Leb wohl, mein Engel!
Er hielt sie fest, sah ihr noch einmal tief in die Augen. „Ich liebe Dich! Bitte verlass’ mich nicht!“ Ihr Blick blieb nahezu regungslos, sie starrte durch ihn hindurch, als ob sie hoffte, hinter ihm eine Antwort zu finden. Doch sie sagte nichts, nur eine Träne bahnte sich einen Weg über ihre Wange. „Du kannst mich doch nicht einfach verlassen!“ Er strich ihr mit der Hand übers Haar, wischte die Träne aus ihrem Gesicht. Es gab kein Zurück, auch wenn er es nicht wahr haben wollte, sie würde ihn dennoch verlassen. Noch ein paar Sekunden hielt er sie in seinen Armen. Dann gab er ihr einen Abschiedskuss auf die Stirn, konnte dabei noch einmal den Duft ihrer Haare einatmen. Dabei erinnerte er sich an den Moment, als er ihr das erste Mal seine Liebe geschworen hatte. So wie jetzt hatte er sie umarmt und fast ängstlich hatte er ihr die drei Worte zugehaucht. Damals hatten diese Worte noch ein wundervolles Strahlen in ihr Gesicht gezaubert. Aber jetzt konnten sie nichts mehr bewirken, ihre Liebe war erloschen und es war Zeit, Abschied zu nehmen. Also ließ er sie los.
Die vorangegangenen Nächte waren so heiß gewesen, dass ein erholsamer Schlaf unmöglich war. Doch in der letzten Nacht hatte es endlich wieder geregnet und so war es noch angenehm kühl im Haus. Der Radiowecker hingegen beschallte Jan seit einigen Minuten schon wieder mit südamerikanischen Rhythmen und die Wettervorhersage prophezeite erneut einen heißen Tag. „Kommst Du? Kaffee ist fertig!“, abrupt hatte sein geliebtes morgendliches Dösen ein Ende. „Komm’ gleich.“, murmelte er in sein Kopfkissen. Ihm war klar, wie sich der Morgen entwickeln würde, bliebe er jetzt noch ein paar Minuten liegen. Annas Stimme würde beim nächsten Weckruf einen Klang haben, den er nicht ausstehen konnte. Ohnehin hatte ihre Stimme gerade schon etwas gereizt geklungen, wahrscheinlich war sie selbst etwas zu spät aufgestanden und hatte nun Mühe, ihren täglichen Ablauf in einen kleineren zeitlichen Rahmen zu pressen. Jan entschied sich für einen stressfreien Morgen, zog die Decke beiseite und setzte sich auf die Bettkante. Nachdem er seine Schlappen angezogen und den Radiowecker zum Schweigen gebracht hatte, machte er sich auf den Weg zur Schlafzimmertür. Am Fenster angekommen hielt er inne und warf einen müden Blick hinaus auf die Straße. Der Asphalt war noch feucht und die Bäume beidseits der Straße verstreuten noch vereinzelte Wasserperlen. Doch inzwischen tauchte die Sonne schon wieder alles in ihr typisches Orange und es würde kaum noch eine Stunde vergehen bis sie den letzten Tropfen aufgesogen hatte. „Jetzt komm’ schon! Ich bin eh schon spät dran.“ Seine Hoffnung auf einen harmonischen Morgen war dahin. Er wusste, dass Anna nun schon einigermaßen sauer war. Jetzt durfte er keine Zeit mehr verlieren, er wandte seinen Blick vom Fenster ab und verließ schnellen Schrittes das Schlafzimmer.
Als er ins Badezimmer kam, stand Anna vor dem Spiegel. Sie musste tatsächlich spät dran sein, denn für gewöhnlich war sie schon angezogen, wenn Jan aufstand, heute hatte sie es nur bis zur Unterwäsche geschafft. Vor ihr war ein beachtliches Arsenal an Schminkutensilien aufgebaut und gerade war sie dabei, irgendein Puder in ihrem Gesicht zu verteilen. Schon oft hatte Jan ihr gesagt, dass sie das nicht nötig hätte. „Davon versteht ihr Männer doch eh nichts.“, so oder so ähnlich war ihre Antwort in der Regel ausgefallen, also hatte er es mit der Zeit bleiben lassen, ihr damit in den Ohren zu liegen. Auch jetzt biss er sich auf die Zunge. Stattdessen genoss er den Anblick dieser halbnackten Frau. In diesem Augenblick, da er hinter ihr stand und sie beobachtete, stellte er wieder einmal fest, wie schön sie war. Die glatten, blonden Haare bedeckten fast die Hälfte ihres schmalen Rückens. Ihre leicht gebräunte Haut glänzte immer noch wie Seide. Der knappe Slip bedeckte nur zum Teil ihren kleinen aber dennoch weiblichen Hintern, der schon seit Jahren der Schwerkraft zu trotzen schien. An ihren Beinen konnte man am ehesten erkennen, dass Anna fast jeden Tag ihre Laufschuhe anzog und einige Kilometer lief. Die Muskeln an Schenkeln und Waden zeichneten sich deutlich ab und fügten sich perfekt in Annas athletisches Erscheinungsbild ein. Jan konnte nicht anders, er musste sie jetzt berühren. So ging er die wenigen Schritte bis zu ihr, schlang seine Arme von hinten um ihren Körper, schmiegte sich mit seinem