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Leba
Der Bericht war überfällig. Seit Stunden arbeitete er daran, ohne zu einem Ende zu kommen. Entwurf für Entwurf hatte er erstellt, geändert und schließlich gelöscht. Ein höhnisch leerer Bildschirm grinste in an, als wolle er ihm sagen, dass er niemals fertig werden würde. Keine der Versionen hatte ihm gefallen, keine wurde der Wahrheit gerecht, seinem Berufsethos, seinem Gefühlsleben erst recht nicht. Er war müde, aufgewühlt und zermürbt zugleich, eigentlich wäre nun der rechte Zeitpunkt gewesen, das Büro zu verlassen. Also, ein letzter, ein allerletzter Versuch. Zumindest die Kernaussage würde er noch produzieren, alles anderer wäre Beiwerk, das sich schon irgendwie finden ließe. Getrieben vom Mut der Verzweiflung begann er zu tippen: "Bei dem dokumentierten Treffen konnte ich keine Auffälligkeiten beobachten. Ihre Äußerungen können zwar nicht als alltäglich angesehen werden und entsprechen weder ihrem sozialen Status noch ihrem Alter, aber..."
Aber was? Es gab die Tonaufzeichnung des Gesprächs, an dieser konnte er nicht vorbei. Alles, was er niederschreiben würde, musste sich mit diesem Dokument belegen lassen, außer er würde es vernichten, einfach verschwinden lassen. Er ertappte sich bei einem Gedanken, der ihm fremd sein sollte, erschrak über sich selbst. Was war nur mit ihm los? Hier ging es um alles oder nichts, um seinen Status, seine Zukunft, vielleicht um noch mehr. Er dachte zurück an den in der Erinnerung längst verblichenen Tag, als man ihm angeboten, ja nahegelegt hatte, diesen Beruf zu ergreifen. Zunächst hatte er nicht gewusst, worauf er sich einlassen würde, war getrieben von der Neugier eines jungen Menschen, von den Aussichten auf Einkommen, Status, eine außergewöhnliche Aufgabe, eine spannende Tätigkeit, die Träume eines jungen Mannes eben. Es folgte eine harte Ausbildung und mit ihr die Ernüchterung.
Man hatte ihm beigebracht, Fakten zu formulieren. Die nackten Fakten, sonst nichts. Was war aus dieser Fähigkeit geworden? "Im Rahmen des geführten Gesprächs konnte ich keinerlei Hinweise auf systemfeindliche Einstellungen oder Aktivitäten entdecken. Zwar lassen die besprochenen Themen auf ein reges politisches Interesse schließen, aber ..." Es war ihm, als würde sie ihn aus dem Bildschirm heraus anlächeln, mädchenhaft unschuldig und dennoch irgendwie raffiniert, vielleicht mit einer Spur von Berechnung. "Werden wir uns wiedersehen", hatte er sie gefragt. Wollte er sie noch einmal wiedersehen? Das würde einen weiteren Bericht bedeuten, und er scheiterte schon an diesem. Warum, zur Hölle, hat er diesen Auftrag bekommen? Innerhalb der letzten Woche war sein Leben ins Wanken geraten, eine Abfolge von sieben Tage, welche ganz unspektakulär begonnen hatte:
*
Irgendwo vor der Glasscheibe war die Sonne aufgegangen, wie immer lag ein wolkenloser Himmel über dem Sand, so dass es nötig wurde, die Scheiben abzudunkeln um nur eine abgemessene Menge Lichtes in den Raum zu lassen. Er besaß das Privileg eines Büros mit Aussicht, was nicht selbstverständlich war, denn durch die Scheibe konnte er nach draußen blicken, dorthin wo in der Ferne - gerade noch erkennbar - der Grenzzaun verlief. Ein solcher Ausblick stand nicht jedem zu, die Grenzen menschlicher Zivilisation klar vor Augen zu haben, war ein Privileg.
Eigentlich herrschten in dieser geografischen Lage höllische Verhältnisse, es wäre unmöglich zu überleben, wäre da nicht die große Stadt gewesen, eine hermetisch abgeschirmte Oase all jener Technik, die einen Aufenthalt unter angenehm geregelten Bedingungen möglich machte. Natürlich war es kein Zufall dass sie hier war, dass die menschliche Zivilisation soviel Aufwand betrieb, um menschliches Leben an diesem Ort zu ermöglichen. Ein in der Ferne gerade noch sichtbarer Bohrturm gab die Antwort. Niak stand vor der Scheibe und blickte nach draußen, auf die Morgendämmerung, die Sonne, die aus dem Wüstensand hervorgebrochen war, heller wurde bis er es schließlich nicht mehr ertrug, sie anzusehen. Es war fast unvorstellbar, dass dort Menschen leben konnten, außerhalb der Gebäude, für einen Moment stellte er sich die ketzerische Frage, wofür man dann einen Grenzzaun brauchte, Wachroboter, vorgelagerte Garnisonsbunker?
