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Le vieux bouquiniste
« ...( die ) von Wind, Regen, Frost, Nebel und Sonne gegerbt sind, bis sie schließlich aussehen wie die alten Statuen der Kathedralen. » ( Anatole France )
Feuchte Luft trug den Geruch, der aus den Bäckereien kam, entlang der Quais, die zu dieser Tageszeit noch nicht überfüllt von Menschen waren – Menschen, die tagtäglich am Ufer vorbeihetzten und es nicht wagten, einen Blick nach links oder rechts zu werfen, aus Angst nur wenige Sekunden ihrer wertvollen Zeit zu verlieren.
Dies war die Zeit, in der Händler ihre frischen Waren in die Regale ihrer Läden sortierten, die Zeit, in der die Stadt langsam aus ihrem Schlaf erwachte. Noch konnte man es beobachten, das wahre Leben dieser Stadt, weitab von Touristenschwärmen, die Plätze und Parks bevölkerten und ihr Geld in viele wertlose Souvenirs steckten. Doch würde es nicht mehr lange dauern und dieses mittlerweile alltäglich gewordenen Bild würde wieder die Oberhand gewinnen – so wie jeden Tag, schon seit langem.
Graue Wolken am Himmel kündigten Regen an.
Der alte Mann schlurfte über die Place St – Michel. Seine ledernen Schuhe wiesen bereits mehrere Löcher auf, die er anscheinend schon mehrmals versucht hatte, mit Nadel und Faden wieder zu reparieren. Auch der Mantel, der grau und fleckig an ihm herunter hing, hatte wohl schon bessere Zeiten miterlebt. Im Grunde genommen war alles an diesem unscheinbaren Mann grau. Hätte man jemanden nach diesem Menschen gefragt, er wüsste nicht, was er als Antwort geben sollte. Der Alte war einer unter vielen.
Nahm man sich jedoch nur etwas Zeit , so konnte man bemerken, dass er beim Gehen das rechte Bein etwas nachzog. Es war eine Kriegsverletzung, die nie richtig verheilt war und dem Alten seitdem Probleme bereitete; dennoch hatte er gelernt, sich nie zu beschweren. Das Leben war hart für diesen Mann, denn seit vielen Jahren saß er Tag für Tag am Ufer der Seine. Er war einer der Bouquinistes.
Ein alter Schlüssel, der an einigen Stellen bereits stark verrostet war, öffnete mit einem knarrenden Geräusch das Schloss, dass die große Holzkiste vor Dieben schützen sollte. Schon oft hatten die „Kollegen“ des Alten ihre Kisten am Morgen aufgebrochen vorgefunden – der Inhalt zerstört oder gar gestohlen. Für sie hatte es das Aus bedeutet, das Ende ihrer Existenz, denn außer der Kästen hatten viele Bouquinistes nichts, was sie hätte über Wasser halten können.
Der Mann hatte schwer damit zu tun, die Kiste zu öffnen. Nein, es war wirklich keine Leichtigkeit mehr für ihn hier den Tag zu verbringen, hier am Rande des Flusses unter vielen, die das gleiche Schicksal teilten wie er. Den Kasten verkaufen? Niemals! Schon seit Generationen war er in Besitz der Familie. Sein Vater, davor sein Großvater und auch dessen Vater hatten als Bouquiniste am Quai gestanden und verkauft. Meist waren es Postkarten, irgendwelche kitschigen Motive des Eiffelturms oder Notre – Dames, hin und wieder kam auch eine einzelne Radierung hinzu. Großen Umsatz machte er nie, waren es doch einfach zu viele, die ihre Kästen hier aufgebaut hatten und sich genauso Gewinn erhofften wie er – insgeheim.
Nach und nach begannen die Wolken sich zu verziehen. Der Alte atmete erleichtert auf. Er hatte gebetet, dass am heutigen Tage das Wetter besser würde. Ja, eigentlich gab es für ihn kein schlechtes Wetter. Selbst bei eisiger Kälte hatte er schon hier gesessen und auf Kundschaft gewartet – es war keine gekommen. Schlechtes Wetter und Touristen vertrugen sich halt nicht, sie wollten Sonne, blauen Himmel, um Fotos für die armen Daheimgeblieben zu knipsen. Regenwolken waren verpöhnt. Der Mann verstand den Rummel um die ganzen angeblichen Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt nicht – gewiss, es lag daran, dass er hier sein ganzes Leben verbracht hatte. Für ihn war Notre – Dame nur eine Kathedrale und der Eiffelturm lediglich ein hässliches Stahlgerüst. Er hatte sowieso nie verstanden, wie dieser Turm nach der Weltausstellung zum Wahrzeichen der Stadt hatte werden können.
Er kramte eine alte verbeulte Thermoskanne aus der Tasche aus der er zuvor den Schlüssel geholt hatte und goss sich den Kaffee ein. Lauwarm war er und schmeckte nicht. Doch das Geld für eine neue Kanne, geschweige denn eine Kaffeemaschine hatte er nicht.
Mittlerweile hatten auch die anderen Bouquinistes ihre Kisten geöffnet – es befand sich immer das gleiche darin: Postkarten, kleine Schlüsselanhänger, Zeichnungen und Radierungen, manchmal auch alte Bücher, die bereits total zerlesen und an den Rändern schon ganz ausgefranst waren.
So langsam erwachten auch die Touristen. Erste Gruppen schlenderten über die Bürgersteige, die meisten allerdings warfen keinen Blick auf die Waren der Frauen und Männer, die doch nur hofften, heute vielleicht ein paar Einnahmen mehr als sonst zu machen.
Der Alte entschied sich für ein Schwätzchen mit seinem Nebenmann, der es sich auf einem kleinen Plastikklappstuhl bequem gemacht hatte.
„Was macht dein Stand, wie läuft es so?“
Er nahm einen Schluck lauwarmen Kaffees und zog den Mantel fester um seinen Körper.
„Man hat mir die Wohnung gekündigt, ich muss meinen Kasten verkaufen. Das Leben ist hart, aber was soll ich machen?“
Das Leben ist hart, ja... vielleicht trifft es am nächsten Morgen ja mich!?