Oberkörper fest an sie und küsste zärtlich ihren Hals. Er wusste, was er damit bei Anna auslösen konnte. Gerade wollte er mit seinen Händen auf Wanderschaft gehen, etwas weiter hinauf sollte es gehen, denn der Blick auf ihr Dekolleté, das er jetzt im Spiegel sehen konnte, verursachte ihm Gänsehaut am ganzen Körper. Jan wollte Anna jetzt nicht mehr nur berühren, er wollte sie zurück ins Bett schaffen und mit ihr schlafen. Und es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie sich nur zu bereitwillig darauf eingelassen hätte. Doch sie stieß in von sich weg, drehte sich um und schrie ihn an: „Sag' mal, hast Du nicht verstanden, was ich vorhin zu Dir gesagt habe? Ich bin spät dran und wenn Du mir mal zuhören würdest dann würdest Du wissen, dass ich heute eine wichtige Besprechung habe und ich kann's mir nicht leisten, zu spät zu kommen.“ Schlimmer als ihre Worte war ihr Blick. Aus ihren sonst so strahlend blauen Augen schoss sie mit Giftpfeilen auf Jan, der für einen Moment gar nicht wusste, wie ihm geschah. „Du verdammter Idiot!“ Bevor er auch nur irgendetwas sagen konnte, rauschte Anna aus dem Bad und schlug die Tür laut krachend hinter sich zu.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Jan wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Dennoch stand er immer noch unter Schock. In den vergangenen Jahren war es noch nie zu so einem Ausbruch gekommen. Sicher hatten sie sich auch gestritten, aber nie war einer von ihnen laut oder persönlich geworden. Wie eine Statue stand er immer noch vor'm Spiegel und plötzlich kroch ein Gefühl der Angst in ihm hoch. Es breitete sich in seinem ganzen Körper aus und augenblicklich wurde ihm eiskalt. Noch ein paar Momente konnte er sich dagegen wehren, doch dann sah er im Spiegel, dass er gegen Angst, Schmerz und Tränen keine Chance mehr hatte. Als ob er selbst nicht dabei zusehen wollte, wie er gerade zusammenbrach, schlug er seine Hände vor's Gesicht und ergab sich seinen Gefühlen. Erst nachdem er gehört hatte, wie die Haustüre ins Schloss fiel, richtete er sich langsam wieder auf und wusch die Tränen auf seinem Gesicht mit viel kaltem Wasser weg.
Den Tag im Büro seiner Anwaltskanzlei erlebte Jan wie in Trance. Er wies seine Sekretärin an, alle Termine des Tages zu verschieben. Danach schloss er sich ein und begann langsam, seine Gedanken zu ordnen. Er dachte an den Tag ihrer ersten Begegnung, eine Studentenparty. Bevor er Anna getroffen hatte, war Jan eher schüchtern gewesen, doch bei ihr war es Liebe auf den ersten Blick und so hatte er alle Bedenken von sich geworfen. Noch einmal durchlebte Jan die letzten zehn Jahre. Stets hatte Anna im das Gefühl gegeben, dass sie ihn ebenso liebte wie er sie, doch in den letzten Wochen war alles anders geworden. Im Laufe dieser Zeit hatte sie ihn oft von sich ferngehalten, ihn immer weiter von sich weg getrieben. Kaum noch intime Momente, kaum Gespräche, es war sehr still um sie beide geworden. Eine undurchdringbare Wand hatte sich zwischen ihnen aufgebaut und es war ihm bis heute nicht gelungen das Werkzeug zu finden, mit dem er sie einreißen konnte.
Trotz alledem wusste Jan aber auch, dass er Anna über alles liebte. Er war nicht bereit aufzugeben. Am heutigen Abend würde er sie zur Rede stellen, ihr seine Gedanken mitteilen und um seine und ihre Liebe kämpfen.
„Ich werde Dich verlassen, Jan.“, die Worte kamen nur sehr zäh über ihre Lippen, „Du hast bestimmt gemerkt, dass in der letzten Zeit zwischen uns 'was nicht stimmt.“ Mehrmals musste sie tief einatmen, um fortfahren zu können: „Es liegt nicht an Dir. Ich weiß, ich habe Dich geliebt, aber ich würde Dich belügen wenn ich behaupte, dass das immer noch der Fall ist.“ Noch einmal holte sie tief Luft. „Bitte versteh', ich kann nicht mit Dir zusammen leben, denn jeder weitere Tag wär' eine einzige Lüge.“
Jedes ihrer Worte fühlte sich an wie ein Geschoss, das punktgenau sein Herz traf. Er spürte nichts mehr, sein Blick war leer, der Boden unter ihm wankte. Ihre Entscheidung war endgültig und er wusste, kein Wort von ihm könnte sie noch aufhalten.
Ganz behutsam legte er sie auf das Sofa und setzte sich neben ihren Kopf. Minutenlang saß er einfach nur da und starrte ins Leere. Rings um das Messer in ihrer Brust färbte sich inzwischen der Stoff ihres Kleides blutrot. Als die ersten Tropfen vom Sofa auf das Parkett fielen, sagte er: „Leb wohl, mein Engel!“, stand auf und verließ das Haus.
Ende
by Sky