- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Lauras Abschied
Plötzlich brüllte eine Männerstimme durch die gesamte Redaktion: „Die haben soeben den Iran angegriffen!"
Die Faxgeräte spuckten meterweise Berichte aus. Der Chefredakteur Gianfranco Manconi vergrub sein Gesicht in den Händen. „Das war eine Nacht", stöhnte er.
„Was ist denn jetzt schon wieder passiert!", ächzte Luigi Lorenzoni, der Kolumnist der Auslandsredaktion, der gerade seinen zündenden Artikel über die Entwicklung des Bürgerkrieges in Saudi-Arabien fertig geschrieben hatte. Übermüdet, mit dunkeln Schatten unter den Augen, saß er in Gianfrancos Büro, um noch die letzten Details zu besprechen.
„Der Irankrieg muss vorne rein, Schlagzeile...", der Chefredakteur hielt sich die zur Faust verkrampfte Hand vor den Mund. Sodbrennen quälte ihn schon seit Tagen. Sein Magen vertrug die eilig hinuntergeschlungene Fertigkost, sowie die enormen Mengen an Kaffee nicht mehr.
„Luigi, weißt du wo Laura ist?"
„Keine Ahnung!"
Gianfranco erhob sich vom unbequemen Kunststoffsessel, riss die Türe des Büros mir einem heftigen Zug auf.
„Laura soll zu mir ins Büro!", brüllte er.
„Laura ist am Zusammenbrechen!", rief jemand aus dem Saal.
„Die soll sich das für später aufheben", grummelte er, tippte dabei emsig die Nummer ihrer Klappe in die Tasten seines Telefons.
„Ja was ist denn", raunte Laura am andren Ende der Leitung. „Was ist jetzt mit dem Iran..." Gianfrancos Stimme hatte jenen fordernden Unterton, den er immer anschlug, wenn ihn etwas erzürnte.
„Komm schon", pfauchte Laura.
„Der Iran muss rein!" Gianfranco blies den Atem aus den geblähten Wangen.
Laura Donizetti war die Leiterin der Auslandsredaktion. Sie hatte die ganze Nacht im Büro verbracht, zu schnell übereilten sich die Ereignisse an der Kriegsfront. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, tiefe, dunkle Ringe umrandeten ihre eingefallenen Augenhöhlen. Auf ihrem weißen Pullover waren Flecken von Tomatensauce.
„Also was soll sein...", raunte sie, als sie Gianfrancos Büro betreten hatte. Für Luigi hatte sie nur ein gleichgültig kurz hingeworfenes „Ciao" übrig.
„Wir brauchen die Iran-Geschichte", meinte Gianfranco und blickte sie fordernd an.
„Wir arbeiten daran, eine Seite, Bilder kaufen wir noch zu, hab schon was im Email."
„Das ist alles?", brüllte Gainfranco, sein aufbrausendes Temperament war wieder einmal mit ihm durchgegangen. Laura krümmte ihre Finger zu Krallen, verzerrte ihre Lippen.
„Was ist?" Gianfrancos herausfordernde braune Augen blitzten sie an.
„He, hast du eigentlich kapiert, was da seit einem Jahr geschieht? Hä!?", schrie sie und tippte mehrere Male heftig mit den zusammengepressten Fingerspitzen ihrer Hand gegen die Stirne.
„Krieg im Nahen Osten, Terror in Europa, Bürgerkrieg in Saudi-Arabien, jetzt haben die Yankees auch den Iran angeriffen, sonst noch was?", schallte Gianfrancos Stimme durch das Büro.
„Ich will das ganze Ausmaß in einer Sonderbeilage. Sonderberichte, Interviews. Sieh zu, dass du alles kriegst, Agenturmeldungen, lass geschwind was übersetzen, wenn du was aus England bekommst, Fernsehen, nimm Kontakt mit Cesare Falconi auf, der ist in Teheran, alles will ich, alles...!"
„Sonst geht’s dir gut? Woher soll ich das so schnell alles herkriegen?", Laura schüttelte den Kopf, meinte, dass sie nach Hause gehen sollte, weil offenbar alle verrückt geworden seien.
„Du machst das, Ende der Debatte!"
