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TW: Suizid, Allgemeine Abgefucktheit
Laufen
Gedankenlos sahen wir einer Krähe zu, die Fleisch aus dem Kadaver einer Taube pickte. Eine Familie mit Kleinkind schob ihren Einkaufswagen in Richtung Supermarkteingang daran vorbei, während der Schnabel rote Bröckchen aus dem toten Fleisch riss. Die Stadt lebte, verweste und wurde neu geboren in diesem Augenblick.
„Also, … was ich sagen will, … tut mir echt leid.“
Mein Kumpel hatte schon mehrmals versucht, ein Gespräch anzufangen, aber jedes Mal abgebrochen, um eine Zigarette zu drehen oder der Krähe zuzusehen.
„Was?“
„Hast du’s noch nicht gehört?“
Ich sah ihn fragend an.
„Anna, … sie hat sich gestern das Leben genommen.“
„Ja?“
„Ja.“
„Hm.“
„Hm? Das ist alles?“
In meinem Kopf erschien das Puppengesicht mit seinen feinen Zügen, umgeben von hellblau gefärbtem Haar. Natürlich fühlte ich ein Drücken in meinem Bauch, das wohl Bedauern sein musste, aber nicht viel. Nichts, was es notwendig machte, es zu äußern.
„Warum denn?“, brachte ich schließlich hervor. Meine Stimme klang rau, so als hätte ich sie tagelang nicht mehr benutzt.
„Das weiß keiner so genau. Eigentlich lief es bei ihr wohl echt gut. Ein paar ihrer Gemälde wurden in einer Galerie ausgestellt und auch einige verkauft. Sie war selbst aber nie zufrieden damit. Du kennst … kanntest sie ja. Was ich male, ist der letzte Dreck. Solche Aussagen. Jedenfalls hat sie es letzte Woche gemacht.“
„Und wie?“
„Ich glaube nicht, dass du das hören willst.“
„Doch.“
„Sicher?“
„Ja.“
„Sie hat eine leere Leinwand aufgehängt, sich darunter gesetzt und mit einer Pistole ihr Hirn darauf geschossen.“ Er schüttelte den Kopf. „Furchtbar.“
Ich dachte wieder an ihr blasses Gesicht. An die kleine Lücke, die sie sich immer in die rechte Augenbraue rasierte. Und an ihr Lächeln, bei dem der eine Mundwinkel immer etwas höher war als der andere. Die Reste ihres Gesichts auf der Leinwand mussten das schönste Bild der ganzen Stadt sein. Zumindest bis es anfangen würde zu stinken.
Der Supermarkt war brechend voll. Trotz ihres Todes funktionierte die Stadt ungehindert weiter. Es war kaum möglich, einen Meter zu gehen, ohne sich an einem anderen Käufer vorbeidrängeln zu müssen. Jeder in der Halle versuchte, seinen Einkaufswagen durch die Menge hindurch zu den Regalen zu schieben. Doch sobald einer eine Lücke in der Mauer aus Kaufenden entdeckte, sahen dies auch drei Weitere und taten es ihm gleich. Es schepperte, als die Wägen aneinanderprallten. Die Lücke war blockiert. Nur taten sich zwei neue auf. So war die Menge in einer nicht endenden Bewegung. Wie Wellen schwappten die Käufer durch die Halle, prallten gegeneinander und machten sich erneut in eine andere Richtung auf. Immer auf der Suche nach der nächsten Lücke. Die Glücklichen, die ganz vorne an den Regalen standen, warfen mit beiden Händen Produkte in ihre Wägen. Doch der endliche Raum zwischen den Metallgittern wurde nie voll, denn die Leute aus der zweiten Reihe griffen hinein und warfen alles in die eigenen Einkaufswägen, woraufhin die dritte Reihe in die der zweiten griff. Die Produkte verschwanden irgendwo im Gewimmel und ließen jeden mit einem Gefühl zurück, bestohlen worden zu sein. Noch warfen sich die Beteiligten nur böse Blicke zu. Sie waren zu beschäftigt mit dem Greifen und Einpacken. Doch was würde passieren, wenn die Regale leer waren? Mir war übel. Ich drehte mich noch auf dem Absatz um und fuhr nach Hause.
