Lavendels Traum
Lavendels Traum
Die Reifen quietschen. Der Zug kreischt und hält. Widerwillig. Er tut das nicht gerne. Neben mir steht eine Frau, die ein plärrendes Kind an der Hand hält. Sie schimpft, sie murmelt schon die ganze Zeit – fünf Minuten lang – irgendeinen Kauderwelsch vor sich hin. Sie macht mich nervös und am Liebsten würde ich ihr in die Rippen treten und in ihre großen Augen starren, wenn sie zu mir aufsieht. Ich würde so furchtbar gerne das Muttermal in ihrem Gesicht ausquetschen und meinem kleinen zweijährigem Bruder zum Essen mit nach Hause bringen. Und das Kind? Das Kind würde ich mitnehmen. Dem Kind würde ich ein neues Zuhause geben, bis es wieder zu schreien und zu weinen anfängt. Dann würde ich es töten.
Der Zug hält. Direkt vor meiner Nase ist die Tür. Ich möchte einsteigen, aber die Frau drängelt sich vor, schiebt mich mit einem verschwitzten Ellenbogen weg. Macht die Tür auf. Betritt den Wagon. Ich seufze. Ich möchte ihr einen Tritt in den verschwitzten Rücken verpassen, möchte ihr das Kind aus der Hand reißen und zu Tode trampeln, aber ich halte mich zurück. Ich streife mir die Schuhe ab, wie man es macht, bevor man eine fremde Wohnung betritt (nicht die Eigene) und steige ein. Die DB, mein Freund und Helfer. Immer pünktlich und zuverlässig. Ich fahre gerne mit der Bahn.
Ich schaue, wo die Frau mit ihrem immer noch schreienden Kind hingeht – und wende mich in die andere Richtung. Ich gehe den Wagon entlang, hier Gesichter, da Gesichter, überall Gesichter – sie machen mich schwindelig, sie machen mir Angst, ich möchte kotzen, kann aber nicht – ich sehe Licht, es kommt von draußen, ich kann nicht mehr raus. Ich muss zu Albert und ich will zu Albert.
Irgendwo ist frei und mein Körper fällt und presst sich gegen die Lehne. Ich starre nach draußen. Es wird bald dunkel. Ich liebe die Dunkelheit, denn wenn sie ist, muss ich nicht mehr sein.
„Was erwartest du, Junge?“, fragte mich Albert gestern. Ich denke immer, er hat keine Ahnung, aber das Schlimme ist, dass er sie hat. Wenn er so in seinem Sessel hockt und nachdenklich an seiner Pfeife zieht, dann hat er Ahnung. Wenn er aufsteht und sich mitten in der Nacht einen Kaffee macht, weil er damit besser denken kann, dann hat er Ahnung. Wenn er den Pappfernseher einmal in der Woche demoliert und repartiert, dann hat er Ahnung. Albert weiß, wie es da draußen zugeht – und er weiß, wie es in mir zugeht. Das macht mir Angst. Das zieht mich zu ihm hin.
Die Reifen quietschen. Der Schaffner pfeift. Menschen murmeln. Mir gegenüber nimmt ein Fettsack platz und starrt mich an. Oder die Sitzlehne hinter mir. Er durchbohrt mich mit seinem Blick, während ich die Schweißperlen zähle, die sich auf seiner Oberlippe bilden. Menschen sind eklig.
„Was erwartest du, Junge?“
Menschen sind widerlich, stinken, furzen, scheißen, fressen, ficken. Menschen sind wie Schweine, nur nicht so zivilisiert. Menschen benehmen sich daneben, quengeln und brüllen. Brüllen nach einer Freiheit, die sie nie haben werden und die sie eigentlich auch gar nicht haben wollen.
Gestern hat mich mal wieder Frau Holle besucht. Sie ist eine hässliche Frau, voller Pusteln und Warzen und Rasthaaren. Sie stinkt nach verfaulten Eiern und wenn sie lacht, spuckt sie zähen Schleim. Frau Holle. Sie hielt ein Asthmaspray in der Hand, zeigte es mir, schilderte mir, wie man es anwendet und warf es in den Fluss, der sich neben uns und um uns und durch uns hindurch schlängelte.
Der Fettsack hustet. Zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche und spuckt hinein. Spuckt zähen Schleim, wie ihn auch Frau Holle spuckt. Es sind die Menschen, die alles verpesten. Patrick Süskind – Das Parfum. Romeo war ein Versager, Julia eine Nutte. Und ich sitze hier und starre den Fettsack an, der mich abstößt – aber ich lächle ihn an, lächle wie ein Clown, wie ein Lügner, wie Jakob, der Lügner – und betrachte das Abbild des Fettsacks, das sich im Fenster neben mir spiegelt.
