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Lea Culpa
Leise schlägt der Zeiger der Wanduhr Sekunde um Sekunde um. Tick. Tick.
„Können wir vor dem Essen beten?“, fragt Lea.
„Oh Gott“, entfährt es ihrem Vater Jürgen und den Seufzer, als er die Hände faltet, kann er ebenfalls nicht unterdrücken.
„Lass sie doch, Papi“, beschwichtigt Julia, Leas kleine Schwester, mit einem zuckersüßen Lächeln und wirft ihrer Schwester einen dieser gönnerhaften Blicke zu.
‚Papi‘: Er hat es immer gehasst, wenn ich ihn als Kind so genannt habe und Julia ist jetzt fast zwanzig, geht es Lea durch den Kopf.
„Mach nur, Schatz“, ermutigt Leas Mutter Lore sie, während sie das dritte Glas Wein leert und anschließend die Hände ineinander legt. Die Familie sitzt still am Tisch und Leas Hals fühlt sich trocken an, während der Sekundenzeiger der Wanduhr von Schlag zu Schlag lauter zu hämmern scheint. Julia kichert leise. Der Spott ist kaum hörbar, aber da.
„Nein, entschuldigt. Das war eine dumme Idee.“ Lea löst ihre Finger auseinander und versucht den Moment mit der linken Hand wegzuwischen. „Lasst uns essen. Das war eine dumme Idee“, wiederholt sie.
„Na, wenigstens hast du es noch rechtzeitig gemerkt“, knurrt ihr Vater mit einem schiefen Grinsen zu seiner jüngeren Tochter hinüber, die wieder leise lacht. Dann trifft sein Blick den seiner Frau und die unverblümte Verachtung, die ihm über den Rand des erneut gefüllten Weinglases entgegenschlägt, lässt ihn zusammenzucken, während Lea das Herz in die Hose rutscht.
„Ja, tut mir leid“, stimmt sie zu und greift nun selbst zum Bordeaux.
„Ich fand es eine schöne Idee“, sagt Lore. Sie lächelt liebevoll und traurig über den Tisch. Dann ergreift sie das Besteck, rammt die Gabel regelrecht in ihr Roastbeef und beobachtet mit einem lange erloschenen Funkeln, das fast vollständig der Trübheit in den blauen Augen gewichen ist, ihren Mann, wie er mit dem Daumen an der Wurzel des Ringfingers spielt. Früher hat er dabei immer seinen Ehering um den Finger gedreht, aber den trägt er nur noch selten seit er wieder so oft bis spät abends arbeitet.
Tick. Tick. Der Zeiger an der Uhr treibt sie alle mit unheilvollem Taktschlag, die Sekunden abzählend, auf den nächsten Morgen zu. Dann zerschneidet der Klang des Messers auf dem Porzellanteller die Stille, als Lore ihr Fleisch zerfetzt und den ersten Bissen mit einem großen Schluck Wein hinunterspült.
„Das nächste Mal kaufe ich auch Tofu oder Halloumi für dich, Lenchen“, verspricht sie mit einem entschuldigenden Lächeln, während Lea abwechselnd in ihren Rosmarinkartoffeln und dem Beilagensalat herumstochert.
„Danke, Mama.“ Und ‚das nächste Mal…‘ wiederholt sie im Stillen.
Erneut kreischt das Messer und jagt Jürgen einen Schauer über den Rücken. Unbehaglich streicht er sich über die aufgestellten Haare in seinem Nacken und räuspert sich.
„Ich glaube, ich werde mir ein neues Motorrad kaufen“, verkündet er schließlich und hebt sein Glas als wolle er darauf anstoßen, bevor er es an die Lippen setzt.
„So?“, fragt Lore, „wieso das denn?“ Sie trinkt aus und schenkt sich nach.
„Martin will im Sommer von Basel zur Straße von Gibraltar fahren und ich denke ich werde mitfahren.“
„So?“, sagt Lore erstickt zwischen zwei Bissen. „Martin, ist das nicht dein Jugendfreund, dieser ewige Junggeselle?“
„Genau, er hat mich neulich angerufen. Wir haben uns ewig nicht gesprochen.“
„So? Na wie schön.“ Lore trinkt. Tick. Tick.
Lea überlegt, legt schließlich das Besteck ab und richtet sich im Stuhl auf: „Vielleicht solltet ihr mal zusammen einen Motorradurlaub machen“, schlägt sie ihren Eltern vor.
Lore lacht auf: „Aber Lea, ich bin doch viel zu alt für sowas“, aber einen Moment muss sie bei dem Gedanken lächeln.
„Mama, du bist geradeso vierzig“, widerspricht Lea. Sie sieht hinüber zu ihrem Vater und verschluckt sich beinahe, als sie bemerkt wie dieser nach den Worten seiner Frau aufatmet.
„Ha, deine Mutter bekommt man in keinen Urlaub mehr, wenn dort keine Liege mit Poolbar auf sie wartet“, dröhnt Jürgen hervor und nun ist es wieder Julia, die auflacht.
Lea sieht ihrer Mutter zu, wie sie ein weiteres Mal das Weinglas leert und Jürgen einen trotzigen Blick zuwirft.
„Mike hat gesagt, dass es für Paare wichtig ist, auch mal Zeit zu zweit zu verbringen, fernab vom Alltag“, sagt sie.
Lore hält zwischen zwei Schlucken inne und setzt das Glas mit einem wehmütigen, ins Leere gerichteten Blick ab.
„Ach, hör mir auf mit deinem amerikanischen Prediger“, winkt ihr Vater ab.
„Aber damit hat er doch recht“, beharrt Lea. „Mike und seine Frau machen zwei Mal im Jahr eine Fahrradtour, nur zu zweit, und sie sind so glücklich!“
„Ja, solche Paare brauchen so ein Programm ja auch“, knurrt Jürgen. „Vielleicht sollten sich alle Männer ihre Frau einfach zuteilen lassen: So, ihr kennt euch nicht, aber macht mal das Beste draus!“, empört sich ihr Vater. „Du verbringst zu viel Zeit bei diesen Leuten, Lea. Manchmal glaube ich, du bist schon genauso verdreht im Kopf wie dieser Mike.“
„Aber ich wollte doch nur…“ Leas Stimme versagt, sie schluckt. „Ich dachte das tut euch vielleicht gut. Ihr seid doch verheiratet.“
„Ich muss mir doch keine Beziehungsratschläge von einem Fanatiker holen, der eine Fremde auf irgendeiner Massenhochzeit geehelicht hat.“ Ihr Vater wird lauter. „Dieser ganze Sektenkram, das ist doch krank!“
Es klirrt hell als Lore ihr Weinglas so fest auf dem Tisch absetzt, dass rote Tropfen die weiße Tischdecke tränken.
„Stimmt, der eigenen Tochter die Schuld dafür zu geben, dass man sie mit neunzehn gezeugt und dann die werdende Mutter geheiratet hat, weil es gerade am bequemsten war, ist viel besser!“ Wieder hebt sie das Glas und ihr Blick geht zur Decke als sie den Kopf in den Nacken legt.
„Ach, du bist ja betrunken.“
Tick. Tick. Lea senkt den Blick. Ihre Hand zittert und wandert in die Tasche ihrer Jacke, die über der Rückenlehne des Stuhls hängt, fühlt, ob das Flugticket noch da ist. San Francisco – nur der Hinflug, morgen früh, Mike und seine Frau fliegen auch mit und der Sekundenzeiger tickt.