In dieser Nacht träumte ich von ihr. Mein Kopf war voller Tod. Das Bild einer rot befleckten Leinwand erschien immer wieder vor meinen Augen und ließ mich aufschrecken. Dann starrte ich an die schmutzige Decke über mir, während sich Erinnerungen an unsere Beziehung immer wieder vor die Nikotinflecken schoben.
„Du bist wie ein Roboter, weißt du das?“
„Nur, weil ich versuche, eine rationale Meinung zu bilden?“
„Du bist wie aus kaltem Eisen. Man spricht dir einen Input ins Ohr, der wird kurz im Hirn verarbeitet und aus deinem Mund kommt dann die unemotionalste Antwort. Wie bei einer KI.“
„Na ja, so wie sich die Technik aktuell entwickelt, kann die KI alles bald doppelt so gut wie du.“
„Nein, die wichtigsten Dinge kann sie nicht.“
„Und das wäre?“
„Leiden.“
Dann wieder das Bild aus Blut. Ich fuhr hoch, aus den Träumen gerissen. Für einen kurzen Moment wusste ich nicht, wer ich war und wo ich war. Leider fiel es mir wieder ein. Die kalte Seite meines Kissens war mein einziger Trost in der Hitze dieser Sommernacht.
„Wir können nicht mehr zusammen sein. Ich weiß, dass du es nicht merkst, aber es ist besser so.“
„Warum?“
„Weil ich dich zerstöre.“
Als ich erwachte, war ich völlig nass. Die Matratze war feucht und klebte an meinem Rücken. Es war so heiß. Zwar lebte ich schon Jahre im Dachgeschoss, aber eine solche Hitze hatte ich noch nicht erlebt. Es war, als flackerte die Luft innerhalb meiner Wohnung. Ich sah auf die Uhr. 5 Uhr morgens. Um sicherzugehen, sah ich noch einmal nach. 5 Uhr? Mein Schlafzimmer war hell erleuchtet, aber in einem dunklen Rotton. Als schien eine riesige Infrarotlichtlampe durchs Fenster. Es war kaum möglich, aus dem Fenster zu sehen, ohne geblendet zu werden. Mit der Hand schützte ich die Augen, die sich nur langsam an das Licht gewöhnten. Dort draußen lag die Stadt. Der Fluss in der Mitte, umgeben von Hügeln, die immer weiter anstiegen und zu Bergen wurden. Früher hatten wir sie immer als Trichter beschrieben, heute nannten wir sie den Abfluss. Meine Haut schmerzte vom Licht, das mir ins Gesicht fiel. Ich ging kurz ins Bad und duschte mich ab. Aus dem Hahn kam nur warmes Wasser, aber immerhin. Dann zog ich mir ein Shirt an und eine kurze Hose. Schon durch das Anziehen hatte ich so viel geschwitzt, dass sie sofort feucht waren. Ich musste raus. Unbedingt raus.
Die Sonne hatte mich schon immer angewidert, doch noch nie so wie in diesem Moment. Sie thronte dunkelrot am Himmel, sandte ihre Feuerstrahlen auf mich herab. Der Asphalt der Straße wurde immer heißer, der Teer begann zu kochen. Schwarze Blasen zerplatzten. Ich musste tiefe Atemzüge nehmen, um nicht zu ersticken. Die Luft schmerzte in meiner Lunge. Schweiß strömte mir die Haut hinab. Wie widerlich das war. Ich musste ihn loswerden, zog das Shirt aus und wischte mir damit über die Brust, doch der Stoff war schon so nass wie meine Haut. Ich versuchte es mit der kurzen Stoffhose, doch mit demselben Ergebnis. Dann mit den Boxershorts, doch auch sie waren nach Sekunden vollgesogen. Also begann ich den Schweiß mit der Hand von mir zu schlagen. Schon nach einem kurzen Moment rang ich nach Atem, doch schlug immer weiter. Tropfen trafen auf den heißen Asphalt und verdampften. Dann wurde alles schwarz und ich fiel nach vorne.
