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Leben, Leiden, Enttäuschung

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13.06.2013
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Leben, Leiden, Enttäuschung

Der Gottesdienst in der Kirche dauert eine halbe Stunde. Ich sitze in meiner Bank und versuche, der Predigt des Priesters zuzuhören, die vom Wert des Lebens handelt. Aber meine Augen sind schon lange gebannt von dem Anblick einer kleinen Spinne, die zwei Meter vor mir langsam an einer der vielen, dicken Steinsäulen in der Kirche entlangkrabbelt.
Es ist furchtbar heiß heute, weswegen das kleine Spinnentier die Kühle in der Kirche sucht. Auch die Leute in den Bänken fächeln sich mit ihren Gesangbüchern Luft zu und zupfen hin und wieder an ihren T-Shirts, Blusen und Hemden.
Der dicke Mann in der Reihe vor mir scheint besonders unter der Hitze zu leiden. Ständig stößt er gequält Luft aus und auf seinem feisten Hals stehen Schweißperlen. Mitleid mit dem vielleicht Fünfzigjährigen steigt in mir auf, aber mein Blick bleibt nach wie vor auf die Spinne gerichtet, die sich jetzt an einem Faden entlang der Steinsäule hochzieht.
Ja, denke ich, komm schon, du schaffst es. Bis nach ganz oben!
Aber dann lässt sich der kleine Weberknecht wieder abseilen und bleibt einen Meter über dem Boden hängen.
Die Worte des Priesters dringen durch mein Bewusstsein. Respekt vor dem Leben, egal wie klein und unbedeutend es scheint.
Ich frage mich, ob die kleine Spinne denken kann, ob sie jetzt über irgendetwas nachdenkt. Was sie wohl über die Menschen denken würde, wenn sie es könnte. Wie die Welt aus ihrer Sicht aussieht.
Auf einmal fühle ich eine tiefe Verbundenheit zu diesem tapferen kleinen Geschöpf.
Da reißt mich ein weiterer Stoßseufzer des dicken Mannes vor mir aus den Gedanken. Der Schweiß rinnt seinen Hals hinunter, durchnässt sein Hemd. Eine neue Welle des Mitgefühls durchströmt mich.
Da wendet er den Kopf nebenbei nach links und ich sehe, wie sein Blick an der kleinen Spinne hängenbleibt, die sich jetzt in eleganten Bewegungen an ihrem unsichtbaren Spinnenfaden hinabseilt. Ganz langsam, ganz gemächlich.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich sehe, dass der Blick des Mannes immer noch auf die Spinne gerichtet ist. Vielleicht fragt er sich auch, was sie gerade denkt, geht es mir durch den Kopf. Vielleicht fragt er sich auch, ob-
In einer fast beiläufig wirkenden Bewegung streckt er die Hand aus, nimmt die Spinne zwischen seine Finger und zermalmt sie.
Mein Lächeln gefriert, gerade als der Priester seine Predigt beendet, nicht ohne noch einmal zu betonen, dass jedes Leben wertvoll ist.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten, als ich den zufriedenen Ausdruck in dem Profil des dicken Mannes sehe, bevor er mir wieder seinen kahlköpfigen Hinterkopf zuwendet. Mein Mitleid erstirbt, meine Lippen werden zu eine dünnen Strich.
Die Leute um mich herum erheben sich zum Credo, auch der feiste Mann vor mir steht auf und wischt seine Finger, seine Mörderfinger, an der Hose ab.

 

Hallo Gandhi,

willkommen hier im Forum.

Titel und Tenor Deiner Geschichte und nicht zuletzt Dein Nickname lässt schnell die Assoziation zu Grundthesen der indischen Religionen aufkommen. Brahmanismus, Buddhismus und Hinduismus sehen ja das Irdische (Samsara) lediglich als eine leidbehaftete Vorstufe zu einer späteren Erlösung (Nirvana). Im Buddhismus wurde die Beobachtung, dass es ein Leben ohne Leiden, Frustration und Enttäuschung nicht geben kann, sogar zur ersten der berühmten vier edlen Wahrheiten erhoben.

In Deiner Geschichte behandelt eine Erzählebene die Diskrepanz zwischen dem kirchlich-christlichen Verständnis, das dem Leben einerseits so hohen Wert beimisst, andererseits jedoch die Verfügungsgewalt über die nicht-menschlichen Lebewesen beansprucht.

Wie kann – so fragt Deine Geschichte – jemand in die Kirche gehen und sich über den Wert des Lebens belehren lassen, sich selbst womöglich als praktizierender Christ verstehen und trotzdem achtlos oder gar mit einer gewissen Vernichtungsfreude eine kleines Tier töten.

