Mitglied
- Beitritt
- 26.04.2011
- Beiträge
- 1
- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 2
Leb wohl
Leb wohl
Die Türe öffnet sich. Mit langsamen Schritten betritt Barbara das Zimmer ihres Sohnes und schaut sich um. Seit den gestrigen Tag hat sich nichts im Zimmer verändert. Der Geruch ihres Sohnes schwebt durch das ganze Zimmer. Sie setzt ich auf das Bett und fängt an zu weinen. "Warum nur? Warum hat mein Sohn sich das Leben genommen?". Diese Fragen bleiben wahrscheinlich für immer unbeantwortet. Für einen kurzen Augenblick, hat sie gehofft, dass ihr Sohn David sich zu ihr setzt und sie tröstet. So wie er es oft gemacht hat, nachdem sich seine Eltern mal wieder gestritten haben. Nach ein paar Minuten, nimmt Barbara das Kissen ihres Sohnes, in der Hoffnung ihn dadurch Nahe zu sein. Was sie dann findet, beantwortet all die Fragen, die seit den Tod ihres Sohnes, ständig in ihren Kopf rumschwebten. Sie nimmt das karierte Buch in die Hand und schlägt es auf. Auf der ersten Seite befindet sich ein leeres Stück Papier. Sie spielt kurz mit den Gedanken, das Buch wieder weg zu legen, doch dann blättert sie weiter.
22. August 2010
Liebes Tagebuch
Eigentlich weiß ich nicht so Recht, warum ich mir überhaupt so ein dämliches Buch angeschafft habe. Ich bin 16 Jahre alt, männlich und schreibe ein Tagebuch. ist das normal? Naja, was ist heutzutage schon normal? Ich habe mir dieses Tagebuch gekauft, weil ich hoffe, dass es mir besser geht, sobald ich meine Gedanken auf ein leeres Stück Papier schreibe. Normalerweise sollte man über seine Probleme reden. Doch mir hört eh keiner zu. Warum auch. Bin doch nur ein schwuler Junge, der planlos durchs Leben streift. Ja ich bin homosexuell. Als ich 13 Jahre alt war, wurde mir klar, dass irgendwas nicht mit mir stimmt, beziehungsweise, dass ich anders bin als die anderen Jungs aus meiner ehemaligen Klasse. Die Gespräche über die Mädchen, mit denen die Jungs ständig geprahlt haben, haben mich nicht interessiert. Stattdessen fand ich die Gespräche zwischen den "Weibern" viel anziehender. "Jonas ist ja so süß. Ob er mit mir gehen würde?". Diese Unterhaltungen, fand ich höchst interessant. Denn ich fand Jonas auch süß, doch dieses konnte ich ja nicht preisgeben. Ein Junge, der ein anderen Jungen süß findet. So was gibt es nicht. Wie dem auch sei, ich will jetzt auch nicht meine ganze Lebensgeschichte hier verewigen. Aber eins will ich noch loswerden. Ich bin seit 4 Monaten mit einen Jungen zusammen. Wir sind glücklich, doch es ist schwer ,der Welt das zu zeigen, da ich Angst vor der Reaktion der Gesellschaft habe. Ich habe mir aber vorgenommen mich zu "outen". "Outen" ist ein Begriff der Schwulen - und Lesbenbewegung und umschreibt das Coming-Out homosexueller Personen. Ich will einfach nicht mehr das Versteckspiel mit spielen und zu meinen Gefühlen stehen.
David
Barbara hält für einen Moment den Atem an. Ihre Hände zittern. Doch sie hofft, mehr zu erfahren und blättert weiter.
23. August 2010
Liebes Tagebuch
Seit meinen letzten Eintrag sind 24 Stunden vergangen und in diesen 24 Stunden ist einiges passiert. Wie ich gestern erwähnt hatte, wollte ich mich outen. Es fiel mir nicht leicht. Ich saß den ganzen Tag draußen in der Sonne mit meinem Freund und habe spekuliert, wie ich es am besten meiner Mutter sage. Ich kann ja nicht einfach zu ihr gehen und sagen: "Mama, ich bin schwul“. Das würde mit Sicherheit ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen. Erst die Trennung meiner Eltern und jetzt das. Es ist jetzt circa zwei Jahre her, als meine Eltern sich getrennt haben. Damals waren sie noch sehr glücklich zusammen. Sie haben jede freie Minute miteinander genossen. Doch von einen Tag auf den anderen, verlor mein Vater seine Arbeit. Er fing an zu Trinken. Ich sprach ihn darauf an, warum er es tat, und er meinte nur, dass es ihn dadurch besser geht. Ich habe mir zuerst nichts bei gedacht. Doch von Tag zu Tag, wurde es immer schlimmer. Ich kam mittags von der Schule und sah ihn trinkend auf dem Balkon sitzen, während meine Mutter daneben stand und die Wäsche aufhing. Ich wollte ihn erzählen, wie mein Schultag war. Doch dazu kam es nicht. Ich bekam mit, wie er meine Mutter anschrie, und bevor ich überhaupt ein Wort aussprechen konnte, versetzte er ihr einen Schlag ins Gesicht. Sprachlos stand ich da, doch nach nicht all zu langer Zeit lief ich ins Zimmer und fing an zu weinen. Warum schlägt mein Vater meine Mutter, die er doch eigentlich so sehr liebte?. Der Gedanke an die Zeit damals, berührt mich heute noch sehr. Ich könnte weinen. Es war eine sehr schlimme Zeit für mich und für meine Mutter. Deshalb wollte ich ihr auch eigentlich nicht erzählen, dass ich schwul bin. Aber ich musste es loswerden, da ich damit nicht alleine stehen wollte. Ich hab gehofft, dass sie es akzeptiert. Doch das tat sie nicht, im Gegenteil. Mit den Worten: „Du bist nicht mehr mein Sohn“, packte sie mich am Arm und setzte mich vor die Tür. Ich hatte eine andere Reaktion erwartet, denn immerhin haben wir beide viel durch gemacht, und ich dachte, dass sie es verstehen wird. Die Bindung zwischen Mutter und Sohn, die gibt es nicht mehr. Jetzt stehe ich alleine da. Ich bin jetzt erstmal bei meinem Freund untergekommen. Seine Eltern haben sein Outing akzeptiert.