Die Hand, die ich vor mir sah, war klein. Die Hand eines Kindes. Ich entdeckte Mutter. Sie stand am Ende eines langen Flurs weit weg von mir. Hatte ich sie warten lassen? Sie sah mit abwesendem Blick in meine Richtung. Ihre Gedanken schienen weit entfernt. Ich rannte auf sie zu, doch stolperte und stürzte auf ungeschütztes Fleisch. Meine Knie waren aufgeschlagen, Blut floss langsam die Beine hinab. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich sah zu Mutter hoch. Ihr Gesicht blieb unverändert. Es war leer. Nach kurzem Zögern stand ich auf, lief auf sie zu. Meine Augen waren wieder trocken. Als ich bei ihr ankam, kam Leben in Ihr Gesicht. Sie fuhr mir durch die Haare und lächelte mich an. Dass ich gefallen war, blieb unser Geheimnis.
Ich kam auf der Straße liegend zu mir. Es zischte, wenn ein Tropfen Schweiß von meinem Körper auf den heißen Asphalt traf. Ein Geräusch wie ein bratendes Steak. Erst dann merkte ich den Schmerz. Ich sprang auf, konnte ein Wimmern nicht unterdrücken. Mein ganzer Oberkörper war rot und voller Brandblasen. An den Stellen, auf denen ich gelegen hatte, klebte geschmolzener Asphalt. Grau und flockig wie Asche. Die Hitze war so unerträglich, noch viel schlimmer als zuvor in meiner Wohnung. Noch nie hatte ich etwas Ähnliches gespürt. Die typischen Reaktionen auf Wärme hatten meinen Körper schon bis zur Erschöpfung getrieben. Nun merkte ich, wie der Organismus angegriffen wurde. Meine Sicht wurde unscharf, meine Gedanken unklar. Außer mir war niemand auf der Straße. Nur eine Garage war geöffnet, in der sonst ein Nachbar an seinem Motorrad schraubte. Ich rannte hinein auf der Suche nach etwas Schatten. Auf einer Werkbank lag allerhand Werkzeug, fein geordnet und aufgereiht. Gab es hier irgendetwas, mit dem ich den Asphalt von meiner Haut entfernen konnte? Dort lag nur ein langes Messer. Die graue Masse hatte sich tief in meine Haut gebrannt. Ich musste ganze Fleischbrocken herausschneiden, um sie loszuwerden. Zurück blieben blutende Löcher. Mir war auf einmal so übel. War es der Anblick, der Schmerz oder nur die Hitze? Ich wusste es nicht. So gerne hätte ich mich übergeben, doch es war nicht möglich. Das Blut erinnerte mich wieder an Anna. Hatte so die Leinwand ausgesehen? Ich konnte nicht mehr, wollte die Übelkeit nicht mehr fühlen, wollte die Hitze nicht mehr fühlen. Ich wollte gar nichts mehr fühlen.
Ich rammte das Messer unterhalb meines Bauchnabels in mein Inneres. Dann zog ich die Eingeweide und den Magen heraus, in denen ich die Übelkeit spürte. Schon bald würde ich nicht mehr bluten. Ich griff mir eine Metallsäge und ging hinüber zum Motorrad in der Mitte der Garage. Dann nahm ich den Motor aus dem Rahmen und sägte ihn zurecht, um ihn dann in die freigewordene Stelle in meinem Bauch zu drücken. Nun ragten die Kolben an den anderen Organen vorbei an das Herz heran und würden es bei jeder Explosion im Brennraum zusammendrücken. Dies würde Blut durch meine Adern pumpen. Der Motor trat etwas aus meinem Bauch hervor, doch er saß fest in seinem Loch. Die drei Auspuffrohre des Motorrads schob ich mir durch den Oberkörper und stieß sie durch meine rechte Schulter wieder nach draußen, sodass sie aus meinem Fleisch ragten wie Stacheln. Dann trank ich den Inhalt eines Benzinkanisters und der Motor begann zu brummen.