Es war früh am Morgen, eigentlich hätte er längst mit seiner Arbeit beginnen sollen, doch ohne sich selbst zu verstehen, wollte er vor Beginn seines Tagwerkes noch ein paar sinnfreie Minuten mit dem Betrachten der Landschaft verbringen. Um so peinlicher war es ihm, von der sich einschaltetenden Bildfläche überrascht zu werden, so dass sein General ihn arbeitslos im Raume stehend, zum Fenster hin gewandt sehen musste. Hastig versuchte er sich zu entschuldigen: "General, es tut mir Leid. Ich wollte ... " Noch im Sprechen, begann er, sich über seine Wortwahl zu ärgern. Eine dümmere Antwort hätte er nicht geben können. Überraschend sanft fiel die Erwiderung des Generals aus: "Ist schon in Ordnung. Jeder braucht seine kreativen Pausen. Ich habe einen Spezialauftrag für sie. Auf ihrer Liste steht nur ein einziger Name."
Für einen kurzen Augenblick versank er in ungläubiger Sprachlosigkeit, sei es wegen der ausbleibenden Schelte oder der Ungewöhnlichkeit des Vorfalls. Er versuchte sich rückzuversichern: "Nur ein Name? Ähem, was bedeutet das?" Der Anflug eines Lächelns sickerte über das Gesicht seines Gesprächspartners, um sofort wieder zu verdunsten. "Es handelt sich um eine Frau. Sie bekommen die Daten gerade übertragen. Sie verschickt Kontaktanzeigen, das ist ihr Ansatzpunkt. Ich wünsche, dass sie sich mit ihr persönlich treffen. So bald wie möglich. Haben sie mich verstanden?"
Es gelang ihm nicht, den schafsähnlichen Gesichtsausdruck abzulegen, der sich über sein Gesicht gelegt hatte. Während seiner achtjähringen Karriere als Systeminquisitor hatte es keinen vergleichbaren Fall gegeben, ja Treffen mit "Kunden" kamen vor, selten zwar, aber doch regelmäßig. Die meisten Fälle aber ließen sich vom Büro aus abwickeln. Nur in besonders schwierigen Angelegenheiten war er gezwungen, sich persönlich ein Bild von der Situation zu machen.
"Herr General, habe ich sie richtig verstanden? Kontaktanzeigen?" Die Antwort kam prompt, ebenso wie das Lächeln nun spurlos verschwunden war: "Korrekt. Sie haben alle Freiheiten und können sich voll auf diesen einen Fall konzentrieren. Aber wir erwarten auch gute Arbeit von ihnen!"
Ohne den Kampf gegen die morgendliche Überrumpelung gewonnen zu haben, bemühte er sich, eine bestimmt klingende Antwort zu geben: "Danke General. Ich danke ihnen ... ", worauf er prompt von seinem Befehlsgeber unterbrochen wurde: "Sie sind für alle anderen Aufträge freigestellt. Sobald das Treffen stattgefunden hat, erwarte ich einen Zwischenbericht. Und übertreiben sie die Dinge nicht ..."
Und da war es wieder gewesen, jenes seltsame Lächeln auf seinem Gesicht, das er noch nie gesehen hatte und deshalb auch nicht einzuordnen verstand. Die Bildfläche verdunkelte sich und die Erscheinung samt Lächeln zerging in konturlosem Schwarz. Mit einem unbestimmten Gefühl des Unbehagens ging er hinüber zum Informationssystem, um die Daten abzurufen. Beim Faulenzen ertappt worden zu sein, war ihm peinlich, dafür aber hatte er etwas Besonderes auf den Tisch bekommen, er hatte die Chance, sich Lorbeeren zu verdienen. Die Menge der übermittelten Daten überraschte ihn und deutete auf eine Unregelmäßigkeit hin, irgendetwas war faul.
Er brauchte den ganzen Vormittag, um sich einen Überblick zu verschaffen. Während er Dokument um Dokument durchging, lastete der Verdacht auf ihm, er könne beobachtet werden. Die Situation an sich hatte nichts wirklich Ungewöhnliches, es war ein Teil seines Berufes, von Zeit zu Zeit observiert zu werden, was ihn heute nervös machte, war die offensichtlichen Spuren, dass es sich bei diesem Fall um etwas Außergewöhnliches handeln könnte und dass man ausgerechnet ihn als Sachbearbeiter gewählt hatte. Es waren wohl schon mindestens ein anderer Inquisitor mit dem Fall betraut gewesen, dafür sprach die Vorauswahl der Dokumente. Seine Nervosität nahm zu, als er keine Ansatzpunkte fand. Hätte er dieses Dossier innerhalb einer Routineuntersuchung zu bewerten gehabt, als einen von zehn Namen auf seiner täglichen Liste, so wäre die Akte mit dem Prädikat "unbedenklich" in die Datenbank zurücktransferiert worden. Aber unter diesen Umständen? Nur ein Name.
