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- 02.01.2002
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Lavendelnächte
Tom fröstelte. Dunkle Wolken standen am Himmel und kündigten Regen an. Die Jacke eng um die Schultern gezogen stampfte Tom die staubige Straße entlang. Er verzog das Gesicht. Wäre er an einem anderen Ort ausgestiegen, säße er wahrscheinlich schon längst in einer netten kleinen Herberge. Stattdessen hatte er den Bus aufs Geratewohl in Seaton verlassen und seitdem drei Pensionen abgeklappert, die allesamt ausgebucht waren. An solchen Tagen verfluchte Tom seine Impulsivität. Hätte er seinen Trip doch vorher besser geplant, hätte er sich doch einen Reiseführer besorgt ... Es donnerte.
"Auch das noch", schimpfte der junge Mann, schnallte seinen Rucksack enger und beschleunigte seine Schritte. Suchend blickte er sich um. Die Häuser, die er während des letzten Kilometers passiert hatte, konnte er an den Fingern seiner Hand abzählen. Nie hätte er gedacht, dass es in der Nähe von Großstädten noch solch ländliche Orte gab. Seaton jedoch erschien ihm wie ausgestorben.
Kein Wunder, die sitzen bei diesem Hundewetter schließlich auch alle vor ihren Fernsehern und lassen es sich gutgehen, schoss es ihm durch den Kopf.
"Verdammter Mist", murmelte er. Seine Turnschuhe hatten bereits eine graubraune Färbung angenommen, seine Schultern schmerzten von der dauernden Last und er sehnte sich nach einem ausgiebigen Bad.
Hättest du doch besser mal auf deine Mutter gehört, die dir riet dich telefonisch nach Unterkünften zu erkundigen.
Tom lachte trocken auf. Nur Spießer und Trottel dachten daran, was ihre Mama ihnen geraten hatte. Ein Tropfen streifte sein Gesicht. Nieselregen setzte ein.
Gleich bist du sogar ein nasser Trottel.
Er nahm sich vor, beim nächsten Gebäude, das er sah, zu klingeln und nach einer Herberge zu fragen. Es hatte zwar ein Abenteuerurlaub werden sollen, aber kein Abenteuer der Welt war eine Lungenentzündung wert, fand Tom. Er hatte Glück, denn er erkannte etwa dreißig Meter vor sich einen Gartenzaun und dahinter ein kleines Haus.
"Hoffentlich sind die Bewohner zuhause", knurrte er. Die Kälte kroch ihm in die Glieder, der Regen durchnässte seine Kleidung und er spürte, dass sich an seinem rechten Fuß eine Blase gebildet hatte. Scheiß auf den Abenteuertrip, heute Nacht wollte er nur ein warmes Bett und wenn er dafür den doppelten Preis zahlen musste. Hinter den zugezogenen Vorhängen brannte Licht. Tom atmete auf. Jetzt hoffte er nur noch, dass die Bewohner ihm weiterhelfen konnten. Das Zauntor war bloß angelehnt, ein weiteres Zeichen dafür, das jemand zuhause war. Mit klammen Fingern drückte Tom den Klingelknopf. Nichts rührte sich. Tom wartete ein paar Sekunden und klingelte erneut. Endlich hörte er leise Schritte im Haus. Die Tür öffnete sich eine winzigen Spalt.
"Ja?"
Eine ältere Frau lugte durch die Öffnung hindurch. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie den Fremden. Tom räusperte sich.
"Verzeihen Sie die Störung, ich suche eine Unterkunft. Ich war bereits bei drei Pensionen hier in Seaton und alle sind ausgebucht, da dachte ich ..."
"... da dachten Sie, dass sie bei mir wohnen können, wie?" Die Stimme der Frau klang überraschend dunkel.
Tom schüttelte den Kopf.
"Nein, natürlich wollte ich Sie nicht fragen ob ich bei Ihnen unterkommen kann, ich wollte nur wissen wo sich hier die nächste Herberge -"
"Gibt keine mehr", unterbrach ihn die alte Frau barsch. "Die nächste Herberge liegt fünf Kilometer entfernt und die hat zur Zeit geschlossen."