Als ich zum ersten Mal mit Anna zusammen war, hatte sie noch blonde Haare. Aber schon damals ging ihr Lächeln über das ganze Gesicht. Wir waren vierzehn und betrunken. Kaum zu glauben, dass es schon über zehn Jahre her war. Auf einem leeren Spielplatz tranken wir Wodka Blutorange. Ein Geschmack wie Traubenzucker. Wir lehnten an einer Wippe und setzten abwechselnd die Flasche an die Lippen. Ich trank mehr als sie. Irgendwann wollten wir nach Hause gehen und standen auf. Der Alkohol brachte mich jedoch zum Wanken. Nur unter großer Anstrengung hielt ich mich auf den Beinen, während mein Oberkörper hin- und herschaukelte wie ein schwacher Baum bei starkem Wind. Ich trank den letzten Schluck aus der Flasche, dann fiel ich hin. Etwas verwirrt blickte ich zu Anna hoch. Sie sah mich mitleidsvoll an und streckte die Hand aus, um mir aufzuhelfen. Ich schlug ihre Hand beiseite. Das hatte ich ihr nie verzeihen können.
Inzwischen war der Asphalt so heiß, dass man versank, wenn man sich nicht schnell genug bewegte. Also lief ich, wie ich schon so oft gelaufen waren, damals als Obdachloser. Einfach gerade darauf los. Ich sah die Leiche eines Hundes auf dem Bürgersteig liegen. Der Geruch von gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase, während der Kadaver langsam im Untergrund versank. Es war nun zu heiß, um zu überleben. Auch auf mich hatte es der Hitzetod abgesehen. Er kam mit den dunkelroten Sonnenstrahlen und wollte durch meine Haut schießen, mein Hirn zum Kochen bringen. Doch ich lief ihm davon. Der Motor in meinem Bauch röhrte, um meinen Körper in Bewegung zu halten. Die Kolben schlugen in mein Herz ein wie ein Trommelfeuer. Blut schoss durch meine Adern. Ein entfesselter Strom. Ich konnte es hören in meinem Kopf. Ein geöffneter Wasserhahn direkt zwischen meinen Ohren. Ich lief so schnell wie noch nie in meinem Leben, schwebte geradezu über die Straße. Nur so kam ich über den schmelzenden Asphalt, der langsam den Berg in Richtung Tal hinabfloss und Autos, Straßenschilder und Menschen mitzog. Ich sah Arme mit zuckenden Fingern aus den grauen Fluten ragen. Ich sah Gesichter, rot von Brandblasen, nach Luft schnappen und wieder untergehen. Ihnen zu helfen hätte bedeutet, selbst zu versinken. Der Motor schrie, die Kolben prügelten, das Blut strömte, die Beine liefen. Ein Stehenbleiben war unmöglich. Direkt vor der riesigen Asphaltwelle raste ich in Richtung des Flusses am Talboden. Hinter mir die geschmolzenen Fluten, vor mir der Rest der Stadt, der bald von ihnen begraben würde. Ich sah auch auf der anderen Flussseite eine Asphaltwelle die Hügel hinunterschießen. Selbst die Häuser an der Hügelspitze waren verschwunden, waren eins mit der Welle geworden. Alles zusammen floss nun hinab.
Während meiner Zeit auf der Straße hatte ich früh festgestellt, dass Ermüdung hauptsächlich im Kopf existierte. Wenn die Beine vom Gehen schmerzten und die Schwäche durch den ganzen Körper zog, dann musste man einfach weiterlaufen. So ging ich tausende Kilometer. Über Stein, Feldwege und Waldboden. Fühlte ich Müdigkeit in mir aufkommen, lief ich einfach weiter. Manchmal, wenn man das tat, war es, als verließ man den Weg und die Welt. Als liefe man direkt in das eigene Hirn hinein durch seine tiefsten Windungen. Dann tauchten Bilder von früher auf. Schmerzhafte Bilder. Man musste nur daran vorbeigehen, doch häufig verlief ich mich in ihnen. Ich rastete nur, um zu essen und zu schlafen, ruhte tagsüber und reiste nachts, weil mich die Sonne anwiderte. Wenn sie hoch am Himmel stand und ihre Wärme auf mich herabwarf. Wenn Schweiß aus meiner Haut hervortrat. Dann musste ich mich fast übergeben.