Den Nachmittag verbrachte er damit, Entwürfe zu produzieren und diese umgehend zu löschen. Eine griffige Antwort auf eine Kontaktanzeige? Er hatte herausgefunden, sie verschickte diese mit seltsamer Regelmäßigkeit, alle von ihrem privaten Informationssystem aus. Auch deutete manches darauf hin, dass es im Regelfall bei einem einzigen Treffen mit den entsprechenden Herren blieb. Das war an sich nicht ehrenrührig, er konnte sich nur nicht des Verdachtes erwehren, sie sei auf der Suche nach etwas, etwas das er noch nicht entdecken konnte. Die untergeordnete Abteilung hatte geschlampt. Es gab keine Tonaufzeichnungen. Warum hatte man bisher keinen Observator auf sie angesetzt? Wahrscheinlich, weil sie das Prädikat "unbedenklich" bekommen hatte. Gegen Abend schickte er eine Antwort an sie ab, nicht etwa weil er überzeugt gewesen wäre, nun einen genialen Text verfasst zu haben, sondern weil er es Leid geworden war, nach etwas Besserem zu suchen.
*
Irgendwo vor der Glasscheibe war die Sonne aufgegangen, wie immer lag ein wolkenloser Himmel über dem Sand und wieder stand er vor der Scheibe, insgeheim erwartend, sein General würde sich nach dem Fortgang der Angelegenheit erkundigen. In der Ferne, zwischen zwei Wachbunkern war eine Föderationsfahne zu erkennen, wie sie vertrocknet in der Gluthitze herabhing, deutlich hin sichtbar nach Süden hin, aber mangels Wind nicht in der Lage ihre Symbolkraft zu entfalten. Für wen steht diese Fahne dort, wem wollen wir eigentlich zeigen, dass hier unser Land beginnt, fragte er sich insgeheim, um sich dann verständnislos seiner Arbeit zu widmen. Das Warten zermürbte ihn. Kein anderer Fall, nur ein Name. Er war es gewöhnt, mehrere Kunden gleichzeitig zu bearbeiten, effektiv und präzise. Und nun? Da war nur sie. Er war gezwungen, die selben Dokumente wieder und wieder zu lesen, sich zu ärgern über die unprofessionelle Arbeit seines unbekannten Vorgängers, dessen oder deren Namen er natürlich nicht erfahren durfte.
Genervt von den Lücken in den Datensätzen oder seiner eigenen Unfähigkeit, die Außergewöhnlichkeit der Situation zu handhaben, schickte er einen Bluthund ab. Er brauchte mehr Material. Würde sie ihm auf seine Nachricht nicht antworten, hatte er ein Problem. Er würde eine neue Identität anfordern müssen, auf eine andere ihrer Anzeigen warten, antworten, und schlimmer sich einen anderen Stil aneignen. Vielleicht ignorierte sie ja auch Antworten ohne Bilddaten, dann wäre das Verfahren unpraktikabel und er käme in ernsthafte Erklärungsnöte. Das verdammte Warten.
Nach einem Tag konzentrierter Arbeit konnte er sich immer noch kein vollständiges Bild von ihrer Person machen. War er ein Versager? Das vorhandene Material war lieblos zusammengetragen. Wer auch immer diese Akte produziert hat, er oder sie verdiente kein Büro mit Ausblick auf die Wüste. Eigentlich müsste er nun einen Observator in Marsch setzen. Doch da waren die Worte seines Generals, "übertreiben sie es nicht", die ihn schließlich daran hinderten, die entsprechende Order abzuschicken. Was hatte er zum Teufel damit gemeint? Was sollte er nicht übertreiben?
Um die Mittagszeit erschien schließlich ihre Antwort, jedoch ohne ihn von seiner Unsicherheit zu erlösen. Ja, sie wollte sich mit ihm treffen, morgen Abend. Warum erst morgen? Ein weiterer Tag würde vergehen, den er sich wieder nur mit diesem einen Fall herumschlagen durfte. Er beschloss, sich am Nachmittag abzulenken. Für den kommenden Abend benötigt er passende Kleidung. Er würde einkaufen gehen, etwas nettes zum Anziehen.
