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Lautlos
Im Saal der Klänge hielt Miles sich am liebsten auf, auch wenn die meisten Besucher diesen Teil des Museums mieden. Er erschreckte sie wohl, war ihnen unheimlich oder auch gleichgültig. Warum sollte man sich mit Klang beschäftigen, wenn man ihn sowieso nicht erfassen oder verstehen konnte, wie eine altertümliche, längst ausgestorbene Sprache, deren Zweck sich erfüllt hatte und für niemanden mehr von Interesse war. Der Großteil der Leute ging lieber in die anderen Abteilungen, Fahrzeuge oder Kleidungsstücke des letzten Jahrhunderts waren die Favoriten.
Miles hingegen konnte sich gar nicht an den Filmen von Konzerten sattsehen, an aufgerissenen Mündern, verschwitzten, euphorischen Gesichtern, wirbelnden Armen und Fingern, die auf den verschiedensten Instrumente spielten, trommelten, zupften oder bliesen.
Was war es, fragte sich Miles, dass die Menschen in diese Ekstase trieb? Was war Musik?
Sicher, er konnte die Instrumente im Museum anfassen, er konnte alles kopieren, was die Menschen in den Filmen aus dem vorigen Jahrhundert damit anstellten, doch ihr Geheimnis blieb ihm auf ewig verschlossen.
Miles konnte nichts hören.
Niemand konnte mehr etwas hören, seit vor mehr als vierzig Jahren der letzte Mensch mit funktionierendem Gehör gestorben war.
Die Gründe dafür erklärten die ratlosen Mediziner entsprechend ihrer Weltanschauung entweder mit dem stetig anwachsendem Lärmpegel oder der generellen Abstumpfung der Sinne, als Ergebnis der Reizüberflutungen oder schlicht und ergreifend mit Gottes Wille.
Gott, der die Nase voll hatte von all dem entsetzlichen Lärmen, Tosen und blechernem Gekrache.
Miles glaubte nicht an Gott und daher auch nicht an diese kleinliche Art der Bestrafung.
“Bruce Springsteen”, stand auf dem Monitor vor dem sich Miles befand. Er war fast am Ende seines Rundgangs angekommen, das Beste hob er sich stets bis zum Schluß auf.
Ein Museumsangestellter trat auf ihn zu. Miles drückte automatisch auf seinen Texter, aber der Mann schüttelte den Kopf.
“Wir schließen gleich!”, bedeutete er ihm in Gebärdensprache. Miles schaute ihn überrascht an, der Mann hatte ja keinen Texter. Dass es so etwas noch gab! Vielleicht war er ja Analphabet.
“Okay!”, nickte Miles.
Schnell legt er noch einmal die Hände auf den Rhytmusgriff, der vor dem Bildschirm angebracht war.
Die Installierung dieser Griffe war ein letzter Akt der Verzweiflung der wenigen Hörenden vor fünfzig Jahren gewesen. Wenigstens die wummernden Bässe eines Musikstückes sollten für die gehörlose Generation zu fühlen sein, wie kleine Elektroschocks sollte sich der Rhytmus der Musik von den Griffen auf die Hände des Betrachters übertragen.
Der Griff began zu vibrieren und zu beben, ein dumpfes Rumpeln strömte durch seinen ganzen Körper.
“Hungry Heart” stand auf dem Bildschirm. Der muskulöse Mann im Turnhemd riss seine Gitarre nach oben und sein Mund bewegte sich dazu. “Got a wife and kids in Baltimore Jack, I went out for a ride and I never went back...!”
Miles hatte die zahllosen Musiker im Saal der Klänge schon so oft betrachtet, dass es ihm mittlerweile gelang, die altertümlichen Worte von den Lippen der Sänger abzulesen, eine aussterbende Kunst, wie er wusste, denn Texten war einfacher und schneller.
Doch was nutzte ihm das, die dazugehörige Musik würde er nie erfahren.
Diese Besuche deprimierten ihn in letzter Zeit mehr, als sie ihn erfreuten, vielleicht verbrachte er ja wirklich zu viel Zeit hier. Allerdings konnte er nicht gehen, ohne vorher bei seinem Namensvetter vorbeizuschauen.
‘Miles Davis”, da war er.
Seine Mutter hatte steif und fest behauptet, dass sie von dem berühmten Musiker abstammte, es gab angeblich eine Verbindung zwischen ihm und einer ihrer weiblichen Vorfahren, aber beweisen konnte sie es nie.