Das Leben ist eine gottverfluchte Seifenblase. Und was mir fehlt, was mir wirklich von Herzen fehlt, das ist Alberts „Was erwartest du, Junge?“ – das sind Alberts weise Sätze. Wenn ich bei ihm schlafe, schnarcht er, aber es ist kein Schnarchen, das einen nervt. Es ist ein Schnarchen, das einen nachdenklich macht. Das einen einlullt und an Frau Holle da oben denken lässt. An Satan im Himmel, an Hitler in der Hölle, an Rennbrand, an Einstein, an Pfeifenkraut und Hobbits, an Sakristeien und Pfarrhäuser, an Corvin und Heinrich Böll und natürlich auch an Tolstoi, den Albert so verehrt, den er so liebt wie ich seine Konkurrenz liebe.
Ich denke an vergangene Zeiten, in denen wir viel ins Theater gegangen sind, in denen wir uns irgendwelche Stücke angeschaut haben – Brecht, Sachen von Goethe und Keller, Sachen, die schlecht und gut waren. Und ich denke an Zeiten, in denen wir uns gegenseitig Märchen von den Gebrüder Grimm vorgelesen und rezitiert haben. Weißt du, sagte er, das ist alles, was ich habe, du bist alles, was ich habe, lass es so, wie es ist. Lass es langsam zuende gehen.
Dann denke ich und immer, wenn ich das tue, verschanze ich mich in die Vergangenheit.
Der Zug macht eine Biegung. Es ruckelt. Ich gähne, fahre mir durchs Haar. Auch ich schwitze und weiß, dass ich eklig bin, dass ich widerlich bin und dass sie mich alle widerlich finden. In der 12. Klasse schmuggelten sie mir Gesichtscremes in den Schulranzen und wenn ich es zu Hause bemerkte oder auch mitten im Unterricht, rannte ich weinend aufs Klo. Weinend. Und ich konnte mich nicht im Spiegel betrachten, ich hasste Spiegel, ich hasste die Menschen um mich herum, ich verabscheute sie, ich wollte sie töten, genau so, wie ich sie immer noch töten will. Zuerst treten, denn Treten hat was, Treten ist cool – dann langsam töten, langsam verrotten lassen, aufspießen, durch die Mangel drehen und all ihre hässlichen Schönheitsfehler aus den Häuten schneiden und ihnen ins Gesicht kleben. Alles, was hässlich ist, muss in ihre Gesichter, muss man sehen können, wenn sie Klamotten tragen, muss man treten können, wenn man Springerstiefel anhat, so, wie ich sie anhabe.
Früher habe ich oft geweint und das Leben verflucht. Und dann kam Albert und alles wurde einfacher, wurde leichter. Albert hat die Raben mitgebracht, die mir eines Tages, als ich mit dem Hund spazieren ging, die Schönheitsfehler vom Gesicht pickten und jemand anderem schenkten. Albert hat mir gezeigt, dass es noch mehr gibt als diese Idioten in meiner Klasse und auch noch mehr als Mädels, die man sowieso nicht haben kann. Das Onanieren auf den öffentlichen Toiletten war eine Qual, tat mir so weh – und Albert machte es weg, löste es in Luft auf.
Er sagte: „Was erwartest du, Junge?“
Er wischte sie fort, diese Angst. Er wischte sie beiseite mit seinen Büchern und mit seinem Wissen. Er erzählte mir Dinge, die mir Angst machten und Dinge, die mich begeisterten. Er sagte: Scheiß drauf, Junge, scheiß drauf, hör mir zu, komm mich besuchen, ich wohne da und dort und ich möchte dir etwas ausleihen, ich möchte dir etwas erzählen, scheiß drauf, Junge – und es klang aus seinem Mund so ehrlich, so kindlich und erwachsen, dass ich es tat, dass ich zu ihm ging. Albert brachte mir Frau Holle und die Raben und die Vernunft. Albert nahm mir nicht die Menschenscheu, die Menschenabscheu und den Traum von einer besseren Welt – er gab nur und nahm nicht. Ich glaube, ich habe mir all das selbst genommen.
Der Zug hält. Der Fettsack steigt aus. Bernhard muss er heißen. Bernhard Schlink mit Fettsucht – genau so sieht er aus. Ich lächle. Eine Frau stiert mich an. Ich grinse ihr nicht ins Gesicht.