*
Bewusst begann er den neuen Arbeitstag damit, die aufgehende Sonne zu ignorieren. Der Bluthund war zurückgekehrt und hatte gute Arbeit geleistet. Er hatte nun den üblichen undurchdringbaren Berg von Puzzlestücken vor sich liegen. Alle Nachrichten, welche sie über ihr privates Informationssystem versandt oder empfangen hatte. Hinzu kamen die Transaktionen über die Geschäftsadresse, Bankdaten, Bestellungen, Bewegungsprofile. Die nächsten Stunden verbrachte er zunächst mit Sortieren und Filtern. Dann begann er ganz entgegen seiner üblichen Vorgehensweise zufällig einige Dokumente herauszupicken. Einzelne private Nachrichten. Es war Nachmittag, als er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. Er nahm sich die nötige Zeit, die wesentlichen Fakten über ihre Person einzulernen, dann war es Zeit, sich auf den Weg zu machen.
"Ich heiße Niak" sagte er, wobei ihm eine leichte Unsicherheit anzumerken war. Sie lächelte ihn an, konterte seine Aufgeregtheit mit abgeklärter aber dennoch charmanter Routine, um ihm zu antworten: "Hallo, schön dich zu sehen. Ich bin Leba. Du hast mir also diese nette Nachricht geschickt."
Für einen kurzen Moment kehrte Stille ein, nur überspielt vom Rauschen des Brunnens, vor welchem sie sich verabredet hatten. Sie standen vor dem Nachbau eines antiken Marmorbrunnens, Wasser das Symbol des Luxus hier in der Wüste, es war ihre Idee gewesen, sich hier zum ersten Mal zu sehen. Er nahm er den Faden wieder auf: "Weißt du, das ist das erste Mal ... also es ist mir ja irgendwie peinlich, aber ich habe noch nie auf ..."
"Das macht nichts", unterbrach sie ihn mit einem Lächeln, einerseits amüsiert über sein sichtliches Unbehagen, andererseits von aufrichtiger Offenheit, die ihn zum Stellen der folgenden Frage ermunterte: "Und wie hast du dir den Abend so vorgestellt?"
Das Lächeln auf ihrem Gesicht blieb, so als freute sie sich diebisch darüber, ihn aus dem Stand heraus verunsichert zu haben, auf ihn zu wirken einfach nur durch ihre Anwesenheit. "Ich dachte mir, wir bummeln etwas durch die Stadt, unterhalten uns und gehen dann irgendwo ganz spontan etwas essen. Und alles weitere wird sich dann zwanglos ergeben."
Er fand zurück zur nötigen Professionalität, sein Hirn begann die Fakten zu verarbeiten. Durch die Stadt bummeln, sich unterhalten. Irgendwo etwas essen. Wenn das ihr übliches Vorgehen war, erklärte es, warum es keine Protokolle gab. Nun nur nicht widersprechen. "Klingt spannend, ein guter Plan, wollte ich sagen. Einverstanden!" Er ärgerte sich über die Wortwahl, zu steif erschien sie im Nachhinein und wieder musste er an die Worte seines Generals denken, er solle es nicht übertreiben. Verdammt, er war für so etwas nicht ausgebildet worden!
Sie war hübsch, attraktiver noch als er vermutet hätte. Sie verstrahlte eine Natürlichkeit, die kein Bild, kein Video vermitteln konnten. Wie sollte er das Gespräch in Gang bringen? Er ärgerte sich gleichzeitig über seinen laienhaften Auftritt und hatte die Befürchtung zu keinem Ergebnis zu gelangen, wenn er sich daneben benahm.
"Mir war nicht klar, ob du überhaupt antwortest. Du glaubst gar nicht, wie lange ich getippt habe, bis ich mich getraut habe ... und nun stehe ich hier und weiß nicht, was ich sagen soll."
"Das macht nichts. Es gibt ja auch nichts, was wir unbedingt heute Abend erreichen müssten. Wenn wir es schaffen, uns einfach nett zu unterhalten, ist das genug", sprach sie und das Lächeln änderte fast unmerklich den Charakter. Wieder trat eine beklemmende Stille zwischen sie, beiden war klar, dass nun der kritische Punkt ihrer Begegnung gekommen war.
"Du hast also eine Kontaktanzeige aufgegeben, weil du dich mit mir unterhalten willst?" Als er die Frage gestellt hatte, wurde ihm die verletzende Zweideutigkeit bewusst. Was für ein Idiot war er doch! Schadensbegrenzung. "Also ich meine damit, das ist doch schon irgendwie ungewöhnlich, also warum gerade ich? Warum willst du dich ausgerechnet mit mir treffen und unterhalten, vielleicht kann ich das gar nicht ..." Er kam sich vor wie der letzte Trottel, das Blut stieg ihm in den Kopf getrieben von einer Mischung aus Ärger über sich selbst, Scham und dem Verdacht, es bereits in den ersten Minuten versaut zu haben.