Toms Mut sank. Wie um seine Verzweiflung noch anzustacheln donnerte es erneut, und Sekunden darauf folgte ein Blitz.
"Scheiße", rutschte es Tom heraus. "Entschuldigen Sie, aber ich muss diese Nacht irgendwo unterkommen, ich ... ach, verdammt ..."
Die Frau nickte, ohne eine Miene zu verziehen.
"Sind Sie stark?", fragte sie dann unvermittelt. Tom sah auf.
"Wie bitte?"
"Ob Sie stark sind, anpacken können." Sie musterte ihn abermals, diesmal gründlicher, wie es schien. "Wenn Sie sich ein bisschen nützlich machen wollen, können Sie die Nacht hier verbringen. War früher mal eine Pension, mein Haus." Sie zögerte. "Deswegen dachte ich, dass Sie hierherkamen um mich danach zu fragen. Habe früher oft junge Leute beherbergt, ehe mir die Arbeit zuviel wurde."
Toms Gesicht leuchtete auf.
"Natürlich gehe ich Ihnen gerne zur Hand", beeilte er sich zu sagen. "Wenn Sie mich die Nacht hier verbringen lassen, wäre das prima."
Die Frau nestelte an der Tür eine Kette ab und ließ ihren Gast eintreten. Er streckte ihr die Hand hin.
"Ich bin Ihnen wirklich zu Dank verpflichtet ... Thomas Sherton ist mein Name."
Die Frau erwiderte den Händedruck. "Irene Lassinger."
Sie drehte sich um.
"Kommen Sie mit."
Tom putzte sich die lehmigen Schuhe ab und folgte der alten Frau. Der Flur war schmal und dunkel, lediglich eine kleine Lampe spendete ein wenig Licht. Ein paar Stickereien zierten die Wände, eine Vase mit vertrocknetem Lavendel stand in einer Ecke.
"Im ersten Stock liegen das Gästezimmer und direkt daneben ein Bad."
Gehorsam stieg Tom hinter der Frau die Treppe hoch. Sie öffnete eine Tür.
"So, das ist Ihr Zimmer." Ihre Augen fixierten den jungen Mann, als er seine Unterkunft begutachtete. In dem spartanisch eingerichteten Raum standen ein Bett, ein Tisch mit einem Stuhl und eine Kommode. An der Wand entdeckte Tom zwei kleine Bücherregale und ein altes Gemälde, das einen Blumenstrauß zeigte. Eine weitere Tür führte ins Badezimmer.
"Sehr schön", lächelte Tom. Die Frau winkte ab.
"Es ist nichts besonderes, aber es hat mir seinerzeit über die Runden geholfen." Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. "Sagen wir ... zwanzig Pfund, inklusive Abendessen und Frühstück?"
Tom nickte und kramte nach seinem Geldbeutel.
"Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin", bedankte er sich, während er der Frau die Scheine und, nach einem kurzen Zögern, seinen Ausweis gab.
"Lassen Sie nur, Mr. Sherton. Wir werden sehen, ob Sie morgen immer noch so zufrieden sind, wenn Sie mir geholfen haben das Unkraut im Garten zu jäten." Sie zwinkerte ihm zu und verließ das Zimmer.
Tom warf seinen Rucksack in eine Ecke und ließ sich auf das Bett fallen. Der weiche Untergrund war eine Wohltat für seine müden Knochen. Mit einem Seufzer streifte er seine Schuhe ab und humpelte ins Badezimmer. Es war klein, aber Tom hatte nur Augen für die Badewanne, in die er sofort heißes Wasser einließ.
*
Fast eine Stunde lang genoss er den duftenden Schaum, bis ein Klopfen an der Tür ihn aufschrecken ließ.
"Ich habe Ihnen das Essen hingestellt", vernahm er die Stimme der Alten. "Noch ist es heiß, besser Sie kommen jetzt heraus."