Laura knallte die Türe zu. Seit dem Vormittag des Vortages hatte sie die Redaktion nicht verlassen, ernährte sich von Kaffee und aufgetauter Pizza, zähen Tramezzini, sowie ranzigen Keksen. Nun hatte sie auch noch die Iran-Geschichte am Hals. Verzweifelt versuchte sie verschiedene Kollegen dazu zu bewegen, die Reportage zu übernehmen. Gianni Pecora, ein schmalgewachsener, untersetzter, ausgesprochen ehrgeiziger Neuling hatte sich bereit erklärt. Er war der einzige, der sich noch einigermaßen auf den Beinen halten konnte. Laura nahm ihn mit in ihr Büro, gab ihm die nötigen Anweisungen, rief Gianfranco noch kurz an, um ihm mitzuteilen, dass der junge Kollege sich jetzt um die Angelegenheit kümmere. Erleichtert seufzte sie auf, als ihr Vorgesetzter ihr sein Einverständnis gab. Hurtig nahm sie ihre Tasche, verließ mit einem Gefühl der Befreiung von der Last der letzten Tage das prächtig verzierte Jahrhundertwendegebäude.
******
„Oh nein, das auch noch", stöhnte Laura, als sie die langen Schlangen vor den Kassen sah. In kaltem Weiß bestrahlte das Neonlicht die Halle des Großmarktes. Die Stirne zu unfreundlichen Falten gerunzelt, trommelte Laura mit den Fingern gegen den Plastikgriff des Einkaufswagens, in dem sich Brotlaibe, Gemüse, Plastikflaschen, sowie allerlei bunte Packungen auftürmten. Sie schlüpfte aus ihrem Halbschuh, kratzte sich die Wade des anderen Beines mit den Zehen. Langsam zäh bewegte sich die Schlange vorwärts Richtung Kasse.
„Zweiundzwanzig dreißig", raunte die Kassiererin, als sie Lauras Lebensmittelberg mit dem Lesegerät registriert hatte. Gereizt fingerte Laura ihre Bankomatkarte aus ihrer Geldtasche, steckte sie in den Schlitz der Kreditkartenkasse, hämmerte mit ihrem Zeigefinger den Kode in die Tasten.
Fluchend begab sich Laura, zwei zum bersten voll gestopfte Plastiksäcke schleppend, zur Garage, in der sie ihren Wagen geparkt hatte. Die Schnalle der Handtasche drückte gegen den Unterarm. Erleichtert seufzend ließ sie die beiden Einkaufssäcke auf den Boden plumpsen, als sie endlich bei ihrem scharlachroten Fiat angelangt war. Sie stopfte die Einkäufe in den kleinen Kofferraum, ließ sich in den weichen Fahrersitz fallen und lehnte ihren Kopf gegen das Lenkrad, „Schlafen, endlich ausschlafen", dachte sie, rieb sich die Augen und drehte den Zündschlüssel.
Bis Cologno Monzese, jenem Vorort, wo sie sich mit ihrem Mann Francesco vor vier Jahren eine größere Wohnung auf Kredit gekauft hatte, war es noch eine ziemliche Strecke. Quälend schleppte sich der Stoßverkehr durch die Straßen der Stadt. Lärm, Gehupe, gereizte Fahrer, nervöse Polizisten, die Stadt glich einem aufgestacheltem Wespennest. Die Piazza Duca d’Aosta vor dem Hauptbahnhof war noch abgesperrt. Man hatte die gröbsten Schäden des Terroranschlags im Dezember des Vorjahres beseitigt. Niemand hatte es gewagt, die Blumenberge wegzuschaffen, die nun dahinwelkten, zum Teil schon verfaulten. Die Flammen unzähliger Kerzen flackerten. Transparente waren an das Metallgitter der Absperrung geheftet worden, „Gott mit euch", „Italien trauert". Am oberen Rand des Gitters hatte man ein großes weißes Tuch beinahe über die ganze Vorderfront der Sperre gespannt, auf welchem in riesigen, roten Lettern nur „Warum?" geschrieben stand.
Laura quälte sich durch die Straßen. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen, betätigte die Pedale mit bloßen Füßen. Ein Wagen mit neapolitanischem Kennzeichen schmuggelte sich vor ihr in die Fahrbahn. Laura hupte, tippte sich an die Stirne.
„Wieder mal typisch, aus Neapel, eh klar, die im Süden sollten mal Fahren lernen, alles Bauernrottel dort unten!"
Der Abend war hereingebrochen, als Laura vollkommen erschöpft zu hause angelangt war. Francesco stand in der Küche, war gerade dabei, Tagliatelle abzuseihen, als Laura die Wohnung betrat. Ihre Tochter Ornella tobte mit Luisa, dem Kind der Nachbarn, im Wohnzimmer.
„Holst du die Einkäufe aus dem Auto? Ich kann nicht mehr!" Laura schmiss die Wagenschlüssel auf die Kommode des Vorzimmers.
„Bumm, bumm", erschallte Ornellas Stimme aus dem Wohnzimmer.