Zu seinem Unverständnis war ihr das Lächeln nicht vergangen und seine offensichtliche Verwirrung schien sie zumindest nicht abzustoßen. "Nun, offensichtlich kannst du nett schreiben. Das kann nicht jeder, da kenne ich mich aus. Und das hat mich neugierig gemacht. Wie wäre es, wenn wir etwas herumlaufen?"
Sie machten sich auf den Weg, schlenderten scheinbar ziellos durch die Stadt, wobei er ihr die Führung überließ. Nach einigen Minuten half ihm die Bewegung, sich weiter zu beruhigen. Sie hatten die üblichen Belanglosigkeiten ausgetauscht, wahrheitsgemäß berichtete sie, in einem Restaurant den Empfang zu betreuen, er hatte geantwortet, dass er für die Verwaltung arbeite, als Programmierer eben, was seine offizielle Tarnexistenz war. Es war ihm, als hätte sie unmerklich seltsam reagiert, denn sie fragte nach: "Für die Verwaltung? Das ist ja lustig. Ich habe bisher niemanden kennengelernt, der dort arbeitet!"
Ihr offenherziges Lächeln schien sich zu verändern, einer nach außen hin sichtbaren Anspannung zu weichen, aber vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein. War ihr Blick nervöser geworden? Sah sie sich um, wo die Überwachungskameras angebracht waren? Sie hatten zu unverfänglicheren Themen gewechselt, Freizeitbeschäftigungen. Ja, er reiste gerne, irgendwohin in nördlichere Gefilde, wo man auch unter freiem Himmel herumlaufen könne, ein menschenwürdiges Klima herrsche und die Grenzen der Föderation weit weg seien. War es Neid, der da aus ihrem Blick sprach? Nein, größere Reisen könne sie sich eigentlich nicht leisten, sie verdiene zu wenig, da bliebe nur ein gutes Buch von Zeit zu Zeit, ein Ausflug in die Stadt, ab und zu einmal Essen gehen, es genießen sich von jemand anderem bedienen lassen.
Da war es, sie hatte es selbst ausgesprochen, ganz beiläufig. Bücher! Das war die Information gewesen, welche ihm der Bluthund angeschleppt hatte. Sie schien besessen zu sein von Büchern, forderte Woche um Material an, das sie unmöglich im Stande sein konnte in seiner Gesamtheit zu lesen. Es war, als sei sie auf der Suche nach etwas, als betreibe sie über Jahre hinweg mit Systematik eine Recherche. Aber warum sollte sich eine Rezeptionistin durch historische Literatur wühlen, Zeitungsausschnitte, Nachrichtensendungen uralte Filme besorgen? Das alles war nicht kostenlos, und die Zeit die nötig war um alle diese Materialien zu sichten war enorm.
Wie hatte sie diesen Sachverhalt formuliert? Ein gutes Buch von Zeit zu Zeit. Er bemühte sich seiner Stimme einen warmen Klang zu geben: "Wie lange habe ich selber schon nichts mehr gelesen! Aber vielleicht könnte ich ja ... Gibt es irgendetwas, das du mir empfehlen kannst?" Sie waren stehen geblieben, vielmehr hatte sie angehalten um ihm in die Augen zu sehen: "Das hängt von deinem Geschmack ab. Ich selber stehe auf historischen Krempel. Aber so etwas wird dich wohl nicht interessieren."
Ihre Stimme hatte einen seltsam bestimmten Tonfall angenommen. Für einen Moment wollte er ihr widersprechen, verfiel aber dann in ungewohnte Grübelei: "Was interessiert mich? Ich muss gestehen, eigentlich lese ich nicht, jedenfalls nicht freiwillig. Das hängt vielleicht mit meinem Beruf zusammen. Aber du kannst mich sicher vom Gegenteil überzeugen."Ihre Augen bekamen einen seltsamen Glanz, dann setzte sie an zu einer Erklärung: "Für mich ist es das Fenster zur Welt. Ich habe nicht das Geld, um irgendwohin weit weg zu verreisen. Man verdient nicht viel als Rezeptionistin, jedenfalls nicht so viel wie ein Programmierer der Verwaltung." Sie hatte ohne Verbitterung gesprochen, voller Stolz.
"Und wenn ich dich einfach mitnehmen würde?" Er erschrak augenblicklich über das, was er da gesagt hatte. Welcher Teufel hatte ihn da geritten? Er hatte ihr, der Frau die er seit wenigen Minuten kannte, ein Geschenk angeboten, eine Kostbarkeit, einfach so, die sie nicht annehmen konnte, jedenfalls nicht einfach so. Und seine Worte würden sich auf dem Aufzeichnungsgerät wiederfinden, welches er bei sich trug. Er nahm wahr, wie sie zusammen zuckte, der Hauch von Röte schien ihr ins Gesicht zu steigen.