Tom hörte, wie sie sein Zimmer wieder verließ. Er streckte sich kurz und stieg aus der Wanne. Rasch trocknete er sich ab und zog sich saubere Kleidung über. Auf dem Tisch neben seinem Bett erwartete ihn ein Tablett. Tom lief das Wasser im Mund zusammen, als er die Köstlichkeiten darauf entdeckte: einen dampfender Teller Suppe, ein Schüsselchen Salat und ein paar Scheiben Brot mit Käse, dazu ein Glas Wasser. Erst während er aß merkte Tom, wie hungrig er gewesen war.
Nach Beendigung seiner Mahlzeit sank er auf das Laken nieder. Bleierne Müdigkeit hüllte ihn ein und er schloss die Augen. Leise prasselte der Regen gegen das Fenster, während Tom in einen tiefen Schlaf fiel.
Als Tom erwachte, schien bereits die Sonne in sein Zimmer. Er gähnte. Blasse Erinnerungsfetzen seiner Träume blitzten noch in seinen Gedanken auf und er schüttelte den Kopf um sie zu vertreiben. Er hatte das Gefühl tagelang durchgeschlafen zu haben. Als er sich erheben wollte, schwindelte ihm. Stöhnend hielt er sich an der Bettkante fest. In seinem Kopf drehte sich alles.
Stell dich nicht so an, du musst doch ausgeschlafen sein nach dieser Nacht!
Ein paar Sekunden lang massierte er mit den Fingerkuppen seine Schläfen. Er wartete noch einen Moment lang und versuchte erneut aufzustehen. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Hinterkopf. Tom biss sich auf die Lippen, um einen Laut zu vermeiden.
Verflucht nochmal, du bist doch sonst nicht so empfindlich!
Der Regen und die Kälte gestern Abend. Das lange Wandern auf der Straße. Der schwere Rucksack. Tom seufzte. Hatte er wirklich geglaubt ohne auch nur eine Erkältung davonzukommen? Er war in den letzten Tagen so viele Stunden bei schlechtem Wetter herumgeirrt, dass auch das heiße Bad gestern kein Wunder mehr hatte bewirken können. Er konnte vor Glück sagen, wenn nicht auch noch Fieber dazukam. Tom fühlte an seiner Stirn. Kein Fieber. Aber sein Kopf dröhnte, als hätte die Eisenbahngesellschaft dort über Nacht eine neue Route für den Intercity verlegen lassen.
Bleib noch eine Nacht hier. Lass dir von der Alten ein paar Teller Suppe servieren und zieh morgen weiter ... der Trip nach Midwinter läuft dir nicht weg.
Es klang zu verlockend. Tom hoffte, dass seine Gastgeberin Verständnis zeigen würde.
Es klopfte an seine Tür.
"Sind Sie schon wach?"
"Ja", antwortete Tom und hustete. "Ich ... ich bin wohl noch nicht ganz fit, muss mich doch ein wenig erkältet haben."
Kurze Pause.
"Ich werde Ihnen einen Tee machen", gab Mrs. Lassinger zurück und entfernte sich wieder. Schweren Herzens entschloss sich Tom sich doch zu erheben, um der alten Frau wenigstens gegenübertreten zu können. Es dauerte doppelt so lange wie sonst, bis er sich angezogen hatte. Das Pochen in seinem Hinterkopf ließ nicht nach. Er war gerade in seine Schuhe geschlüpft, als Mrs. Lassinger sich zurückmeldete. Mit zitternder Hand öffnete er ihr die Tür.
"Wie sehen Sie denn aus?", fragte die alte Frau und riss die Augen auf. Mit geübter Geste legte sie ihm die Hand auf die Stirn.
"Kein Fieber. Aber Ihre Gesichtsfarbe gefällt mir gar nicht ..."
"Mir auch nicht", murmelte Tom, der sich denken konnte, wie er aussah. Verschwommen nahm er wahr, dass seine Gastgeberin die Nacht offenbar sehr viel besser hinter sich gebracht hatte als er. Erst jetzt im Tageslicht hatte er Gelegenheit, sie richtig zu betrachten.