Eines Tages ist Albert tot und dann werde ich allein sein. Allein mit meinen Gedanken. Allein mit den ganzen Leuten, die ich kennen gelernt habe, als diese Fachidioten mir Gesichtscremes in die Schultasche schmuggelten. Dieser Gedanke macht mir Angst, tritt mich und tötet mich – allmählich. Aber es ist kein schlimmes Sterben, weil ich weiß, dass da wenigstens jemand da war, der auf mich aufgepasst hat und dem es nicht egal war, was aus mir wird.
Ich muss an Goethe und Schiller denken. An Hölderlin und Ulla Hahn. Ich muss an Schmetterlinge und giftgrüne Tomaten denken. An Stephen King und Tom Jones, an Beethoven, den Albert so liebt, und Autoren des Expressionismus. An Kafka, Gottfried Benn und Georg Heym. Lass sie nicht vermodern, da oben, lass sie in die Hölle, wo ich sie treffen und mit ihnen diskutieren kann.
Der Zug hält wieder. Ich weiß, dass ich aussteigen muss. Meine Füße setzen sich automatisch in Bewegung. Ich gehe durch die Menschenmassen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ich schäme mich nicht mehr meiner selbst – wer mich anschaut, ist selber Schuld. Ich biege um die Ecke. Wieder Kinder um mich herum. Warum fegt die niemand von den Straßen? Warum macht man die noch? Ich finde den Gedanken, dass ein Lebewesen was von mir hat, schrecklich. Ich mag keine Kinder haben. Ich hasse ihre unschuldige Art und Weise und ich blicke mit Schadenfreude auf die Probleme, die sie haben werden, wenn sie erwachsen werden.
Ich klingle bei Albert. Er macht sofort auf. Er weiß, dass ich es bin. Alt sieht er aus. Alt ist er.
„Na, wie geht es dir?“, fragt er mich. Ich zucke mit den Schultern.
„Was erwartest du, Junge?“
„Nichts.“
Wir gehen zu ihm in die Wohnung. Alles ist voller Bücher. Es riecht nach Druckerschwärze und Vergangenheit, nach Weisheit, Intelligenz und Liebe. Es riecht nach Leben, denn Bücher sind Leben. Albert regt sich auf, weil er zum 100. Mal „1984“ gelesen hat. Er regt sich über Big Brother auf und über „Fahrenheit 451“. Ich höre ihm zu, lächle, fange an, mich wohl zu fühlen, mich zu entspannen. Es liegen überall, wirklich überall Bücher herum. Selbst auf dem Herd. Zum Kochen muss er die auf den Boden stapeln und dann schimpft er immer über sein Kreuz, über sein Rheuma, über die Zeit.
„Hast du Lessing gelesen?“, fragt er mich. Seine Falten bewegen sich, grinsen mich an. Ich nicke. Er seufzte. Die Aufklärung. Sie war so wichtig für die Literatur. Und was ist mit Orwell? Junge, hast du Orwell nun gelesen oder nicht? Heute nehmen wir uns den Expressionismus vor, den musst du unbedingt kennen lernen, der wird dir gefallen.
Er hat Recht. Ich liebe Gottfried Benn. Ich liebe Georg Heym und mit Kafka... Mit Kafka fühle ich mich sowieso blutsverwandt.
Wir gehen ins Wohnzimmer. Rechts steht der Pappfernseher. Links die Couch, direkt vor dem Bücherregal. Wir setzen uns und starren die Bücher an.
„Also“, sagt er und ich erzähle ihm von Borchert, von Brecht, von Mary Shelley und von Irving Welsh, den Albert komisch findet. Wir reden über Bukowski und Dürrenmatt. Und hin und wieder stockt er, weil er dabei ist, seine Pfeife anzuzünden und ich liebe den bissigen Rauch, der mir in den Augen brennt und meine Bronchien reizt. Ich liebe seinen Blick, wenn er von all den Autoren redet und wenn er anfängt zu gestikulieren und mir Gedichte vorzulesen, die er scheiße findet. Er liest nur Gedichte vor, die ihm nicht gefallen. Und ich sitze da, die Knie an die Brust gezogen und starre seine Bücher an, wünsche mir, selbst ein Buch zu sein oder in einer Geschichte zu versinken. Nicht als Held – als Randfigur, als ein Nichts.
Als er von „Effi Briest“ redet, muss ich an die Frau denken, die ich habe totschlagen wollen. Gott, mir wird bewusst, dass ich alle Frauen totschlagen will. Für Albert würde ich es tun. Für mich vielleicht auch. Ich lächle und erzähle es ihm und er sagt gar nichts, sondern schaut mich nur an.
