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Laura
»Nun beruhigen Sie sich erst einmal!«, beschwichtigte die Erzieherin die aufgebrachte Mutter. »Bestimmt gibt es eine Erklärung dafür.« Sie zauberte ein gekünsteltes Lächeln auf ihre Lippen, das im Laufe ihrer Berufsjahre besorgten Müttern gegenüber längst zur Routine geworden war.
»Ich ... ich verstehe das einfach nicht«, stammelte Margit hilflos. »Sie müssen sich doch an sie erinnern! Sie können sie nicht einfach vergessen haben!«
Zuerst war sie verwundert gewesen. Hatte angenommen, Laura hätte sich verspätet. Aber ihre Tochter war auch nicht nach einigen Minuten aufgetaucht. Weder in der Gruppe von Kindern, die lauthals ihren Eltern entgegen rannten und in die Arme fielen, noch später, als es auf dem asphaltierten Hof vor dem Gemeindekindergarten leer und still geworden und nur der Lärm der vorbeirauschenden Autos geblieben war. Margit hatte, während kalter Regen auf ihre Kleidung prasselte und die Kreidezeichnungen der Kinder am Boden wegspülte, vergeblich gewartet.
»Ich habe sie immer hier abgeholt«, beteuerte sie der Pädagogin. »Tag für Tag.«
»Hm ...« Die Erzieherin suchte nach Worten. Ihre sonst aalglatte Stirn legte sich in Falten. Sie musste sich eingestehen, sie war mit ihrem Latein am Ende. Und daran würde auch eine weitere halbstündige Diskussion mit der Mutter nichts rütteln.
»Wie ich Ihnen schon sagte«, wiederholte sie, »in unserem Kindergarten gibt es keine Laura Sander. In keiner der Gruppen.«
»Das muss ein Irrtum sein«, widersprach Margit. »Vielleicht ein Computerfehler oder so.«
»Nein.« Der Ton der Erzieherin war bestimmt. »Das ist vollkommen ausgeschlossen.«
»Sie war in der Löwengruppe.«
»Wir haben keine Löwengruppe.«
»Bei Frau Mertens.«
»Wir haben auch keine Frau Mertens.«
»Aber wo kann Laura denn sein ...?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht haben Sie sich in der Einrichtung geirrt«, überlegte die Pädagogin. »Womöglich ist Ihre Tochter schon zu Hause vor der Tür und erwartet Sie.«
»Ich ... ich kann das nicht glauben«, sagte Margit leise. Resignierend senkte sie den Blick.
»Es tut mir Leid. Mehr kann ich nicht für Sie tun.«
Margit saß noch eine Weile schweigend da, dann verließ sie schließlich das Büro der stellvertretenden Leiterin. Missmutig trat sie hinaus in den Regen, der sich weiterhin hartnäckig über die Satteldächer der Häuser ergoss.
Schlaflose Nächte gehörten inzwischen ebenso zu Margits Alltag wie Wäsche waschen, Mahlzeiten zubereiten und das Warten auf ihre Lieblingssendung im Fernsehen. Oft wälzte sie sich stundenlang von der einen Seite des Ehebetts auf die andere ohne ein Auge zuzudrücken.
Drei Wochen war es her, seit sie das letzte Mal etwas von Laura gehört und gesehen hatte – drei gottverdammte Wochen!
Nachdem sogar Walter wiederholt beteuert hatte, dass sie überhaupt keine Tochter hatten, war eine Welt für die besorgte Mutter zusammengebrochen. Niemand aus der Gemeinde hatte ihr Glauben geschenkt. Nicht einmal ihre Eltern und engsten Freundinnen gaben an, das kleine, fröhliche Mädchen mit den blonden Hängezöpfen zu kennen. Dabei hatten sie doch neulich erst mit Laura gesprochen!
Für Margit, deren Wissen um die Existenz ihrer Tochter so tief in ihr verankert war wie das an ihre eigene Kindheit, war es absolut unbegreiflich, wie Laura einfach so von heute auf morgen in Vergessenheit geraten konnte.
Natürlich hatte sie mehrmals verbissen jeden Winkel der Wohnung durchforstet auf der Suche nach Fotos, Spielzeug und Kinderkleidung von Laura, aber sie war nie fündig geworden. Jeder Raum barg zwar Erinnerungen, jedoch keine Indizien für die Identität des Mädchens. Das Kinderzimmer war einem büromäßigen Arbeitszimmer von Walter gewichen, doch als sie ihren Mann vorwurfsvoll darauf ansprach, hatte er keinen blassen Schimmer, wovon sie überhaupt redete. Manchmal erzählte sie ihm von gemeinsamen Erlebnissen, in der schwachen Hoffnung, er würde sich entsinnen, aber Walter wollte nichts davon hören und brachte sie jedes Mal zum Schweigen. Für ihn war die Sache klar – sie hatten kein Kind!