Sie war tatsächlich nicht mehr jung, aber nicht so alt, wie er gestern Abend in der Dämmerung geglaubt hatte. Schon ihre kräftige Stimme hatte darauf hingewiesen, dass er es nicht mit einem zerbrechlichen Mütterchen zu tun hatte. Im Gegenteil, ihr Gesicht wies zwar einige Furchen auf, besaß jedoch eine gesunde Farbe, die vermutlich von den Aufenthalten in ihrem Garten herrührte. Ihr Haar war grau, aber doch noch voll und an einigen Stellen ließ sich erkennen, dass es früher sehr dunkel gewesen sein musste. Sie war zwar klein, doch nicht mager, wie andere Frauen ihres Alters. Am auffälligsten waren aber ihre Augen, in denen Tom ein gewisses Blitzen zu sehen meinte. Früher war sie gewiss einmal hübsch gewesen.
Er riss sich zusammen.
"Danke für den Tee", sagte er, als er die Tasse in die Hand gedrückt bekam. Mrs. Lassinger betrachtete ihn.
"Sie werden sich heute wohl noch erholen wollen, wie?" Er wollte gerade antworten, als sie abwinkte.
"Schon gut." Sie zog eine kleine Grimasse. "Mein Unkraut wird sich auch noch bis morgen gedulden können."
Tom lächelte schwach. Der Tee tat ihm gut, doch er ahnte, dass er möglichst schnell wieder ins Bett kommen musste, wollte er sich regenerieren.
"Ich lege mich am besten wieder hin", brachte er hervor. Er wankte ins Zimmer zurück.
"Ich bringe Ihnen noch etwas zu essen rauf und dann schlafen Sie am besten noch etwas!", rief Mrs. Lassinger ihm hinterher. Tom hatte sich kaum auf dem Bett zusammengerollt, als ihm auch schon die Augen zufielen.
*
Es war Abend, als er wieder erwachte. Die Dämmerung brach herein und ein kühler Wind strich ums Haus. Durch das geöffnete Fenster drang ein schwacher Lavendelduft. Tom atmete tief ein. Lavendel galt als altes Hausmittel gegen Kopfweh, vielleicht hatte auch das zu seiner Genesung beigetragen. Tom drehte probeweise seinen Kopf. Die Schmerzen waren noch da, aber so weit abgedämpft, dass er ohne Schwierigkeiten aufstehen konnte. Während er seine Kleidung glättete, fiel sein Blick auf die Teetasse auf seinem Nachtttisch. Er lächelte. Über mangelnde Pflege konnte er sich wirklich nicht beklagen.
Der Flur war dunkel, wie bereits am Abend zuvor. Tom tastete sich zur Treppe vor, die er langsam hinunterschritt. Vorsichtig, nur nicht zu schnell bewegen. Er räusperte sich.
"Mrs. Lassinger?" Keine Antwort. "Mrs. Lassinger?"
"Oh, geht es Ihnen wieder besser?", hörte Tom auf einmal hinter sich. Er schrak zusammen und griff nach dem Geländer. Nur einen Moment später war Mrs Lassinger bei ihm, um ihn zu stützen.
"Entschuldigen Sie, ich wollte mich nicht anschleichen." Sie lachte leise. "Ich bin nun schon so lange allein hier, dass ich Gäste nicht mehr gewöhnt bin."
"Macht nichts", krächzte Tom. Er schnupperte. Dieser Geruch ...
"Gefällt es Ihnen?"
"Wie bitte?" Tom fühlte sich ertappt.
"Der Lavendelduft. Manche Menschen mögen ihn nicht, er ist ihnen zu stark. Hinter dem Haus blühen ganze Sträucher und der Duft zieht durch die Fenster. Ich finde ihn so beruhigend ... Mögen Sie ihn auch?"
Tom nickte stumm. Mrs. Lassinger seufzte.