"So etwas hat mir noch niemand gesagt."
Eine beklemmende Stille trat zwischen die beiden, das Gespräch hatte einen Wendepunkt erreicht, die ungewollte, kontraproduktive Verletztheit, die er mit seinen Worten bei ihr hervorgerufen hatte, wollte nicht mehr weichen. Da half es auch nichts, abzulenken, wieder auf ihr scheinbares Lieblingsthema zurückzukommen, es war vorbei. Sie tauschten ein paar Belanglosigkeiten aus, gingen miteinander Essen, um sich dann zu später Stunde voneinander zu verabschieden. "Werden wir uns wiedersehen", hatte er sie gefragt, worauf sie nett aber unbestimmt gelächelt hatte und eine salomonische Antwort von sich gab: "Willst du das?"
Er war innerlich übergekocht in diesem Moment. Eine seltsame Mischung aus Müdigkeit, Aufgewühltheit, Pflichtgefühl, beruflichem Ehrgeiz und Sentimentalität brodelte da vor sich hin, so dass er nur ein stotterndes "Aber natürlich" herausbrachte und sie dann getrennte Wege in die Nacht gegangen waren.
*
Zu leben bedeutet, sich entscheiden zu können. Er griff zur Tastatur, begann zu schreiben, Satz um Satz nach vorne drängend, ohne einen Blick zurück zu werfen. Automatische Fehlerkorrektur, fertig. Er schickte den Bericht ab, ohne ihn noch einmal durchzulesen. Das war ungewöhnlich für ihn, aber er hatte keine andere Wahl. Hätte er nun angefangen, zu korrigieren, seine Worte zu hinterfragen, alles wäre von vorne losgegangen.
Nun lag noch der zweite Teil der Aufgabe vor ihm, vielleicht der schwierigere. Er verfasste eine kurze Nachricht an sie, dass er sie erneut treffen wolle. Offiziell hatte er nur ihre Chiffre-Adresse aus der Kontaktadresse. Würde sie nun nicht antworten, wäre alles vorbei. Oder er müsste sich etwas anderes einfallen lassen, eine scheinbar zufällige Begegnung in der Stadt arrangieren, eine Vorstellung die ihm widerstrebte. Die bessere Lösung wäre es, sie würde antworten. Welchen Eindruck hatte er bei ihr hinterlassen? Teile seines Auftretens waren schuljungenhaft gewesen, beschämend irrational. Wo kamen diese Patzer her? Er war beauftragt worden, sich mit ihr zu treffen. Nicht mehr und nicht weniger. Und es war seine Aufgabe, eine faire Aufbereitung der Fakten abzuliefern. Darüber hinaus durfte es nichts geben, kein Begehren, nicht die Sehnsucht von ihr gemocht zu werden, sie vielleicht eines Tages wirklich kennenzulernen, als Mensch, ihr näher zu kommen, irgendwohin in Urlaub mitnehmen zu können, wenn sie mehr geworden wäre als eine flüchtige Bekanntschaft.
Ein Gefühl der Einsamkeit überkam ihn. Was nutzte ihm eigentlich sein Status, das gute Geld das er verdiente? Das Treffen mit ihr hatte ihm eine Chance aufgezeigt, die keine war. Eine nette junge Frau, hübsch, intelligent nur leider mittellos ... Ein uraltes Strickmuster, nur pervertiert durch die Tatsache, dass er seinen Status nicht in die Waagschale werfen konnte, nicht durfte, sondern sie als Fall zu behandeln hatte. Was hatte er da für einen Beruf gewählt, in welche Sackgasse sich manövriert? Er schob die Frage nach sich selbst weg und dachte an seine normalen Fälle. Dort kam das Lob die Anerkennung automatisch, war garantiert, eine Konsequenz von Gründlichkeit. Fairness war eines der Grundprinzipien des Systems, eine der Grundfesten der Föderation: Ehre, wem Ehre gebührt. Gerechte Beurteilung von Leistung. Und in den Tiefen seines Unterbewusstseins spann sich der Gedanke fort, mit noch nie da gewesener Deutlichkeit: In seinen zwischenmenschlichen Beziehungen funktionierte das Muster von Wohlverhalten und Belohnung nicht. Hier ging es nicht darum, was er geleistet hatte, sondern darum, wer er war. Und wenn er ehrlich mit sich selber sein sollte, waren das zwei verschiedene Dinge. Wer war er? Wie hatte er auf sie gewirkt, als Mensch? Würde sie ihm antworten?
Die Bildfläche riss ihn aus seinen Gedanken, es passierte, was passieren musste. "Ich habe ihren Bericht durchgesehen", die Stimme des Generals ließ nicht unbedingt das Beste erhoffen. "Nicht gerade aussagekräftig, was sie da abgeliefert haben. Gerade von ihnen hätten wir etwas mehr erwartet."