„Was treibt ihr denn da, Luisa isst du bei uns?"
„Wir spielen Krieg, Mamma, Luisa ist meine Gefangene"
„Hört mit dem Unsinn auf, spielt doch Quartett, du hast doch erst ein neues bekommen! Das kannst du Luisa zeigen..."
„Ich muss jetzt rüber zu Mamma", piepste Luisa zur Türe stürmend.
„Ciao Signora Donizetti"
„Ciao", flüsterte Laura, ging ins Badezimmer und ließ heißes Wasser in die Wanne.
Ornellas Zöpfe hatten sich aufgelöst, ihr hellbraunes Haar war von der wilden Rauferei mit Luisa zu einer wüsten Mähne gewirbelt worden. Auf ihrer Latzhose prangten zwei Schokoladeflecken.
„Francesco, seif mir den Rücken ein!", rief Laura, die im warmen Badewasser mit dem Schlaf kämpfte. Francesco drehte den Herd ab, lief ins Badezimmer, rieb Lauras Rücken mit einer Bürste ab.
„Kannst du deiner Mutter nicht sagen, dass sie Ornella nicht fernsehen lassen soll?"
„Was soll man machen", seufzte er, „kaum ist man in der Küche oder auf dem Klo, hat sie schon die Fernbedienung gefunden und dreht auf."
Nach dem Bad streifte sich Laura den Bademantel über, sagte zu Francesco, dass er sich um alles kümmern solle, da sie zu nichts mehr in der Lage sei nach den zwei Tagen Arbeit ohne Schlaf. Als sie schließlich in die Steppdecke eingerollt im Bett lag, fiel sie sofort in tiefen Schlummer.
******
Gianni Pecora schrieb sich die Finger wund. Mit rot unterlaufenen Augen saß er bis in die späten Nachtstunden vor dem Bildschirm seines Rechners, schrieb Artikel, fasste Agenturmeldungen zusammen, ließ Inhalte der von diversen Fernsehstationen übertragenen Direktsendungen in seine Artikel einfließen. Ungeduldig wartete er auf Bilder von Cesare Falconi, dem frei tätigen Fotografen, der sich auf eigene Faust nach Teheran begeben hatte. Seit dem Foto vom Terroranschlag auf den Hauptbahnhof mit dem abgetrennten Fuß auf einem blutbefleckten Schutthaufen hatte La Storia Vera mit ihm einen Exklusivvertrag. Der Fotograf hatte versprochen, die Bilder sofort per Satellitenübertragung an die Redaktion zu senden.
Dem jungen Journalisten war die gesamte Verantwortung für die Iranberichterstattung aufgetragen worden. Laura, seine Vorgesetzte, hatte sich ein paar Tage frei genommen. Der Chefredakteur war ebenfalls nicht zugegen. Zu erschöpft war die gesamte Mannschaft von den Aufregungen der vergangenen Tage, von den sich in unbeschreiblicher Schnelligkeit überschlagenden Ereignissen, welche die geleistete Redaktionsarbeit überflüssig machte und man von neuem beginnen musste.
Es war dies seine große Möglichkeit, sich in der Redaktion, sowie auch auf dem journalistischen Parkett einen Namen zu machen. Giannis Telefon unterbrach dudelnd die Nachtstille des Redaktionsraumes. Die grafische Abteilung war fast Tag und Nacht besetzt, in drei Schichten wurde dort gearbeitet, Bilder empfangen, begutachtet, ausgedruckt, der Redaktion vorgelegt. Cesares Fotos seien nun endlich eingetroffen, ob er sie sich nicht ansehen möge, fistelte die übermüdete Stimme am Telefon.
Gianni jubelte. Cesare hatte sich zu einem der besten entwickelt, somit hätte seine Irangeschichte garantiert hervorragende Bilder. Aufgeregt lief er in die Grafikabteilung. Als Gianni die Fotos sah, wurde ihm übel.
„So etwas...", brummte der Grafiker, „habe ich selten gesehen und ich bin abgestumpft seit eineinhalb Jahren Krieg!"
Mit zusammengekniffenen Augen, versuchte Gianni den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, durch Schlucken die Kehle hinunterzudrücken. Er zwang sich hinzusehen, immer wieder, bis er sich einigermaßen daran gewöhnt hatte.
*********
Es war gegen Mittag, als Laura erwachte. So gut hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen. Die Wohnung war still, Francesco war in seiner Amtsstube des Mailänder Rathauses, Ornella in der Schule. Sie hatte den Tag ganz für sich. Mit einem langen Gähnen streckte sie ihre Arme in die Höhe, ging in die Küche, setzte Kaffee auf, als das Telefon ihr ruhiges Morgenritual unterbrach.