"Da erzähle ich ihnen von meinen Lavendelpflanzen und vergesse ganz, dass Sie doch mein Patient sind! - Ich habe Ihnen eine Suppe gemacht, Sie können in der Küche essen, wenn Sie möchten."
Tom nickte abermals und stieg die letzten Stufen der Treppe hinunter.
"Ist es immer so dunkel bei Ihnen?", brachte er fast schüchtern hervor. Seine Gastgeberin zuckte die Schultern. "Ich mag dieses moderne Licht nicht. Ich benutze lieber Kerzen und für mich alleine reicht es so. Ich kenne jeden Zentimeter in diesem Haus und brauche keine Lampen ... aber bitte, für Sie ..." Ihre Hand glitt zu einem versteckten Winkel an der Wand den Tom ohne weiteres gar nicht entdeckt hätte und sogleich erhellte sich der Flur. Die plötzliche Helligkeit ließ Tom blinzeln. Mrs. Lassinger stand vor ihm. Täuschte er sich, oder war ihr Haar dunkler als am Vortag? Gestern hatte man erahnen können wie ihre einstige Haarfarbe aussah, heute entdeckte er nur noch vereinzelte graue Strähnen darin. Eine Ahnung stieg in ihm auf und er biss sich auf die Lippen um ein Grinsen zu unterdrücken. Seine Gastgeberin musste sich tatsächlich die Haare getönt haben. Tom musterte ihre Gestalt. Es war erstaunlich, was man mit Schminke offenbar alles erreichen konnte - selbst ihre Haut schien mit einem Mal glatter und ebenmäßiger. Die am Vortag noch blassen Lippen waren in ein zartes Rot getaucht. Tom hatte sich nie für ältere Frauen interessiert, aber er konnte nicht leugnen, dass Mrs. Lassinger mit ein paar Kunstgriffen durchaus attraktiv wirkte. Er räusperte sich und folgte ihr in die Küche.
Beim Essen schweiften seine Blicke immer wieder zu der Frau. Wie hatte er sie nur auf über sechzig schätzen können? Hatte die Müdigkeit seinen Verstand benebelt? So wie Mrs. Lassinger jetzt aussah fiel es ihm schwer zu glauben, dass sie auf die fünfzig zugehen könne. Während er Konversation mit ihr betrieb hoffte er, dass sie seine Verwirrung nicht bemerken möge. Einmal glaubte er ein spöttisches Lächeln gesehen zu haben, doch das mochte eine Täuschung gewesen sein.
Bereits nach einer Stunde spürte er wieder, wie sich die Erschöpfung in seine Glieder schlich. Als er sein Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte beschloss er in sein Zimmer zurückzukehren.
"Es tut mir Leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache, aber ..."
Mrs. Lassinger schüttelte den Kopf.
"Sie sind krank, das sieht ein Blinder und Sie werden noch mindestens einen Tag brauchen, um sich zu erholen." Sie senkte ihre Stimme. "Ich werde Ihnen die Treppe hinaufhelfen." Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Eine zarte Berührung, die ihm eine Gänsehaut bereitete. Süßer Lavendelduft stieg ihm in die Nase. Ihm schwindelte, doch nicht nur wegen seiner Krankheit.
"Danke", brachte er hervor, ehe ein Finger seine Lippen versiegelte. Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht. Kleine Schauer jagten ihm über den Rücken als sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. Tausend Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher, doch keinen einzigen konnte er zuende verfolgen. Er fühlte nur noch ihre Hände, er sah nur noch ihre Augen und er hörte nur noch ihre leisen Worte mit denen sie ihn bat ihm zu folgen.
*
Tom erwachte unter Schmerzen. Stöhnend fasste er sich an die Stirn und blinzelte.
"Irene", murmelte er. Die Frau neben ihm lachte.
"Letzte Nacht hast du mich Iris genannt, weißt du nicht mehr?", neckte sie ihn. Tom massierte seine Schläfen.
"Komm schon, sag nicht du fühlst dich immer noch schlecht", gurrte Irene.