"Ich bin noch an dem Fall dran" antwortete Niak, und zog eine Karte aus dem Ärmel, von welcher er nicht wusste, wieviel sie wert war. "Sie hatten gesagt, ich solle es nicht übertreiben beim ersten Mal. Ich dachte es ist besser, erst einmal Vertrauen ...", worauf ihn der General unterbrach: "Sie müssen wissen, was sie tun. Und das Ergebnis zählt, nichts als das Ergebnis. Und halten sie mich bitte auf dem Laufenden."
*
Sie berührte seinen Arm. Es war eine körperliche Berührung gewesen, sie war von ihr ausgegangen, während sie dabei waren, ziellos durch die Stadt zu schlendern, um einen Ort zu suchen, deren Eigenschaften nur sie kennen zu schien. War es ein Zeichen, Zufall, Hinweis darauf, dass sie begann Vertrauen, Zutrauen zu ihm zu bekommen?
"Weißt du, was die französische Revolution war?" Sie lächelte ihn an, als wollte sie ihn testen.
"Nun so ungefähr. In Geschichte war ich nie so besonders gut. Wie kommst du gerade darauf", fragte er und erwiderte ihren Blick in einer Mischung aus Unverständnis und sichtlichem Amüsement. Sie schlenderten weiter.
"Nun ich lese da gerade so ein Buch. Du weißt ja, ich und meine Bücher ..."
"Und was steht drin?"
"Es ist ein Geschichtsbuch, ein älteres", ihr Gesicht hatte einen neckischen Ausdruck, als wäre sie in ihrem Element angekommen und sie fuhr fort, "Letztlich wird dort behauptet, dass die ganzen Ideen, wie eine Gesellschaft auszusehen hat, von damals stammen. Dass die Welt, in der wir leben eine logischen Fortsetzung dessen ist, was damals passiert ist. Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit. Glaubst du daran?"
"Das ist aber arg politisch. Ich dachte, wir wollen einen netten Abend verbringen."
"Du interessierst dich also nicht für Politik?" Ihre Stimme hatte einen sichtlichen Ausdruck des Bedauerns angenommen, sie schmollte offensichtlich, was ihn dazu trieb, seine Aussage zu präzisieren, wenn auch ungern.
"Politik, nein eigentlich nicht, aber vielleicht liegt es daran, dass man sich einfach keine Gedanken macht, über Dinge, die gut funktionieren. Und du?"
"Gut funktionieren? Da hast du recht. Wir müssen sogar Zäune bauen und bewachen, um nicht von denen überrannt zu werden, die auch zu uns hierher wollen", sprach sie in einem Tonfall des Missfallens, den er noch niemals gehört hatte. Sie waren stehen geblieben. Vor ihm stand nicht mehr die kleine Rezeptionistin aus dem unteren Teil der Stadt. Diese Frau war mehr, so unendlich viel mehr und mit einem Schlag war ihm bewusst geworden, dass sie ihm auch um so vieles mehr bedeutete als sie ihm bedeuten durfte. Alles was sie gesprochen hatten, noch sprechen würde, war Teil jener Tonaufzeichnung, die in ihrem Dossier landen musste. Wie konnte er verhindern, dass sie sich um Kopf und Kragen reden würde? Und wie konnte er bei alledem seinen eigenen Kopf retten?
"Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder. Das hat mich am meisten beeindruckt", setzte sie ihren Vortrag fort. Wie konnte er sie nur zum Schweigen bringen? Er entschied sich für den Frontalangriff: "Warum interessierst du dich dafür? Du könntest doch ein ganz normales Leben führen, eine Partnerschaft betreiben, vielleicht Kinder haben. Aber statt dessen vergräbst du dich in irgendwelche uralten Bücher, in denen Sachen stehen, die sowieso niemanden interessieren."
In ihrem Gesicht war offensichtliche Missbilligung abzulesen. Er hatte sie getroffen, verletzt und zum Kampf gereizt: "Was heißt hier, das interessiert niemanden mehr? Die Welt in der wir leben, unsere Freiheit, das System das wir entwickelt haben! Interessiert dich denn gar nicht, woher das alles kommt? Die Welt, wie sie heute ist, warum ist sie so? Wir sitzen auf der gemütlichen Seite hier, worüber wir dankbar sein müssen. Aber warum gibt es zwei Sorten von Menschen, uns und die anderen draußen vor dem Zaun?"
Er zuckte mit den Schultern, um zu antworten: "Nun, das System funktioniert. Wir haben ein friedliches Miteinander organisiert, was Generationen vor uns nicht geschafft haben. Wieso soll ich da noch groß überlegen und mir Gedanken machen, über irgendwelche Hintergründe?"
