Leben, Leiden, Enttäuschung
Der Gottesdienst in der Kirche dauert eine halbe Stunde. Ich sitze in meiner Bank und versuche, der Predigt des Priesters zuzuhören, die vom Wert des Lebens handelt. Aber meine Augen sind schon lange gebannt von dem Anblick einer kleinen Spinne, die zwei Meter vor mir langsam an einer der vielen, dicken Steinsäulen in der Kirche entlangkrabbelt.
Es ist furchtbar heiß heute, weswegen das kleine Spinnentier die Kühle in der Kirche sucht. Auch die Leute in den Bänken fächeln sich mit ihren Gesangbüchern Luft zu und zupfen hin und wieder an ihren T-Shirts, Blusen und Hemden.
Der dicke Mann in der Reihe vor mir scheint besonders unter der Hitze zu leiden. Ständig stößt er gequält Luft aus und auf seinem feisten Hals stehen Schweißperlen. Mitleid mit dem vielleicht Fünfzigjährigen steigt in mir auf, aber mein Blick bleibt nach wie vor auf die Spinne gerichtet, die sich jetzt an einem Faden entlang der Steinsäule hochzieht.
Ja, denke ich, komm schon, du schaffst es. Bis nach ganz oben!
Aber dann lässt sich der kleine Weberknecht wieder abseilen und bleibt einen Meter über dem Boden hängen.
Die Worte des Priesters dringen durch mein Bewusstsein. Respekt vor dem Leben, egal wie klein und unbedeutend es scheint.
Ich frage mich, ob die kleine Spinne denken kann, ob sie jetzt über irgendetwas nachdenkt. Was sie wohl über die Menschen denken würde, wenn sie es könnte. Wie die Welt aus ihrer Sicht aussieht.
Auf einmal fühle ich eine tiefe Verbundenheit zu diesem tapferen kleinen Geschöpf.
Da reißt mich ein weiterer Stoßseufzer des dicken Mannes vor mir aus den Gedanken. Der Schweiß rinnt seinen Hals hinunter, durchnässt sein Hemd. Eine neue Welle des Mitgefühls durchströmt mich.
Da wendet er den Kopf nebenbei nach links und ich sehe, wie sein Blick an der kleinen Spinne hängenbleibt, die sich jetzt in eleganten Bewegungen an ihrem unsichtbaren Spinnenfaden hinabseilt. Ganz langsam, ganz gemächlich.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich sehe, dass der Blick des Mannes immer noch auf die Spinne gerichtet ist. Vielleicht fragt er sich auch, was sie gerade denkt, geht es mir durch den Kopf. Vielleicht fragt er sich auch, ob-
In einer fast beiläufig wirkenden Bewegung streckt er die Hand aus, nimmt die Spinne zwischen seine Finger und zermalmt sie.
Mein Lächeln gefriert, gerade als der Priester seine Predigt beendet, nicht ohne noch einmal zu betonen, dass jedes Leben wertvoll ist.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten, als ich den zufriedenen Ausdruck in dem Profil des dicken Mannes sehe, bevor er mir wieder seinen kahlköpfigen Hinterkopf zuwendet. Mein Mitleid erstirbt, meine Lippen werden zu eine dünnen Strich.
Die Leute um mich herum erheben sich zum Credo, auch der feiste Mann vor mir steht auf und wischt seine Finger, seine Mörderfinger, an der Hose ab.