Albert wollte ich noch nie totschlagen. Das liegt vielleicht an seinem unglaublichem Wissen oder an seiner Art mit mir zu reden, mich ernst zu nehmen, mir in die Augen zu schauen und mir stockend Gedichte vorzulesen. Ich weiß es nicht und es spielt auch keine Rolle.
„Wann gehen wir mal wieder ins Theater?“, fragt er.
„Es kommen die ‚Kreuzersonate’. Vielleicht wäre das was für uns.“
Seine Augen funkeln. Er prustet los. Er freut sich wie ein Kind. Ich liebe es, ich liebe ihn ich liebe die kindliche Naivität um ihn herum.
„Und was noch?“
„Scheiße, nichts. Wir könnten ins Kino gehen.“
„Nein, Kino ist nichts mehr für Leute in meinem Alter. Die Sitze sind störrisch und kalt. Die Sitze im Theater sind viel besser für meine Kreuzschmerzen. Kreuz – haha, wobei wir wieder beim Thema wären. Wie findest du die Geschichte?“
„Ich finde sie gut. Abgesehen davon, dass Tolstoi ein Arschloch war.“
„Papperlapapp! Kind, rede nicht immer von Sachen, die du nicht verstehst!“
„Dann erkläre sie mir“, sage ich, „dann lehn’ dich zurück und erkläre sie mir.“
Er redet und redet und ich starre auf die vielen Bücher, lese „Rulaman“ und „Titanic“, lese Sachbuchtitel, „Jesus ist tot“-Buchrücken und „Gesammelte Werke von...“-Aufschriften. Lese Oscar Wilde, Ingrid Noll und Günter Grass. Günter Grass kommt nächste Woche nach Stuttgart – ob er das weiß?
„Sicher! Aber ich mag ihn. Aber ich mag ihn wirklich, deshalb werde ich nicht hingehen und wenn du klug bist, mein Junge, dann gehst du auch nicht hin.“
Ich sage ihm, dass ich die Menschen satt habe und dass ich sie hasse und dass ich sie erwürgen und mit den Füßen treten will. Ich sage ihm, dass meine Mutter eine Nutte ist und dass mein Vater mit seiner Sekretärin schläft und dass mein kleiner Bruder Barbiepuppen in den Mund steckt und ihnen die Köpfe abbeißt und dass meine Beine schmerzen und meine Bronchien brennen. Ich sage ihm, dass ich die Frau mit ihrem Kind von vorhin schlagen wollte, dass ich sie tottreten wollte, tottreten, übrigens ein schönes Wort – und ich sage ihm auch, dass ich mich kulturell daneben fühle und überhaupt keine Lust habe, in irgendein stickiges Theater zu gehen, weil dort Menschen sind und weil ich Menschen verabscheue – aus der Tiefe meiner Seele.
Er lacht. Er lacht, bis ihm die Tränen kommen. Dann legt er einen Arm um meine Schultern, drückt mich an sich und sagt: „Aber die Deutsche Bahn, die liebst du.“
Und er hört mir zu, versteht mich, nickt nachdenklich und zitiert Schiller, zitiert Außenseiter wie Gogol und lächelt mir aufmunternd zu. Am Ende hebt er immer den Kopf, stopft seine Pfeife, grinst geheimnisvoll und meint: „Was erwartest du, Junge, was erwartest du?“ Und dann fühle ich mich gut. Getreten, aber gut. Und ich weiß, jetzt, jetzt ist es Zeit, nach Hause zu gehen. Nach Hause zu Frau Holle und ihren Pusteln. Nach Hause zu meinem kleinen Bruder, der an Barbypuppenköpfen lutscht. Nach Hause mit der DB, mit der Deutschen Bahn, die ich so sehr liebe, weil ich alles vergesse, wenn ich in einem Zug sitze, weil ich alles verdränge, wenn ich aus dem Fenster schaue. Weil ich mir so Dinge wie Albert ausmale, Ziele, die ich nicht habe, die ich aber gerne hätte. Nach Hause und plötzlich spielt es keine Rolle mehr, wo das ist. Denn es ist überall, es kann überall sein – und diesen Gedanken nehme ich mit, wenn ich den Zug verlasse und durch die Straßen schlendere wie früher Kafka durch die Straßen geschlendert ist.
Die Reifen quietschen. Kinder springen um mich herum. Frauen schreien nach ihnen, hüpfen, sabbern und glotzen mich an.
Und Frau Holle steht irgendwo auf der Straße und holt mich ab.
(c) Stefanie Kißling, 12. März 2003