Sie waren wieder losgeschlendert, er hatte sie verärgert, zumindest irgendein wichtiges Bild zerstört, das war unverkennbar. Ein unangenehmes Schweigen hatte sich breit gemacht, welches er gerne beendet hätte, nur wie? Würde sie ihn wiedersehen wollen? Es war nun ihr drittes Treffen, eine gewisse Vertrautheit hatte sich entwickelt, sie kannten sich so weit, dass sie einen Umgang miteinander entwickelt hatten, aus welchem alle vordergründige Unsicherheit gewichen war. Und darunter? Er war zerrieben zwischen der unbestreitbaren Faszination, die diese Frau auf ihn ausübte und den Anforderungen, die sein Beruf an ihn stellte.
Gab es einen Ausweg? Es schien einen zu geben, die Antwort war, morgen einen Abschlussbericht zu verfassen. Wenn er sie entlasten würde, wäre sie danach eine ganz normale freie Frau, und die Kontakte welche er in seinem Privatleben unterhielt, gingen niemanden etwas an. Aber würde sie ihn jemals wieder sehen wollen nach diesem Abend? Immer noch kannte er offiziell noch nicht ihre wirkliche Identität. Sie hätte die Möglichkeit, spurlos aus seinem Leben zu verschwinden, außer er würde die Möglichkeiten nutzen, die ihm sein Beruf bot.
*
Irgendwo vor der Glasscheibe war die Sonne aufgegangen, er war Stunden früher ins Büro gekommen, hatte die schlaflose Nacht aktiv beendet, um sich in sein Tagwerk zu stürzen. Es war ein Bericht zu formulieren, ein Abschlussbericht. Er würde einen Schlussstrich unter die Angelegenheit setzen. Ein normales Leben wartete auf ihn, als er zur Tastatur griff. "Bei dem dokumentierten Treffen konnte ich folgende Auffälligkeiten beobachten, welche in beiliegender Tonaufzeichnung im Wortlaut nachvollzogen werden können ..." Einen Moment lang hielt er inne, um eine Auswahl zu treffen. "Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.." War dieses Aussage suspekt oder nicht? War sie ein Zeugnis ihrer Subversion? Er verfiel ein einen Kampf mit sich selbst, der nach Stunden damit endete, dass er das gesamte Dokument löschte und erneut von vorne begann.
*
Durch die Fensterfront herein fiel geregelt abgedunkelt die gleißende Helle der Außenwelt. Der Saal war in den obersten Etagen des Verwaltungskomplexes angebracht, so dass man weiter nach draußen blicken konnte als von Niaks Büro aus. Die Wüste breitete sich aus in ihrer makellosen Leere, nur durchschnitten von jener stählernen Trennlinie, welche die Grenzen der Föderation bezeichnete. Man konnte mehrere Fahnen erkennen, die zwischen den Bunkern aufgepflanzt waren und sich in der unbewegten Gluthitze weigerten, potentiellen Neuankömmlingen den Beginn des gelobten Landes anzukündigen, statt dessen schlapp und charakterlos von ihren Masten herabhingen. Hier beginnt heiliger Boden sollte sie sagen hinausrufen in die Leere, taten es aber nicht, denn da war niemand der es gehört hätte, sondern nur unbewegte heiße Luft.
Doch Niak konnte alles dieses nicht sehen, sein Platz war mit dem Rücken zum Fenster angeordnet, so dass nur der Vorsitzendes des Tribunals den Blick hatte nach draußen. In sicherer Distanz konnte Niak zu Leba hinüber blicken, aus deren Gesicht alle hart erkämpfte gemeinsame Vertrautheit und jegliches Lächeln gewichen war. Es war ihm, als wolle sie ihm sagen, wir sind nicht füreinander bestimmt. Oder war es der Stille Vorwurf, dass er die Chance vergeben hatte, die ihnen beide eine Zukunft geben hätte können.
Der Vorsitzende eröffnete die Verhandlung, durchbrach das unangenehme Schweigen: "Niak, ihnen wird vorgeworfen, ihre beruflichen Pflichten als Systeminquisitor verletzt zu haben ..."
Er hörte nicht auf die weiteren Vorwürfe, welche im Detail seine Vergehen aufzählten. Der Ausgang war klar, den nächsten Sonnenaufgang über der Wüste würde er nicht sehen, nicht von seinem Büro aus. Sein Blick wanderte hinüber zu Leba, welche ausdrucklos auf ihrem Platz saß. Verflogen war jenes Lächeln, die süchtig machende Herzlichkeit. Wer war diese Frau? Auch jetzt kannte er die Antwort nicht, würde sie niemals bekommen. Was würde ihm von ihren Gesprächen, der kurzen Zeit fraglichen Glücks miteinander bleiben? Vielleicht war es ein einziger Satz: "Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder"