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Lebe den Tag

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05.02.2015
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Lebe den Tag

Lisa starrte noch immer auf das rotleuchtende Licht der Ampel. Das tat sie nun bestimmt schon seit fünf Minuten. Aber warum schaltete das dumme Ding nicht endlich um? Weit und breit war Niemand anderes an der Kreuzung zu sehen. Na gut, heute war Sonntag, was den geringen Verkehr erklären würde. Doch immerhin befand sie sich nicht weit außerhalb der Stadt. Wie konnte es also sein, dass keine Menschenseele zu sehen war? Die fast schon gespenstische Stimmung drang von außen in ihren BMW und das 18 Jahre alte Mädchen wollte endlich von dieser verdammten Kreuzung weg. Langsam wurde sie ungeduldig, denn sie musste immerhin noch für ihre Mathe Klausur in der übernächsten Woche lernen.

Lisa war eine gute Schülerin. Sie lernte schon ihr ganzes Leben lang aus purer Leidenschaft, denn sie wusste, wie wichtig die Schule für ihre Zukunft ist. Sie wollte ja immerhin ihren großen Traum erfüllen und Wirtschaftsprofessorin werden. Naja, eigentlich war das anfangs nicht ihr Traum, sondern der, ihrer Mutter. Sie wollte immer schon so gerne Biologie studieren. Sie empfand die Natur und die wunderbare Fauna der Erde schon immer als realen Traum. Aber verdienen konnte man natürlich als Biologin nicht viel. Man konnte dann ja nur von Forschungsgeldern leben und eine gesicherte Zukunft war dies auf keinen Fall. Ihre Mutter hatte halt immer schon Recht. Seit sie in die Grundschule gekommen war, lernte sie für jedes Fach so viel sie konnte und gab immer 110% in der Schule.

Viele Freunde hatte sie ja nicht. Naja das war nicht ganz richtig. Sie hatte schon ein paar Freunde gehabt. Da war einmal ihre beste Freundin Judith und ihr bester Freund Marcel. Beide kannte sie schon aus dem Kindergarten und die drei waren auch ewig lang befreundet. Aber irgendwann kam dann die Zeit, wo sich Lisa auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentrieren und für die Schule lernen musste. Ab diesem Zeitpunkt trennte sich immer mehr ihre Wege, denn als die Beiden vor zwei Jahren Lisa immer wieder auf Partys mitschleppen wollten, erkannte sie ihre alten Freunde nicht mehr und distanzierte sich von ihnen. Sie verstand nie den Sinn in Partys. Man wird in eine Gruppe von Menschen geworfen, die einen nicht kennen und dann kommt noch vielleicht irgendein komischer Typ zu ihr und möchte etwas mit ihr „trinken“. Lisa war zwar noch Jungfrau und hatte bisher noch keinen Freund, selbst geküsst wurde sie noch nie, jedoch wusste selbst sie was diese Umschreibung eigentlich bedeutete. Warum sollte sie ihre wertvolle Zeit mit Menschen verbringen, die sie doch eh nur ausnutzen wollen? Einen Mann konnte sie sich ja immer noch suchen, wenn sie ihr Studium fertig hatte und einen geregelten Tagesablauf führte. Ob das nun drei oder zehn Jahre dauerte war ihr ziemlich egal. Der berufliche Erfolg sollte immer vor dem Privaten stehen, denn wen interessiert es denn in zwanzig Jahren ob sie einmal von einem schmierigen Typen aufgerissen wurde oder nicht. Und auch ihre Unerfahrenheit und jungfräuliches Dasein machte ihr nichts aus, denn wenn sie jemals einen Mann fürs Leben finden sollte, wird dieser sie auch so akzeptieren können, wie sie ist. Oder nicht?

Ihre Freundin hatte damals versucht, mit ihr darüber zu reden, denn irgendwann schien sie besorgt darüber zu sein, was sie von Jungs hielt. Als dann Judith mit 16 einen Freund hatte, hielt sie gar nichts mehr von ihrer scheinbar besten Freundin. Ihre Noten wurden immer schlechter und Lisa glaubte, dass sie mittlerweile in Englisch und Geschichte sogar auf einer 3 stand. Früher, vor drei Jahren, konnten beide noch zusammen intensiv und produktiv lernen und hatten in fast jedem Test eine sehr gute Note. Also mussten ja die Männer daran schuld sein, dass Judith nun so abstürzte. Lisa war stolz darauf, dass sie nicht zu den typischen Flittchen gehörte, die sich schon mit 15 Jahren von ihrem Freund entjungfern lassen. Ihre Freundin teilte damals jedoch nicht ganz ihre Meinung und dann endete die Freundschaft endgültig in einem Streit. Über Marcel wollte sie gar nicht erst nachdenken, denn dieser war unglaublich schlecht in den letzten zwei Schuljahren geworden und ging dann schlussendlich von ihrer Schule. Wahrscheinlich lag das daran, dass er damit anfing ins Fitnessstudio zu gehen. Das fraß ja immer sehr viel Zeit, wie er ihr berichtete. Immer zwei volle Stunden jeden Tag. In den zwei Stunden könnte er seine Hausaufgaben machen, etwas für den nächsten Test lernen oder lesen. Aber nein, der Neandertaler musste ins Studio gehen und wie er selbst sagte „Für die Bitches pumpen“.

Lisa verstand ihre Generation einfach nicht. Alle verschwendeten gute Noten und warfen ihre Möglichkeiten für die Zukunft einfach so wegen sinnlosem Zeug weg. Sie verschwendeten alle ihr Leben. Endlich schaltete die Ampel auf Gelb um und Lisa drückte in Gedanken versunken die Kupplung und startete wieder den Motor. Sie hatte wegen der langen Wartezeit ihr Auto abgestellt, um der Umwelt etwas Gutes zu tun. Grün. Endlich. Lisa fuhr langsam los und schaute auf ihr Ziel, die folgende gerade Strecke Richtung Stadtmitte. Als sie in der Mitte der Kreuzung angekommen war, schaltete sie auf den zweiten Gang. Doch plötzlich hörte sie etwas Lautes, Großes, von der linken Seite her rauschen und auf einmal drückte sie eine gewaltige Kraft auf die rechte Seite ihres Wagens. Sie versuchte zu schreien, doch der gigantische Knall, der ihre Ohren betäubte, verbarg ihr Kreischen unter sich. Alles verbog sich und presste sie mit voller Wucht nach rechts. Auf einmal spürte sie einen unglaublich schmerzhaft, stechenden Schmerz in ihrer Brust und alles wurde auf einmal finster um sie herum.

Als sie wieder zu Bewusstsein kam, sah sie alles verschwommen und es roch nach Rauch und Benzin. Jetzt konnte sie wieder etwas klarer sehen und erblickte ein schreckliches Szenario. Sie sah durch ihre zerbrochene Windschutzschreibe, einige einzelne Flammen auf dem Asphalt und alles war irgendwie zur Seite gedreht. Wie zur Seite? Lag ihr Auto etwa auf der rechten Seite? Von überall flogen einzelne Funken und Glassplitter klirrend herunter, überall rauchte es. Lisa stand unter einem Schock und konnte nichts spüren. Als sie jedoch langsam die Situation begriff, kam ihr das Grauen. Sie hängte in der linken Seite, ihres Autos und starrte auf die eingequetschte rechte Autotür, auf dem das komplette Gewicht ihres Wagens lag. Was war passiert? Sie schaute nach links und sah, dass das gesamte linke Metallgestell mindestens 30cm nach innen gedrückt wurde und fast schon einer Alufolie, in die man einen Apfel eingewickelt und danach wieder herausgenommen hatte, glich. Es musste sie etwas gerammt haben. Aber sie konnte nicht erkennen, was es gewesen war. Ihre Gedanken wurden durch einen unerträglich, stechenden Schmerz in ihrer Brust unterbrochen, worauf sie nach unten blickte und auf ein gewaltiges, blutüberströmtes Stück Metall erblickte, das aus ihrem Torso ragte. Sie keuchte auf, ihr Blut rann aus ihrem Mund und bildete eine kleine, rote Pfütze außerhalb des zerbrochenen Beifahrerfensters. Dort war bereits vorher eine Blutlache gewesen, was darauf schließen ließ, dass sie einige Zeit bewusstlos gewesen war. Konnte sie noch gerettet werden? Gab es überhaupt auch nur die kleinste Chance darauf, diesen Vorfall zu überleben? Wieder nach Hause zu kommen? Während ihre Angst immer größer und die Schmerzen immer unerträglicher wurden, gab die Karosserie mit einem lauten Knarzen leicht nach und sie wurde nach vorn gedrückt. Bei dieser Bewegung spürte sie plötzlich einen höllischen Schmerz in der Magengegend und sie musste mit ansehen, wie sich ein Teil ihres Darms an dem Stück Metall entlangschlängelte und unten in der blutigen Pfütze landete. Sie keuchte auf und wusste nun, dass es keine Chance mehr gab, dies zu überleben.