Daraufhin machte sich Margit jedes Mal Gedanken um ihren Geisteszustand. Den gut gemeinten Rat ihres Ehemanns, einen Psychologen zu konsultieren, widersetzte sie sich jedoch energisch. Nein, sie war nicht geistesgestört. Ganz bestimmt nicht.
An einem trüben Vormittag trieb die stille Verzweifelung Margit schließlich zur Polizeistation der Gemeinde, einem alten Gebäude mit Stuckelementen an der Außenfassade. Die Beamten, deren Aufgabengebiet sich im Allgemeinen eher auf Kleinkriege unter Nachbarn und auf das Aufspüren randalierender Jugendlicher beschränkte, hörten sich ihre Geschichte geduldig an, machten sich Notizen und versprachen, sich unverzüglich bei ihr zu melden, sollten sie etwas in Erfahrung bringen. Doch als Margit das ruhige Büro der Station verließ, wusste sie, dass der Fall schon bald bei den anderen ungelösten Akten im Kellerarchiv verschwinden würde. Die ratlosen Gesichtszüge der beiden Beamten waren Antwort genug gewesen. Und da nicht einmal beim Standesamt eine Laura Sander registriert war, würde auch keine groß ausgelegte Suchaktion erfolgen. Margit war vollkommen auf sich alleine gestellt. Niemals zuvor war sie sich so einsam vorgekommen wie an diesem Mittwoch.
Sie nahm die leisen Schnarchgeräusche ihres Ehemanns wahr, der im Bett neben ihr ruhte, und sie beneidete ihn um seinen sorglosen Schlaf.
Obwohl die Nacht noch jung war und die Finsternis wie ein Leichentuch über die Gemeinde lag, stand Margit auf, stieg auf leisen Sohlen die Stufen der Treppe hinunter, und nachdem sie sich das Frauenmagazin aus dem Zeitungsständer genommen hatte, begann sie am Küchentisch zu lesen. Schlaf würde sie ohnehin keinen mehr finden. Also konnte sie sich genauso gut von den Modeartikeln ablenken lassen. Aber ihr Herz dachte an Laura.
Etwa zwanzig Minuten später hörte sie die Küchentür knarren. Walter kam mit verschlafenen Blick und zerzaustem Haar herein.
»Warum quälst du dich so?«, fragte er.
Margit antwortete nicht gleich. »Du musst dich doch an sie erinnern«, meinte sie dann. »An irgendetwas. Es kann doch nicht sein, dass du all unsere gemeinsamen, glücklichen Jahre vergessen hast ...«
»Bitte. Hör auf damit, Liebling.«
»Sie hat dich geliebt, Schatz. Weißt du das denn nicht ...? Laura liebt dich noch immer. Sie –«
»Verdammt, Margit, wir haben keine Tochter!« Walters Worte kamen schärfer über die Lippen als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Margit zuckte zusammen. Den rauen Ton kannte sie von Walter nicht. Aber jetzt war es zu spät, um die Worte zurückzunehmen.
»Wie oft soll ich es dir denn noch sagen?«, fügte er in leiseren, sanfteren Ton hinzu.
Margit kamen die Tränen.
»Komm wieder ins Bett«, bat Walter. »Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht so anfahren.«
Schließlich ließ Margit sich erweichen und folgte ihrem Mann zurück ins Schlafzimmer.
Als sie endlich Schlaf fand, hießen die Vögel mit ihrem Gesang bereits den neuen Tag willkommen.
Dicke Regentropfen, die von außen gegen das Glas der Fensterscheibe klatschten, rannen nach unten. Der Wind piff und bog die Äste der Kastanienbäume. Ein paar Passanten eilten, mit Regenschirmen gewappnet, an den Läden und Boutiquen gegenüber des Kindergartens vorbei. Aber Frau Sander war nicht unter ihnen.
»Sie ... sie hat mich einfach vergessen«, stammelte Laura, als sie mit feuchten Augen aus dem Fenster des Spielzimmers starrte.
Zuerst war sie verwundert gewesen. Hatte angenommen, ihre Mama hätte sich verspätet. Doch sie war auch nicht nach einigen Minuten aufgetaucht. Weder in der Gruppe von Eltern, deren Kinder ihnen lauthals entgegen rannten und in die Arme fielen, noch später, als es auf dem asphaltierten Hof vor dem Gemeindekindergarten leer und still geworden und nur der Lärm der vorbeirauschenden Autos geblieben war. Laura hatte, während kalter Regen auf ihre Kleidung prasselte und die Kreidezeichnungen der Kinder am Boden wegspülte, vergeblich gewartet.
»Ich glaube nicht, dass sie dich vergessen hat«, meinte die Erzieherin. »Bestimmt hat sie sich nur verspätet.«
»Hm ... Hoffentlich«, antwortete das kleine Mädchen mit den blonden Hängezöpfen. »Sie hat mich sonst immer pünktlich hier abgeholt. Tag für Tag.«
Frau Mertens suchte nach Worten. Vergeblich hatte sie versucht, die Mutter zu erreichen. Sie musste sich eingestehen, sie war mit ihrem Latein am Ende.