„Komm in die Redaktion, sofort!", Gianfrancos Stimme klang rauchig heiser, sehr ernst.
„Ich hab drei Tage Urlaub, hörst du, U-r-l-a-u-b!", pfauchte Laura in die Sprechmuschel.
„Komm, bitte, komm bitte!"
Solch flehenden Ton hatte sie bei Gianfranco noch nie erlebt.
„Aber du hast dir doch auch...!", meinte sie stutzig.
„Komm!", bat der Chefredakteur und legte auf.
Laura verdrehte die Augen, beschloss hart zu bleiben, nicht in die Redaktion zu fahren, doch ihre Besorgnis ob der ungewöhnlich verzweifelt klingenden Stimme Gianfrancos brachte sie dazu, ihre freien Tage zu unterbrechen.
Die Stimmung war bedrückt, als Laura mit ärgerlicher Miene Gianfrancos Büro betrat. Gianni Pecora saß nervös, unentwegt mit dem Daumen gegen den Rücken der anderen Hand reibend, Gianfranco gegenüber, dessen Stirn sich in tiefe Sorgenfalten gelegt hatte.
„Sieh dir das an Laura. Bringen wir das?"
Laura verstand nicht recht worum es ging, schüttelte sachte den Kopf. Der Chefredakteur breitete vor Laura die Bilder aus, welche zu den Artikeln über den Irankrieg erscheinen sollten. Laura betrachtete die Bilder eine kurze Weile, drehte ihren Kopf zur Seite, stieß einen deutlich hörbaren Seufzer aus, schluckte und hielt sich die Hand vor die Augen.
Fünf Bilder wollte der Jungjournalist in die Irangeschichte nehmen. Auf einem waren von der amerikanischen Armee gefangene iranische Soldaten zu sehen. Sieben Männer, ausgemergelt, mit eingefallenen Gesichtern, großen, dunklen, angsterfüllten Augen, nackt, unrasiert, mit bloßen Füßen über den Steinboden von den Soldaten getrieben. Die Hände hinter ihren Köpfen haltend, die Scham nicht bedecken dürfend. Das zweite Foto zeigte dieselbe Gruppe Gefangener, jedoch hielt einer der Soldaten sein Maschinengewehr mit dem Kolben gegen den in der Blutlache liegenden Schädel eines am Boden liegenden, entblößten Toten. Das Profil seines hakennasigen Gesichtes war deutlich zu erkennen, seine dünne Haut, die Bartstoppeln, der halb offene Mund, die geschlossenen Augen. Die eingeschlagene Schädeldecke gab einen kleinen Teil seines Gehirns frei.
Am schrecklichsten waren die drei restlichen Bilder. Schlimmste Angst aus seinen blauen Augen zitternd, kniete ein rot gelockter junger Soldat, die Hände hinter seinem Rücken, in zerfetzter amerikanischer Uniform vor einem iranischen Soldaten, der sein Gewehr gegen die Schläfe des jungen Mannes hielt. Am zweiten Bild hatte der iranische Soldat den Finger am Abzug. Der Mund des Amerikaners bibbernd zusammengepresst, die Augen ein wenig zusammengekniffen, Tränen glitzernden auf seinen bleichen Oberwangen. Am dritten Bild war der junge Mann seitwärts tot zu Boden gefallen. Eine Tiefe Wunde klaffte im roten Haar, die Hände waren am Rücken mit einem schmutzigen Seil zusammengebunden, sein Blut, Fleisch- und Gehirnmasse lag auf den Steinen.
Laura konnte die Bilder nicht ansehen. Gianfranco blickte ihr ins Gesicht. „Nun, du bist die Leiterin der Auslandsredaktion", hauchte er heiser.
„Nein, die bringen wir nicht! Verstößt gegen die ethischen Prinzipien des Journalismus! Sogar gegen die Genfer Konvention!" Lauras Stimme war ernst, tief und bestimmt.
„Wenn es wir nicht tun, bringen es andere, oder glaubst du Cesare war alleine am Ort des Geschehens! Da waren mehr Journalisten, Fotografen, Presseleute!" Gianni Pecoras Stimme überschlug sich in hohen Tonlagen.
„Wir nicht!", antwortete Laura. Luigi Lorenzoni hatte sich nach einer kleinen Pause ebenfalls wieder in Gianfrancos Büro eingefunden. Seine Kolumne hatte sich zu einer der beliebtesten im ganzen Land entwickelt. Langsam war er zu einem der Zugpferde von La Storia Vera geworden.