"Wird gleich schon wieder gehen", meinte Tom. Er atmete ein paar Mal durch und erhob sich langsam. Sofort legte sich ihm eine Hand auf den Rücken.
"Du bist noch nicht ganz gesund, ich werde dir einen Tee machen", flüsterte Irene ihm ins Ohr. Der junge Mann nickte schwach. Zum ersten Mal sah er das Schlafzimmer bei Tag. Es unterschied sich nicht wesentlich von seinem Gästezimmer. Ein Bett, eine Kommode, eine Tür zum Bad nebenan, Bilder und Regale an den Wänden. Auf dem Nachttisch konnte er zusätzlich noch eine Vase bewundern. Lavendel. Nicht vollständig erblüht, aber beinah. Als Irene mit einer Tasse zurückkehrte fiel ihm ihr violetter Morgenmantel ins Auge.
"Du liebst diese Farbe, oder?", fragte er, nachdem er einen Schluck genommen hatte. Sie lächelte.
"Nunja, sie macht mich jünger." Sie zwinkerte ihm zu. "Frauen in meinem Alter sollten so etwas beachten." Tom schüttelte den Kopf so energisch wie es seine Schmerzen zuließen.
"Du siehst fabelhaft aus. Ich möchte gar nicht wissen, wie ..."
"Wie alt ich bin?", ergänzte Irene. Sie strich sich über den Mantel. "Das sage ich dir auch besser nicht. Es könnte dich womöglich noch verschrecken."
"Ganz sicher nicht", gab Tom zurück und beobachtete sie, während sie ihm das Frühstück bereitstellte. Wenn er irgendwann im Laufe der Nacht die Befürchtung gehabt haben sollte dass sich Irene bei ihm anstecken könne, so hatte er sich getäuscht. Nie hatte sie besser ausgesehen als an diesem Morgen. Die Sonnenstrahlen ließen ihr brünettes Haar glänzen und zauberten die restlichen verbliebenen grauen Strähnen weg. Ihre Augen funkelten und ihr Körper war beinahe so schlank und geschmeidig wie der eines jungen Mädchens. Er lächelte. Nein, nicht wie ein junges Mädchen, vielmehr wie eine Katze. Wie eine sanfte und hingebungsvoll schmusende Katze, die zwischendurch die Krallen ausfuhr und sie ihm in die Haut grub, die ihm zwischen atemlosen Küssen mal zärtliche Koseworte ins Ohr schnurrte und mal wollüstig auffauchte. Was kümmerte es, dass sie vom Alter her seine Mutter sein konnte. Er hatte eine wunderbare Nacht mit ihr verbracht und die nächste würde wieder ihr gehören ... wenn die Schmerzen endlich nachließen. Sein Blick fiel auf die Teetasse, an der er bisher nur genippt hatte. Es schmeckte ihm, aber bei seiner Genesung hatte es ihm bislang noch nicht geholfen ... Er schluckte. Sein Herz klopfte schneller. Sein kein Idiot, schimpfte er sich, doch der Gedanke ließ sich nicht mehr vertreiben. Was hätte sie davon dich krank zu machen? Bist du dann leichter ins Bett zu kriegen? Das war idiotisch. Irene sah für ihr Alter fantastisch aus und hatte keine Tricks nötig gehabt um ihn gestern Abend zu verführen. Wahrscheinlich lag es sowieso nur an seiner krankheitsbedingten Vernebelung, dass er ihr Attraktivität erst so spät bemerkt hatte. Trotzdem hatte sich irgendetwas in Tom festgesetzt und begann in ihm zu nagen. Er griff nach der Tasse und zählte die Minuten, bis sie wieder aus dem Bad trat.
"Na, geht es dir etwas besser?" Irene hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
"Geht so", nuschelte er. "Was is'n das für'n Tee?", fragte er mit unbeteiligter Miene.
"Schmeckt ein bisschen eigenartig."
Irene drehte sich zu ihm.
"Nana, du wirst doch nicht mein Geheimrezept verschmähen wollen?"