Sie hatte sich nie wirklich die Frage gestellt, wie es wohl sein musste, zu sterben. Sie überlegte was wohl nun aus ihrer Familie werden würde, sie würden sie bestimmt vermissen. Und da stellte sie sich einen Friedhof vor, an dem sie gerade beerdigt wurde. Ihre Eltern standen weinend neben ihrer Grabstätte, während ihr Bruder gerade ein paar Worte mit dem Pfarrer wechselte, vermutlich um etwas Finanzielles zu klären. Die Vorstellung war noch sehr leer, also versuchte sie sich ihre Freunde dazu zu denken. Doch sie hatte ja keine mehr, sie hatte all ihre Freunde weggeekelt, weil sie nicht mit ihnen einer Meinung waren und deswegen würden diese auch bestimmt nicht zu ihrer Beerdigung kommen. Zweifelhaft versuchte sie nun auf ihr Leben zurückzublicken um zu sagen, dass ihr jetziges Leben toll war und sie es vernünftig ausgekostet hatte. Doch so viel sie sich auch anstrengte, sie fand nichts. Ein paar Momente mit Judith, wo sie als kleine Kinder mit dem Schlitten einen kleinen Berg herunterfuhren und dann beide in den Schnee fielen. Oder als sie mal zusammen in der Urlaub gefahren waren, das war schön. Aber nichts, was in den letzten acht Jahren passiert wäre. Auf einmal wurde ihr alles klar. Sie hatte ihr Leben weggeworfen. Sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, für die Zukunft zu arbeiten, zu lernen und alles zu tun, um besser als andere zu sein. Doch nun musste sie sterben und sie hatte nicht eine Sekunde ihrer Lebens vernünftig genutzt. Sie hätte mit auf all die Partys gehen können, zu denen sie freundlicherweise eingeladen wurde. Sie hätte mit einem Typen rummachen können, der ihr gefällt. Sie hätte einen Freund finden können, sodass sie nicht als Jungfrau sterben musste. Sie hätte Menschen haben können, die sie wirklich vermissen. Sie hätte Erfahrungen sammeln, Spaß haben und ihr Leben leben können. Sie hatte die Wahl. Doch nun war alles zu spät.
Es wurde alles um sie herum immer unwirklicher und dunkler. Als Lisa’s Herz endgültig aufhörte zu schlagen, war alles, was sie noch auf der Erde hinterließ eine kleine Träne, die von ihrer rechten Wange herunterkullerte und in das Blutgemisch tropfte.

Carpe diem

 

Hallo Tobi,
die Geschichte hat mich schon berührt.
Ich fand das Carpe Diem, auch wenn es passend zu sein scheint, etwas zynisch.
Und ein klein wenig ist die Geschichte vorhersehbar.
Aber - nicht schlecht. Wollte ich nur in aller Kürze gesagt haben.

Gruß

castaneados

 

Hallo TobiSchwarzer,

ich finde das Thema deiner Geschichte wirklich interessant und vorallem sehr aktuell.
Ein paar kleine Anmerkungen hätte ich allerdings:

1.In der Szene, in der du den Unfall beschreibst kommt meiner Meinung nach ein bisschen zu häufig "Rechts" und "links" vor. Auf welcher Seite des Autos das Metall eingedrückt ist, ist im Prinzip ja egal.

2. Hat der Fahrer Fahrerflucht begangen? Wundert sich das Mädchen nicht ein wenig, warum ihr niemand hilft?

3. Dein Schreibstil gefällt mir ganz gut, für meinen Geschmack ist er an einigen Stellen allerdings ein bisschen zu sachlich.

Bis auf diese Kleinigkeiten gefällt mir die Geschichte sehr gut.

LG
Alicia

 

Vielen Dank Alicia,

Bei den Richtungen hast du Recht. Dies ist mir jetzt erst aufgefallen.
Was die Fahrerflucht betrifft, was das meine pure Absicht, um nicht zu viel zu verraten und einen möglichst langen und starken Schockmoment zu erzielen, der durch solche Sachen wie "Wo ist denn der Fahrer hin, der mich gerade gerammt hat?" komplett zerstört werden würde, so etwas denkt niemand, der gerade im Sterben liegt.
Und das mit dem fachlichen ist einfach mein Schreibstil, den ich mir in meiner Handelsakademie (ich bin im Moment 18) angeeignet habe.

Aber nochmal danke für das Feedback!

 

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