„Wenn ihr die Bilder bringt", sagte er lapidar, einen Schluck Espresso aus seinem Pappbecher nehmend, „dann gehe ich. Da mach ich nicht mit!"
„Denkt doch auch an die Auflagen, und Laura", in Gianni Pecoras Tonfall lag ein leichter Anflug von Zorn, „das kann mein Durchbruch sein. Ich hab Tag und Nacht gearbeitet."
„Die Leute", seufzte Gianfranco, „haben sich satt gesehen an den Trümmern, den zugedeckten Toten und weinenden Kindern. Unsere Auflage stagniert, geht sogar zurück... Die britischen Blätter bringen solche Bilder bereits."
„Die schwächen gar nicht mehr ab, zeigen schon alles?" Luigi Lorenzoni schüttelte den Kopf. Gianfranco zog eine englischsprachige Zeitschrift aus seiner Mappe. Am Titelblatt war der Körper eines toten Mädchens zu sehen, dessen abgetrennter Kopf ungefähr einen Meter neben dem kleinen Körper lag. „Bombing Teheran", stand als Schlagzeile in großen, blauen Lettern über dem Bild.
„Gianfranco, du musst sagen, was du tun willst, ich bin dagegen!", flüsterte Laura. Über ihre Augen hatte sich ein trauriger Schleier gelegt.
In Giannis Gesicht zeichneten sich leichte Spannungen der Wut ab, an seinem Hinterkiefer bebte ganz leicht die mit Bartstoppeln durchsetzte bleiche Haut.
„So was jetzt! Soll man die üblichen Trümmer bringen, oder diese Bilder. Der Trend geht in diese Richtung. Canale Otto hat ja auch schon allerhand gezeigt, wo sich jeder aufgeregt hat und die Einschaltquoten sind hochgeschnalzt!" Gianni machte aus seinem Unmut darüber, dass die Fotos der Redaktion solche Bedenken machten, keinen Hehl. Der Chefredakteur vergrub sein Gesicht in den Händen. Seine Zigarette verglühte im mit Kippen überhäuften Aschenbecher.
„Die Storia Vera muss verkaufen. Mir passt das Ganze nicht wirklich!" Er kratzte sich an der fettig glänzenden Glatze, welche von einem pechschwarzer Lockenkranz umfasst war.
„Ich denke", ächzte Gianfranco, „wir müssen sie bringen. Ende der Debatte!" Gianni Pecora Hüpfte vor Begeisterung aus dem schwarzen Plastikstuhl. Er wusste, dass mit der Entscheidung des Chefredakteurs seine berufliche Karriere einen großen Sprung vorwärts machen könnte.
Die Unterlippe unter ihre Vorderzähnen pressend, saß Laura dem Chefredakteur gegenüber.
„Hätt ich nicht gedacht, dass du das machst!", stotterte sie, kämpfte dabei gegen ihre Tränen der Enttäuschung. Luigi Lorenzoni stand dicht hinter ihr, schüttelte den gesenkten Kopf.
„Bleibt ihr?" Gianfranco sprach leise in rauchigem Krächzen.
„Nein!" Luigi schlug mit der Faust gegen den Türstock.
„Ich will dich nicht mal überreden Luigi."
„Warum hast du so entschieden, verdammt noch mal!" Luigis Gesicht begann rot anzulaufen.
Der Chefredakteur zog die Augenbrauen hoch. „Auflage!", flüsterte er zu sich selbst.
„Weißt du", sprach Laura leise, leicht bibbernd, „wenigstens schwarze Balken könntet ihr über die Augen und die Scham drucken."
„Nein, nicht mal das. Sonst haben wir keine hohen Auflagen und gehen ein! Der", Gianfranco deutete zur Türe, aus der Gianni Pecora freudig hinausgeeilt war, „ist die Zukunft!"
„Leb wohl, Gianfranco!" Laura stand auf, drückte sachte die messingglänzende Türschnalle nach unten und verließ, gefolgt von Luigi, das Büro.
„Ich häng den Beruf an den Nagel!", sagte sie zu ihrem Kollegen als sie gemeinsam im Aufzug standen, der sich quietschend nach unten bewegte.
„Weiß noch nicht", seufzte er.
Am Montag der folgenden Woche kam La Storia Vera mit einem langen Sonderteil über den Irankrieg heraus. Die Bilder waren im Großformat unverändert abgedruckt worden. Der weinende amerikanische Soldat war am Titelbild. Gianni Pecora wurde der neue Leiter der Auslandsabteilung. In jener Woche erzielte La Storia Vera die höchste Auflage ihrer Geschichte.