Täuschte er sich, oder hatte ihre Stimme einen etwas rauheren Ton als sonst?
"Quatsch, es hat mich nur irgendwie an Hagebuttentee erinnert. Aber der kann es nicht sein, der ist schließlich rot."
Irenes blickte ihn stumm an. Tom fuhr sich mit der Zunge über seine ausgetrockneten Lippen.
"Ich habe Hagebuttentee nie gemocht", erzählte er hastig, "als Kind hatte ich mal zu viel getrunken und mir wurde übel." Oh Gott, was redest du für einen Scheiß. "Seitdem reagiere ich da ein bisschen komisch drauf, auch wenn er gesund ist."
Irene sagte kein Wort. Er begann zu schwitzen. Das Zimmer schien sich mit einem Mal zu drehen.
"F-findest du nicht, dass er sehr nach Hagebutte schmeckt?" Er verhaspelte sich und hustete. Ehe er sich versah war Irene an sein Bett getreten. Tom hielt den Atem an. Irene beugte sich über ihn und streckte die Hand aus. Sein Herz raste, Schweißtropfen perlten von seiner Stirn. Mit einem Ruck entriss Irene ihm die Tasse, setzte sie an den Mund und trank einen großen Schluck. Sie kniff die Augen zusammen, als müsse sie überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf.
"Keine Hagebutte. Ich habe zwar davon im Garten, aber für diesen Tee verwende ich sie nicht." Sie stellte die Tasse hart auf den Nachttisch und sah Tom ins Gesicht. "Wenn es dir nicht schmeckt, kann ich auch ein anderes Rezept probieren. Ich dachte nur, es hilft dir beim Gesundwerden." Ohne eine Antwort abzuwarten griff sie nach einem Wäschebündel und verließ das Zimmer. Als die Tür ins Schloss fiel, atmete Tom aus.
*
Am Abend wagte Tom erneut einen Versuch aufzustehen. Nach dem Mittagessen war er in einen unruhigen Schlaf gefallen der ihm wenig Erholung verschafft hatte, doch nachdem er anschließend noch ein paar Stunden vor sich hingedöst hatte, fühlte er sich wieder halbwegs gestärkt. Er zitterte, als er das Bett verließ und suchte Halt an einer Stuhllehne. Fast im Zeitlupentempo stieg er in seine Kleidung. Sein Gang schwankte leicht, als er auf den Flur trat. Er schnupperte. Lavendel? Vermutlich.
Im Erdgeschoss war der Blumenduft fast überwältigend. Toms Nase kribbelte und er musste niesen. Hinter ihm erklangen Schritte.
"Du bist auf? Geht es dir besser?" Tom setzte bereits zu einer Antwort an, als er sich zu Irene umdrehte. Mit aufgerissenen Augen starrte er seine Geliebte an. Obwohl das Licht im Flur düster war, konnte er die Veränderungen an ihr nicht übersehen. Sie trug wieder ihren violetten Morgenmantel, doch ihr Haar, das am Vormittag noch glatt über ihre Schultern gefallen war, bauschte sich in wilden Locken um ihren Kopf. Ihr Mund leuchtete in einem sündigen Rot und ihre Haut war weiß wie Alabaster.
"Gefalle ich dir?" Sie lachte leise. "Bloß weil ich eine alte Frau bin, muss ich ja nicht wie eine aussehen, oder?", schnurrte sie. Ohne ein Wort zu sagen fasste Tom unter ihr Kinn und hob es an. Ihre Augen funkelten. Tom gab ihr die Antwort ohne sprechen zu müssen.
*
Schmerzen. Gottverdammte Schmerzen. Glühende Nadeln stachen von allen Seiten auf Tom ein, bohrten sich bis in seine Eingeweide. Seine Augen brannten, als er sie öffnete. Um ihn herum war Dunkelheit. Die Welt bestand aus Dunkelheit und höllischen Schmerzen.
"I... Iris ...", brachte er unter größter Anstregnung hervor.
"Schsch ...", hörte er dicht neben sich. Warmer Atem kitzelte sein Ohr.