David
Die berührenden Sätze ihres Sohnes, lassen Barbara in Tränen ausbrechen. „Was bin ich nur für eine Mutter gewesen? Wäre er noch am Leben, wenn ich ihn so akzeptiert hätte, wie er ist?“Sie fühlt sich schuldig und weiß in diesem Augenblick nicht, warum sie nicht zu ihrem Sohn gehalten hat. Denn jetzt wird ihr klar, dass ihr Sohn sie in solch einer schwierigen Situation gebraucht hätte. Erst die Trennung und dann die Verachtung der eigenen Mutter. Ihre mit Tränen gefüllten Augen, lassen die Sätze auf der nächsten Seite, schwer lesbar erscheinen. Aufgrund ihrer zittrigen Hände, verliert sie das Buch. Für einen kurzen Moment, überlegt sie, das Zimmer zu verlassen, doch sie fühlt sich ihren Sohn sehr Nahe, sobald sie seine Sätze ließt. Sie hebt das Buch wieder auf. Die letzte Seite ist aufgeschlagen.
12. Oktober 2010
Liebes Tagebuch
Ich kann nicht mehr. Nach der Trennung meines Freundes, sehe ich keinen Sinn mehr, weiter zu leben. Meine Mutter weiß nichts von der Trennung, denn sie weiß nicht, dass es IHN noch gibt. Nach den erschütternden Worten: „Du bist nicht mehr mein Sohn“, habe ich beschlossen, mein „Schwulsein“ weiterhin heimlich weiter zu führen. Sie ist halt der einzige halt für mich, denn ich habe schon alles verloren was mir sehr wichtig war. Meine Freunde haben mich nur verspottet, als die erfahren haben, dass ich mit einen Jungen zusammen war. Ich mochte nicht mehr zur Schule gehen, da ich Angst hatte. Angst vor meinen eigenen Mitschülern, die einst meine Freunde waren. Warum können sie mich nicht einfach so akzeptieren wie ich bin? Da ich mich ganz alleine, und verachtet von der Gesellschaft, gefühlt habe, habe ich begonnen Drogen zu nehmen. Ich hab gehofft mein Kummer, mit Hilfe dieser „Tabletten“, zu vergessen. Für eine zeitlang, hat es mir auch sehr geholfen. Ich war in einem Rausch und vergaß alles um mich herum. Fühlte mich frei. Doch nach einiger Zeit, wurde mir klar, dass die Drogen mich nur für einen kurzen Moment „stillen“ konnten. Denn sobald ich mich wieder in den Alltag begab, waren die Probleme, die mich ja jetzt schon seit langer Zeit auf Schritt und Tritt verfolgen, wieder da. Mir wurde klar, dass ich von meinen Problemen nicht weglaufen kann, denn sie kommen immer wieder. Aber es hilft mir, sie auf ein leeres Stück Papier zu übertragen. Aber ich kann nicht jeden Tag in dieses „dämliche“ Buch schreiben. Zwar hilft es mir, aber die Probleme bleiben weiterhin. Das einzige was jetzt noch helfen kann, ist der Tod. Wenn ich tot wäre, dann hätte ich keine Probleme mehr. Mich vermisst doch sowieso keiner. Die Sätze, die ich jetzt schreiben werde, werden die letzten sein.
Leb wohl, liebes Tagebuch, und danke für deinen „Halt“.
Barbara bricht innerlich zusammen. Sie ließt den letzten Satz immer und immer wieder und kann es nicht glauben, dass dies die letzten Worte ihres Sohnes waren.„Warum habe ich nicht gemerkt, dass es ihn so schlecht geht?“ Sie fühlt sich schuldig. Jetzt weiß sie, wie er sich gefühlt hat. Drogen, Verachtung der Gesellschaft, Trennung der Eltern, „Freunde“, die ihn verspottet haben und die Trennung vom Freund, haben zum Selbstmord des Sohnes geführt. Ein einsamer, verschlossener Junge der keine Hilfe bekam, nahm sich das Leben. Sie legt das Buch wieder unter das Kissen. Steht auf, und verlässt das Zimmer.
Copyright by Kim Hansen...