Eine andere Erzählebene behandelt die Frage nach dem Bewusstsein, das Leben wahrnimmt, sei es aus der Perspektive eines Menschen oder einer Spinne. Dieses Bewusstsein, das Leben wahrnimmt, ist das verbindende Glied, das Kleintier und Mensch – mögen ihre Erfahrungen noch so unterschiedlich sein – letztlich als Mitglieder einer einzigen großen Familie auszeichnet. Und die Erzählstimme drückt ihr Mitgefühl mit allen Mitgliedern dieser großen Familie aus.

Soweit finde ich mich in Deiner Geschichte gut zurecht, soweit ist mir das Ganze vom Grundsatz her sympathisch. Nun könnte man fragen, ob Du für ein eher jugendliches Publikum schreiben wolltest, denn für die etwas Älteren finde ich alles zusammen ein wenig zu harmlos. Der Konflikt ist zwar da, aber ich halte nur wenige Menschen für so empfindsam, dass diese Begebenheit stärkere Emotionen auslöst.

Ein erzähltechnischer Mangel an Deiner Geschichte ist meiner Ansicht nach die selbstreflektierende Beobachtungsperspektive:

"Auf einmal fühle ich eine tiefe Verbundenheit zu diesem tapferen kleinen Geschöpf. "

"meine Lippen werden zu eine dünnen Strich"

Die Schreibweise wirkt auf mich seltsam selbst-los, so als würde sich der Erzähler dabei beobachten, wie er eine tiefe Emotion empfindet, in der eigentlich die Selbstbeobachtung aussetzen müsste.

Trotz dieser Kritik habe ich das Ganze gern gelesen und freue mich auf mehr von Dir.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,
danke erstmal für deine Rückmeldung!

Meinen Namen habe ich eigentlich allein deshalb gewählt, weil mich die historische Figur Ghandis sehr beeindruckt. Aber mit der indischen Religion habe ich nichts am Hut außer Toleranz, ich bin sogar mehr christlich eingestellt.

Aber mit deiner weiteren Interpretation liegst du richtig. Ich versuche, mit der Geschichte alle zu kritisieren, die das Leben abwägen, obwohl sie womöglich sogar Anhänger der absoluten, lebensschützenden Einstellung Benthams sind; jene, die die Leben trotz dieser Haltung abwägen, beispielsweise das einer Fliege mit dem eines Hundes.

Die Ich-Person als Erzähler ist auch eher nebensächlich, der Leser soll sich mit ihr identifizieren können.

Die Geschichte ist wirklich eher für Jugendliche gedacht, da ich selbst 16 Jahre alt/jung bin, und ich dieses Thema gerade im Philosophie- Leistungskurs hatte.

Für deine Kritik danke ich dir ebenfalls! Freut mich, dass dir meine bescheidene Geschichte trotzdem gefallen hat.
Grüße!

 

Die Worte des Priesters dringen durch mein Bewusstsein. Respekt vor dem Leben, egal wie klein und unbedeutend es scheint
Mein Deutschlehrer,

lieber Gandhi,

sagte richtigerweise immer "nur die Sonne scheint", alles andere - selbst der Mond - leiht sich nur das Licht, und er erwartete dann die Infinitvkonstruktion, die in unserm Fall hier sogar - es ist doch als indirekte Rede anzusehn (was mich zu der Frage verführt, ob Du die wörtliche Rede fürchtst ...? - durch den Konjunktiv verstärkt wird:

Respekt vor dem Leben, egal wie klein und unbedeutend es [zu sein scheine/ersatzweise: erscheine].
was sich dann fortsetzt
Ich frage mich, ob die kleine Spinne denken [könn(t)e], ob sie jetzt über irgendetwas nachdenk[e/alternativ, weil ja auch Zweifel angebracht sind: nachdächte],
umso mehr, als der Folgesatz die Tendenz ja bestätigt (in einer würde-Konstruktion)
Was sie wohl über die Menschen denken würde, wenn sie es könnte.
usw. - Versuch's mal, ist gar nicht so schwierig, wie's zunächst erscheint (und ich lauf auch nicht weg ...)

Gern gelesen vom

Friedel,
dem dabei ein Kapitel aus dem Grünen Heinrich von Gottfried Keller einfällt ("vom freien Willen"), wo der jugendliche Icherzähler in einem Park einer Spinne zuschaut, wie sie ihr Netz spinnt (was Weberknechte ja gar nicht können) und eine andere, um Nahrung konkurrierende Spinne der Baumeisterin durch Ablenkungsmanöver die Beute abjagen kann ...

Achja, "zermalmen" ist m. E. zwischen zwo Fingern eigentlich schwierig, aber "zerquetschen/zermahlen" wäre da angemessener - was nur ein Vorschlag ist ...

 

Hallo Gandhi,

elegante Spinne, schwitzender Mann und moralisierender Priester; Flucht in die Kühle der Kirche, Fettleibigkeit und Redenredenreden.
Eigentlich eine schöne Dreierkombination, die Spannung verspricht. Die kommt bei dir nicht so auf, weil der Erzähler auch noch selber die moralisierende Perspektive einnimmt.
Dass der Mann die Spinne auf Anhieb erwischt, ist auch wenig spannend. Wörtliche Rede des Priester würde alles verlebendigen. Die Spinne könnte auch "intelligenter" sein und sich nicht einfach nur zerquetschen lassen. Was sagt der Mörder zu seinen Nachbarn?
Mach aus der guten Grundlage einen Kampf auf Leben und Tod, rücksichtslos, erbarmungslos, entlarvend. Probier es!
Herzlichst
Wilhelm

 

Hey Ghandi,

Mitleid mit dem vielleicht Fünfzigjährigen
Ich finde, dass liest sich umständlich. Vielleicht einfach dem Teil mit dem Alter weglassen, wirklich verloren geht da nichts.

Die Leute um mich herum erheben sich zum Credo, auch der feiste Mann vor mir steht auf und wischt seine Finger, seine Mörderfinger, an der Hose ab.
Die "Mörderfinger" würde ich rausnehmen, das klingt etwas überzogen, und sehr, sehr wertend. Das sollte der Leser eingentlich für sich selbst machen.

Jo, das Thema an sich, Diskrepanz zwischen Ideal/Idee und Wirklichkeit, das ist schon gut und interressant. Nur an der Umsetzung happert es für mich. Du hast die Geschichte schon sehr nach Thesen aufgebaut: Der Priester spricht von dem Wert des Lebens. Dem Dicken widerfährt erst Mitleid, dann Hass/Wut, nachdem er die Spinne getötet hat. Das ist schon etwas überdeutlich und hölzern. Ich hab ein wenig das Gefühl, dass du am Anfang halt die Botschaft hattest und die dann halt eine Geschichte draus gebaut hast. Und dabei kommt, für mich, der Geschichtenteil etwas kurz. So ist das eigentlich eine Moralpredigt. Vor allem, weil du die Wertung so klar machst. Der Dicke als das Böse. Da bleibt ja keine andere Deutung übrig, so sehr drängst du das dem Leser auf. Vielleicht wäre es spannender, wenn der Erzähler selbst in so eine Situation kommt, dass er ein Insekt tötet aus Langeweile oder Ekel oder so. Erst hört er die Predigt und sieht die Spinne und sagt sich ja, das Leben hochhalten und so. Und dann geht er nach Hause und tötete eine Mücke auf seinem Arm oder isst Fleisch oder was auch immer. Dann wäre da mehr Ambivalenz drinnen. Dann hätten wir den eigentlich guten Erzähler, der dann plötzlich merkt, dass er selbst das Leben gar nicht so hoch hält, wie er eigentlich dachte, dass auch er für den Tod von Tieren verantwortlich ist. Das wäre spannend. So aber ist mir die Wertung halt zu klar und auch die Botschaft. Das fordert mich als Leser überhaupt nicht.

Ich weiß, das klingt jetzt ziemlich negativ. Aber ich denke, wenn du das beim näcshten Text versucht, also deine Botschaft stärker in eine Geschichte zu verpacken und mehr Ambivalenz reinzubringen, dann hilft dir das viel weiter. Auf jedenfall weiter machen und nicht aufgeben.

Gruß,
Kew

 

Hallo Ghandi,

ehrlich gesagt, kann ich nichts großartig Positives über deine kleine Geschichte sagen. Sie ist mir zu moralinsauer, zu aufgesetzt, zu einfach, zu dichotom, zu schwülstig. Warum ist der Mörder ein schwitzender Fettsack, und keine attraktive Blondine? Warum muss das Setting in einer Kirche sein? Und die Moral: Man sollte jedes Leben würdigen und respektieren, finde ich ebenso fragwürdig. Ich könnte es so nicht unterschreiben. Ich habe aber auch ein anderes Menschenbild als du, bestimmt. Für mich gibt es auch keine Moral. Moral ist immer etwas Konstruiertes, aber das wäre jetzt auch offtopic.

Du 'zeigst' mit dieser Geschichte nichts, da gibt es keine Prämisse, bzw ist diese nicht ausgearbeitet. Du berichtest, eine kleine Szene, und dann das Holzhammerende - Mörderfinger! Kew hat dir in seinem Kommentar Tips gegeben, die ich nur beherzigen kann. Mach es subtiler, erzähle eine zeitliche Strecke, zeige eine Entwicklung - sonst klingt es schnell wie so eine evangelikale Maschinengewehrpredigt.