"Iris ... Irene", krächzte er kläglich und hustete. Eine Hand streichelte seine heiße Wange.
"Ruh dich aus, Liebling." Die Stimme schien von weit herzukommen, obwohl sie so nah klang. Ein Finger legte sich auf seinen Mund.
"Ruh dich aus. Schlaf etwas." Ein Kichern. "Ja, schlaf, schlaf ruhig wieder ein."
Und Tom folgte der Stimme.
*
Das erste, was er nach dem Aufwachen dachte, war: Schmerzen, aber erträglich. Das zweite war: Licht. Obwohl seine Augen tränten, konnte er sie halbwegs offenhalten um sich umzusehen. Er lag im Schlafzimmer. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Vogelgezwitscher klang aus dem Garten herauf und der unvermeidliche Lavendelduft lag über allem wie ein schweres Tuch. Tom versuchte seinen Körper aufzurichten. Mehrmals brach er ab, weil die Schmerzen zu stark wurden, doch als es ihm endlich gelang bemühte er sich sogleich seine Beine aus dem Bett zu hieven. Unter unentwegtem Fluchen, lediglich eingeschränkt durch gelegentliche Atempausen, erhob er sich. Seine zitternde Hand griff nach dem nächstbesten Halt, einer Kommode, und stieß dabei an eine Vase, die mit lautem Knall auf dem Boden fiel. Die prachtvollen Lavendelblüten versanken fast augenblicklich im Wasser. Tom murmelte etwas und wankte zur Tür.
Der Lavendelgeruch schnürte ihm beinahe die Luft ab. Tom schlug sich die Hand vor den Mund und kämpfte sich stufenweise die Treppe hinab. Einmal glaubte er zu fallen. In letzter Sekunde rettete ihn das Geländer. Er taumelte in den Flur. Wohin er sich auch drehte, sein Blick traf violette Blüten. Dutzende Vasen standen auf der Kommode und auf dem Boden. Ein Schluchzer stieg in Toms Kehle auf, er biss sich auf die Lippen bis sie bluteten, um ihn zu unterdrücken. Kein Geräusch jetzt! Stunden schienen zu vergehen, bis er die Hälfte des Flures hinter sich gebracht hatte. Vor seinem Auge tauchte die Haustür auf. Tom streckte seine Hand aus. Es reichte nicht. Noch ein Stück nach vorn, du musst die Tür öffnen, greif nach dem Türknauf, oh Gott, mach die verdammte Tür auf, noch ein bisschen, jetzt -
"Hallo Liebling." Vorbei.
"Was machst du denn da, mein Schatz?" Sie fasste ihn am Arm. "Du gehörst doch ins Bett. Du bist krank ..."
"Ja", erwiderte er mit einer Stimme, die er nicht als seine eigene erkannte. Alles an ihm, was er von früher kannte, schien unendlich weit weg zu sein. "Ich bin krank ... Seit ich bei dir bin." Durch einen Tränenschleier nahm er Irene vor sich wahr. Ihre dunklen Locken, ihr violetter Mantel. So schön. Sie trat eine Schritt näher an ihn heran, bis sie ihn fast berührte. Dämmriges Licht fiel auf ihr Gesicht. Er keuchte. So schön. So jung.
"Du ... du bist nicht Irene!", stieß er hervor. Die Frau lachte.
"Erkennst du mich nicht?" Es glitzerte in ihren Augen. "Tom, sieh nur genau hin ..."
"Du kannst nicht Irene sein!", schrie er, ehe ihn ein Hustenanfall übermannte und zu Boden warf. Das Atmen fiel ihm immer schwerer, der Lavendelgeruch füllte bereits seine Lungen aus. In seinem Herz fühlte er einen seltsamen Druck ... und alles um ihn herum verschwamm.
Die junge Frau beugte sich zu ihm hinab. Fast zärtlich strich sie ihm durch die weißen Haare. Als das Leben aus ihm wich, öffnete sich auch die letzte Blüte.