Miles glaubte natürlich nicht daran, seine Mutter war, wie so viele aus ihrer Generation, ihr Leben lang depressiv gewesen, zu frisch war noch ihre Erinnerung an die hörende Welt. Wahrscheinlich hatte sie sich nur wichtig machen wollen, aber auf jeden Fall hatte er den Namen vererbt bekommen.
“Miles”, versuchte er laut zu sagen, aber wie immer umgab ihn nur absolute Stille.
Sein Nachhauseweg führte am “Café Noise” vorbei, wo große Schilder für die Abendvorstellung der “Iron Horses” warben. Ein Blick durch die Eingangstür zeigte ihm eine Gruppe junger Leute die sich Gitarren umgehängt hatten und ungelenk versuchten, die Bewegungen einer der Heavy Metal Bands zu kopieren, die Miles gerade im Museum gesehen hatte, eine groteske Nachahmung der Rockkonzerte des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, mit wild hampelnden Fans vor der Bühne.
Einer der gehörlosen Gitarristen hatte sein Instrument verkehrt herum um den Hals gehängt.
Miles schnaubte verächtlich.
Er bevorzugte den leeren Saal der Klänge mit den echten Musikern.
Kurz vor seinem Wohnblock am Lincoln Square fühlte er plötzlich etwas Nasses, Heißes in seinem linken Ohr, als ob dampfende Flüssigkeit daraus tröpfelte. Zugleich spürte er den kalten Wind, der geradewegs in seinen Kopf hineinzuwehen schien, ein eisiges, schmerzhaftes Prasseln hämmerte in seinem Ohr und sein Kopf fühlte sich an, als sei er kurz davor, zu explodieren. Es war, als zerrten zwei Eisenzangen an seinen Ohren und rissen seinen Schädel auseinander.
“Uuuh!”, stöhnte Miles und hielt sich die Ohren zu, “Uuuhhh!” .
Er trampelte mit den Füßen auf dem Boden und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück, wie um das Zerren auszulöschen, es zu stoppen.
Er konnte fühlen, dass etwas anders war, denn trotz des rasenden Schmerzes in seinem Kopf gab es eine neue Nuance in seinem Bewusstsein, etwas nie zuvor Erfahrenes, etwas von dem er angenommen hatte, es sei innen in seinem Kopf, von dem er aber nun feststellte, dass es von außen kam.
“Uuuuh, Uuuhhhh!”, rauschte es in seinem Kopf.
Miles hörte seine eigene Stimme.
Er wusste nicht, wie lange er schon in dem dunklen Ladeneingang gekauert hatte, das Rauschen und Krachen in seinem Kopf hatte jegliches Zeitgefühl verdrängt. Jetzt aber, wo der Verkehr zum Erliegen gekommen und auch der letzte Nachtschwärmer verschwunden war, wagte er es, die Hände vorsichtig von den Ohren zu nehmen.
Es war unfassbar, gigantisch, unbegreiflich.
Seine Füße scharrten, sein Mantel verursachte ein raschelndes Geräusch, sein Atem krachte keuchend jede Sekunde neu. Die Luft war nicht still, von überall her strömten neue Töne auf ihn ein, die er begierig aufnahm, die er nicht zuordnen konnte, die ihn erschreckten, ihm wehtaten, seinen Kopf zu bersten schienen, ihm vor Glück die Tränen in die Augen trieben.
“Miles”, machte sein Mund , “I went out for a ride”.
Miles hatte eine tiefe, rauhe Stimme.
Er ging nicht nach Hause, was sollte er da, wenn ein neues Universum sich hier vor ihm ausbreitete. Miles streifte bis zum Morgengrauen mit einem irren Grinsen im Gesicht durch die Strassen und lachte den Zeitungsverkäufern und Coffee Shop Barristas zu.
Er fühlte sich, wie der erste Mensch auf Erden.
Er schrie seinen Namen in der Hoffnung, jemand würde ihm antworten, er hielt wildfremde Menschen am Arm fest und versuchte, die Worte zu artikulieren, die er im Museum von den Lippen abgelesen hatte. Leute wichen ihm aus, griffen sich an den Kopf oder texteten ihm ein hastiges ”Was???” zu.
Miles taumelte glücklich und rief etwas, irgendetwas, etwas das im Hals kollerte und dann ausbrach, er drehte sich lachend herum und stand einem Mann gegenüber, der ihn aufmerksam beobachtete.
Der Mann klatschte in die Hände und schaute Miles in die Augen. Miles zuckte bei dem Geräusch zusammen.