Gruss, Jimmy.

 

Harte Worte, aber das bin ich gewöhnt. Danke euch trotzdem für die Tipps, und @jimmysalaryman: Ja, ich glaube tatsächlich, dass wir eine andere Vorstellung von Moral haben ;) Danke trotzdem

 

Liebe/r Gandhi (ich wähl diese Anredeform, weil es neben dem Mahatma G. auch weibl. indische Politiker gibt, die den Namen tragen (ohne unbedingt mit der Großen Seele verwandt zu sein) wie seinerzeit Indira Gandhi, die eine Tochter Nerus, des Kampfgefährten Gandhis war -

aus Deinem vorherigen Beitrag vermein ich so etwas wie Resignation zu hören, was ich sehr bedauern würde, denn bedenk einmal, dass man es nicht jedem Recht machen kann und umgekehrt auch jeder anderer Meinung sein darf als man selbst. Da kann manchmal ein dickes Fell und Sturheit hilfreich sein und man muss auch nicht jedem gefallen wollen oder gefällig sein. Selbst ich, eh ein sturer Hund, musste die Kunst des ignorieren-Könnens lernen. Zudem ist noch kein Meister vom Himmel gefallen - was wäre das auch für eine kurze Karriere mit gebrochenem Genick ...

Halt die Ohren steif, meint der

Friedel

 

Resignation nicht, eher Enttäuschung mir selbst gegenüber.
Ich hab es außerdem als unhöflich empfunden, nicht auf Kritik zu antworten, und eine dicke Haut habe ich :)
Viele Grüße

 

Kleines unstimmiges Detail deiner Geschichte, das Spinnenphobikern aber sofort ins Auge sticht: Weberknechte können keine Fäden produzieren. Du musst dir also eine andere Spinne aussuchen. ;)

 

Hatte ich schon beim Hinweis auf Gottfried Keller hingewiesen,

lieber Webmaster,
liebe/r Ghandi.

Warum nicht schlicht und einfach ne schöne, große und fleißige Kreuzspinne nehmen, die auch eher auffällt als ein dürrer Weberknecht.

Warum heißt der eigentlich so im Deutschen? K. A.

Gruß

Friedel

 

Guten Tag,

Ich fand die Geschichte grundsätzlich gut. Sie liest sich flüssig und kurzweilig. Spannung kommt meiner Meinung nach aber leider nicht auf, dafür ist das Ende zu absehbar. Außerdem empfinde ich die letztliche Botschaft über den Wert des Lebens, und die Inkohärenz des Kirchenbesuchers, zu trivial. Aber du hast ja selbst gesagt, dass die Geschichte eher für ein jüngeres Publikum gedacht ist.
Ansonsten muss ich mich bei den Kritiken einigen Vorpostern anschließen, mir ist die Geschichte zu moralisch gehalten.
Mein letzter Kritikpunkt ist noch, dass ich dem Protagonisten das Mitleid mit dem Dicken nicht abnehmen kann:

Der dicke Mann in der Reihe vor mir scheint besonders unter der Hitze zu leiden. Ständig stößt er gequält Luft aus und auf seinem feisten Hals stehen Schweißperlen. Mitleid mit dem vielleicht Fünfzigjährigen steigt in mir auf, aber mein Blick bleibt nach wie vor auf die Spinne gerichtet, die sich jetzt an einem Faden entlang der Steinsäule hochzieht.

Da reißt mich ein weiterer Stoßseufzer des dicken Mannes vor mir aus den Gedanken. Der Schweiß rinnt seinen Hals hinunter, durchnässt sein Hemd. Eine neue Welle des Mitgefühls durchströmt mich.

Zum einen habe ich das Gefühl, dass du den Mann von Anfang an explizit unästhetisch darstellst, was in gewisser Art und Weise bereits ein Foreshadowing ist.
Wenn der Protagonist aber Mitleid empfinden soll, dann wirkt dass hier für meinen Geschmack viel zu aufgesetzt. Vielleicht hätte man dass durch die Gedanken des Protagonisten etwas subtiler gestalten gekonnt.

Letztlich ist die Unglaubwürdigkeit des Mitleides eigentlich sehr schade, da doch genau diese Wandlung von Mitleid zu Ablehnung den Reiz der ganzen Geschichte für mich ausgemacht hat.

Im Groben und Ganzen sehe ich auf jeden Fall Potenzial, vielleicht solltest du dich einmal an einem komplexeren philosophischen Thema versuchen.

Mit freundlichen Grüßen
Louors

 

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