keine Ahnung, ob es mir morgen vergönnt sein wird, etwas zu erleben, oder ob ich irgend jemanden in seiner Einzigartigkeit kennenlernen darf. Es wäre ein Erlebnis. Heute habe ich dich erlebt!

Ich denke oft an die Worte des alten Mannes.
Seit Jahren beschäftigt mich diese Begegnung. Ich habe es aufgegeben, nach dem Glück zu suchen, zumindest versuche ich, nicht allzu sehr Ausschau zu halten. Ich übe mich in Gelassenheit, wünsche mir die Kraft, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Ich laufe und versuche, Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Hätte…Würde…Könnte…soll für mich nicht weiter existieren.

Nun sehe ich sie doch!
Nach so vielen Jahren zum allerersten Mal.
Eine rosarote Wolke! Ist sie für mich bestimmt?
Ein faszinierender Anblick, ein Geschenk!
Ich glaube, sie ist so alt wie ich.
Wir schauen uns an. Ich denke sie ist so wie ich!
Nungut...nicht ganz.
Tiefgrün begegnet dem Haselnussbraunem, Dunkelblond gesellt sich zu Schwarz, aber…Herz trifft Herz!
Wollen wir beide zusammen weiterlaufen?

 

Hi Archetyp!

Schön ist sie, Deine Geschichte. ;) Die surrealistischen Teile könntest Du allerdings noch ein bisschen ausbauen und die realitätsnahen etwas mehr zurücknehmen, dann paßt sie auch.

Kommt man da nicht außer Atem, wenn man sein Leben lang läuft? - Ach so, jetzt weiß ich nicht: In Österreich ist ja Laufen = Rennen, in Deutschland hat das Laufen aber mehr die Bedeutung von Gehen, richtig? Wenn ich jetzt bloß wüßte, wie das in Deiner Geschichte zu verstehen ist... Denn so wie ich es lese, möchte ich Deinen Protagonisten mal ein bisschen Ruhe verschreiben, besonders den beiden Herzen am Schluß, so kommen sie doch zu nix, wenn sie ständig rennen... :D

Spätestens am Wochenende such ich Dir noch die Fehler raus, die sich in Deine Geschichte eingeschlichen haben - außer Du beseitigst sie schon vorher... ;)

Alles liebe
Susi

 

Guten Morgen Häferl, da warst Du ja wieder die erste.
Leider finde ich keine Rechtschreibfehler mehr, wenn Du aber welche gesehen hast, tja...wo dennnnnn?
Du hast recht. Laufen im Sinne von durch´s Leben "Gehen"
Diese story sehe ich als reale story mit surrealem Boden, allerdings durchgängig. Ich habe sie quasi surreal angehaucht. Fällt mir schwer die Logik völlig zu vernachlässigen.
Lt. Deiner Aussage, hat sie Dir aber n wenig gefallen! Na dann gut.
Tja, die realen Elemente ein wenig runterschrauben, das ist schwer, denn die realen Elemente sind ja keine Anhängsel hier sondern haben ihren festen Plazt!
Heißt also ich müsste etwas opfern! Hmh

Du würdest noch Fehler raussuchen, ich wäre froh ich fände sie selbst Wo Wo Wo? Ich bin da echt ein wenig unterbelichtet!

Liebe Grüsse Arche

 

Lieber Arche!

Von unterbelichtet kann überhaupt keine Rede sein.;)
Ganz im Gegenteil, Deine Rechtschreibung ist sehr gut!
Ein paar kleine Flüchtigkeitsfehler oder an die falsche Stelle gerutschte Beistriche passieren doch jedem mal, Du bist weit davon entfernt, Dir deswegen wirklich Gedanken machen zu müssen...

"„Guten Morgen liebe Soldaten, seit ja heute so zahlreich zum Sterben erschienen?“" - seid - - das "?" finde ich seltsam, würde eher ein "!" oder "..." machen

"die Dich bis jetzt verschlingen wollten " - dich

"Schau zum Himmel, die Sonne sie lacht!" - die Sonne, sie lacht!

"Keine Ahnung ob, es mir morgen vergönnt sein wird" - Keine Ahnung, ob es mir...

"Heute habe ich Dich erlebt!" - dich

"und versuche Vergangenheit, Vergangenheit sein zu lassen." - versuche, Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen.

Zu Beginn war noch ein Satz, bei dem ich mir nicht ganz sicher bin, meiner Meinung nach gehört der Beistrich weg:
"„Ich lasse mein Leben, leben!“"

Das mit dem "Du", "Dich" usw. ist so eine Sache... Tatsächlich gehören nur die "Sie" und daraus abgeleitete "Ihr" usw. in der persönlichen Anrede groß. Alles was mit Du zu tun hat, gehört klein.
Ich persönlich schreibe es in meinen Postings bewußt falsch, weil ich nicht Leuten, die mir nicht so nahe stehen, daß ich mit ihnen per Du bin, mehr "Ehre erweisen" will, als solchen, die mir näher stehen. Drum schreibe ich die Du groß. Das ist aber nur mein persönlicher Protest gegen die Rechtschreibreform, in Geschichten gehören die natürlich richtig geschrieben... ;)

Alles liebe
Susi

 

Hallo Häferl, ich halte das ja schon für sensationelle Fehlerentdeckungen. Wie machst du das bloss? Routine (Lektor, Deutschlehrer, Prof.?) Die beiden "Vergangenheit" ohne Beistrich - gewagt?

Auch die beiden "Leben"

Kostet es Dich nicht viel Mühle?

Achja, und ein Komma, das nennst Du Beistrich.
Hört man hier kaum noch in Norddeutschland.

Vielen vielen Dank

Stefan

 

Hallo Archetyp,

die Geschichte nimmt mich mit auf ihrem Weg, man muß sie durchlaufen durch durchlesen.
Ich möchte das Ganze einen “Reziproken Amoklauf“ durch das Leben nennen, der hätte auch in Philo gepasst vor allem der Teil, bei dem es um das finden des persönlichen Weges geht.
Logik und Surrealität schließen sich nicht aus, vor dem Hintergrund der Logik kann das Surreale richtig deutlich werden.
Also - weiterhin viel Spaß beim Schreiben!

Tschüß... Siegbert

 

Woltochinon,

hallo

Reziproker Amoklauf ist gut!
Und was wir machen ist reziproker Altruismus?:)

Ich glaube jeder hier wartet gespannt auf eine Antwort seiner surrealen story, denn wer weiß schon, ob sie gelungen ist. Ich gehöre auch dazu.
Ich denke ich komme mit meiner story irgendwie durch. Wenn sie anderen auch gefällt umso besser.
Tja, "Philosophisch" ich glaube ich wag mich mal in Dein Wohnzimmer.

Hab noch mal nachgeguckt was transzendent noch bedeutet, mathematisch ist es ja auch n begriff, wusste ich gar nicht!

bis dann stefan

 

Lieber Arche!

Hier ist mir noch was aufgefallen, was Du schöner formulieren könntest - aber bitte erst ab übermorgen, damit Du die anderen Jury-Mitglieder nicht verwirrst... ;)

Sie ist so alt wie ich, glaube ich.
Wir schauen uns an. Ich denke sie ist so wie ich!
Lies es mal, wenn Du den ersten Satz ein bisschen umstellst:
Ich glaube, sie ist so alt wie ich.
Wir schauen uns an. Ich denke, sie ist so wie ich!

Alles liebe,
Susi

 

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