“Er kann hören”, machte der Mund des Mannes und gleichzeitig drangen die dazugehörigen Laute in Miles’ Ohren ein.
“Jaah”, rief Miles und legte dem Mann seine Hand auf den Arm, er wollte ihn umarmen, an sich ziehen, er wollte die ganze Welt an seinem Glück teilhaben lassen.
Der fremde Mann schob Miles Hand weg.
“Er kann hören”, wiederholte er, wie zu sich selbst.
Er erwiderte Miles’ Lachen nicht, er blickte ihn nicht einmal an.
Miles fühlte kaum den kleinen Einstich, der aus der Hand des Mannes zu kommen schien, es wurde ihm auf einmal so leicht und verschwommen im Kopf, das er sich gar nicht über den zweiten Mann wunderte, der plötzlich neben ihm stand und ihn mit sanftem Druck in ein Auto schob.
Es gab zu viele Geräusche, als das Miles sie alle hätte identifiziern können und ausserdem war er viel zu müde und zu glücklich. Um ihn herum verschwammen die Bilder, doch konnte er noch sehen, dass die beiden Männer sich ohne Texter unterhielten.
Eine weisse Lampe strahlte ihn an, eine Art hartes Kissen drückte sich schmerzhaft in seinen Nacken. Miles lag auf einem Bett in einem kahlen Krankenzimmer. Er richtete sich leicht auf, das Piepen der Monitoren um ihn herum dröhnte in seinen Ohren. Ein vorsichtiger Blick zeigte ihm, dass er sich alleine in einem kleinen Raum mit Glaswänden befand, es gab eine einzige Tür, die leicht offenstand. Durch die rechte Glasscheibe konnte er mehrere Betten im Nebenzimmer sehen, in denen Menschen lagen und zur Decke starrten.
Ein Krankenhaus, wenn auch ein seltsam trostloses.
Hinter der linken Glaswand hantierten zwei Männer in hellgrünen Kitteln, einer hatte eine schwarze Brille, ihre Hände steckten in Gumminhandschuhen.
Miles hatte die beiden noch nie zuvor gesehen.
Die beiden unterhielten sich, er konnte sehen, wie ihre Münder sich bewegten.
“Das ist schon der sechste Fall in diesem Monat”, sagte Goodrich, “was ist das nur für ein Scheißzeug, das sie da verwendet haben, es löst sich einfach auf!”
Hazer rückte seine Brille zurecht.
“Die neuen Implantate sind besser, sie halten ein Leben lang und können auch nirgendwo hängenbleiben.”
Goodrich verzog das Gesicht.
“Wer’s glaubt, wird selig. Wenn Burdock sich damals im Kongress durchgesetzt hätte, bräuchten wir uns jetzt nicht mit diesem Mist herumzuärgern, Blinde lassen sich bedeutend besser kontrollieren.”
“Burdock war ein Idiot, das weiß jeder. Blinde können keine Brücken und Städte bauen. Blinde sprechen unkontrolliert miteinander. Gesprochenes Wort verfliegt, geschriebenes kann gespeichert werden.”
Er blickte Goodrich scharf an.
“Bist du etwa anderer Meinung?”
Goodrich schluckte erschrocken. “Natürlich nicht.”
Er nickte in Richtung der Menschen in den Krankenbetten.
“Können die denn irgendwas verstehen?”
Hazer zuckte mit den Schultern.
“Ich glaube nicht. Das Gehirn kann den Klanglaut der Sprache nicht einordnen, wenn es noch nie damit in Berührung gekommen ist. Das dauert eine Weile und braucht Anleitung. Da müssten sie schon ein perfektes Gehör haben, wie ein Musiker.”
Er lachte kurz auf.
“Nein, die hier hören nur Krach. Und es tut ihnen weh, sie haben alle geschrien, als unsere Leute sie gefunden haben. Bis auf den da drüben, der hat nur irre gelacht. Komischer Fall, den nehmen wir uns nachher vor. Die werden froh sein, wenn wir sie wieder erlösen.
Und selbst wenn sie was verstanden haben, das hier wird ihnen helfen, diesen kleinen Ausfall schnell zu vergsessen.”
Er zog eine Spritze auf.
“Bist du soweit?”
Goodrich nickte.
Sie begaben sich in den großen Bettenraum und fingen an, der ersten schmerzverzerrten Gestalt auf dem Bett eine Infusion zu legen.
Als sie mit allen fertig waren, schliefen die Patienten einen erschöpften Schlaf.
Als sie zu Miles’ Bett kamen, war es leer.