Auf einer meiner langen Wanderungen sah ich Gott. Er lief langsam und zog sein rechtes Bein nach, aber mit erhobenem Blick, die Augen nach vorne auf den Horizont gerichtet. Als ich anfing, auch das Bein nachzuziehen, um seinen Gang nachzuahmen, drehte er sich wütend zu mir um.
„Folg gefälligst deinem eigenen Wahn!“, schrie er.
Seitdem führte ich bei jedem dritten Schritt den linken Fuß etwas zu weit nach außen.
Auf der Brücke über den Fluss standen hunderte Gestalten am Geländer, die sehnsüchtig in die Tiefe starrten. Sie schmachteten dem Wasser hinterher, das quälend langsam dahinfloss. Weg von hier. Niemand sagte etwas. Jeder hing den eigenen Gedanken nach. Hier, wo das in weißem Dampf verdunstende Wasser die Gegend noch etwas abkühlte, wägten sie ab, ob der direkte selbst gewählte Tod dem langsamen Hitzetod vorzuziehen war. Was die meisten von ihnen zaudern ließ, war die Hoffnung. Die winzige Wahrscheinlichkeit, dass die Hitze einfach aufhörte und am nächsten Tag das normale Leben weiterging. Manchmal war gerade die Hoffnung die größte Grausamkeit und Quälerei. Ich sah eine Gruppe Körper vorbeischwimmen. Die Gesichter im Wasser, die Rücken leicht aus ihm ragend. Sie hatten die Hoffnung aufgegeben. In den Gesichtern auf der Brücke blitzte Neid auf. All diese Dinge nahm ich nur im Vorbeigehen wahr, während ich über die Brücke auf die andere Seite lief. Nur wohin? Auch hier kam eine Asphaltwelle den Hügel hinunter. Direkt am Ufer stand ein altes Gebäude aus der Gründerzeit mit offener Tür. Ich lief darauf zu und warf sie hinter mir ins Schloss. Gerade rechtzeitig. Kurz bevor die Tür zu fiel, sah ich die grauen Massen. Ein lautes Zischen war zu hören, als der Asphalt das Flusswasser erreichte. Den Menschen auf der Brücke war die Entscheidung genommen worden. Nun gab es kein Zurück mehr. Das Gebäude war begraben. Die ganze Stadt war verschlungen vom Asphalt und Beton, der sie früher zusammengehalten hatte.
Seit wir zusammengezogen waren, stritten wir ständig. Ich versuchte sensiblen Themen meistens aus dem Weg zu gehen, doch das schien Anna nur noch wütender zu machen. Immer, wenn sie eines ihrer Bilder vollendet hatte, holte sie mich ins Schlafzimmer, wo sie eine Ecke für ihre Malerei eingerichtet hatte.
„Wie findest du es?“
„Gut.“
„Wie wirkt es auf dich?“
„Na ja, ein bisschen traurig? Aber ist echt gut.“
Diese Gespräche liefen alle gleich. Immerhin waren ihre Bilder alle sehr dunkel. Schwarz, grau, dunkelrot. Am Anfang grinste sie noch über meine vorhersehbare Antwort, doch das Lächeln wurde mit jedem Mal schmaler. Irgendwann fragte sie mich nicht mehr. Eines Tages lag ein Schreiben im Briefkasten. Sie hatte an einem Wettbewerb teilgenommen, ohne es mir zu sagen. Nun saß sie vor dem Umschlag und traute sich nicht, ihn zu öffnen. Also bat sie mich.
„Ist eine Ablehnung.“
„Was wirklich?“
Sie riss mir den Brief aus der Hand und las ihn mehrmals durch. Dann fing sie an zu weinen. Das Gesicht in den Handflächen, lehnte sie über dem Tisch. Tränen tropften auf das Papier, das ihre Hoffnungen zerstört hatte. Ich stand daneben und wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich gehen? Letztlich stellte ich mich neben sie und legte meine Hand auf ihre Schulter.
„Du hast mich angelogen.“
„Was?“
„Ich hab dich gefragt, ob die Bilder gut sind und du hast mich jedes Mal angelogen.“
„Nein …“
„Wegen deiner Lügen habe ich mich lächerlich gemacht.“
„Wieso?“
„Was soll ich jetzt machen? Das ist alles, was mir wichtig war, und es ist alles scheiße.“
„Mach einfach weiter.“
Sie starrte mich wütend an.
„Das ist alles, was du zu sagen hast?“
Ich schwieg, doch das brachte sie zum Ausrasten. Ihr Gesicht war dunkelrot, als sie sich zu mir umdrehte.
„Lass mich in Ruhe mit deinen Roboterratschlägen. Wieso sind wir nur je zusammen gekommen. Geh weg, lass mich allein!“
Also holte ich einen Rucksack und packte die wichtigsten Dinge ein. Damals wusste ich es noch nicht, doch ich würde die gemeinsame Wohnung nie mehr wieder sehen und die nächsten Monate auf der Straße verbringen. Ich öffnete die Tür und ging.
Im Gebäude war es düster. Als das Licht beim Eintreten durch die Tür eingefallen war, hatte ich eine in den Keller führende Treppe sehen können. Diese lief ich nun hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal. Unten war ein Tunnel mit runden Wänden aus rosa Material, die zu pulsieren schienen. Ich konnte etwa einen Meter weit sehen, obwohl es keine Lichtquellen zu geben schien. Mein Körper lief geradeaus, immer tiefer in den Fleischtunnel. In der Schwärze vor mir tauchte Mutter auf. Sie war jung. Kaum älter als damals auf dem Flur. Sie sah genervt aus, sah dauernd auf ihre Armbanduhr.
„Komm jetzt, ich wollte dich nur schnell abholen und weiterfahren! Dein kleiner Bruder wartet schon ewig.“
„Es ist so heiß. Meine Beine tun weh.“
„Im Auto ist eine Klimaanlage.“
„Das ist zu weit weg.“
„Na komm schon. Bitte.“
Nun lief ich so schnell wie noch nie zuvor. Der Motor heulte auf und hämmerte in mein Herz hinein. Ich schmeckte Blut, flog geradezu durch die Windungen des Tunnels nach links und rechts. Es wurde immer enger. Eben war er noch doppelt so hoch und breit wie ich gewesen. Nun hatte er fast meine Maße. Laufen. Laufen. Laufen.
Das Auto stand auf einem asphaltierten Parkplatz. Nirgendwo gab es Schatten. Am Himmel thronte die Sonne in einem wolkenlosen Himmel. Sie sandte Hitze auf die Stadt, unter der ich schwitzen musste. Als Mutter die Fahrertür öffnete, dachte ich kurz daran, wie schön der Tag gewesen war. Dann begann sie zu schreien.
Der Tunnel war nun so eng, dass meine Schultern an den Seiten rieben. Die Auspuffrohre aus meiner Schulter schabten an der Decke entlang. Eine Linkskurve und der Tunnel endete. Vor mir war eine Tür aus weiß gestrichenem Holz, ganz wie unsere damalige Wohnungstür. Ich lief mit voller Geschwindigkeit dagegen. Beim Aufprall wurde der Motor tief in meine Magengrube gedrückt. Ich spuckte Blut auf die weiße Fläche. Doch die Tür hielt stand. So blieb ich nach all dieser Zeit stehen. Mit aller Kraft, die der Motor in mir aufbrachte, schlug ich gegen das Holz. Drei schwere Schläge.
„Anna, bitte mach auf!“
Schweigen.