Lauf!
Ich schrecke auf.
Um mich herum ist alles dunkel. Wo bin ich? Obwohl ich nichts sehe, habe ich das Gefühl, dass sich alles dreht. Zu schnell aufgewacht und aufgerichtet. Lang eiiiinaaaaatmen und ausatmen. Eiiiin und aus. Die Welt stabilisiert sich und meine Augen gewöhnen sich an das Dunkle. Hinter mir gibt es eine schwache Lichtquelle. Die Notbeleuchtung. Natürlich, ich bin in der Unibibliothek. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Dann fällt mir wieder alles ein. Mein Freund, Simon, der mich versetzt hat, weil er lieber mit seinen Kumpels saufen gehen wollte. Der Idiot. Die Prüfung nächste Woche, auf die ich so viel zu lernen habe. Die Party gestern Nacht, wegen der ich den ganzen Tag so müde war. Ich fische mein Handy aus der Hosentasche und kann nur noch schnell die Uhrzeit entziffern, bevor der Akku leer ist und der Bildschirm schwarz wird. Halb zwei. Ich habe also ungefähr drei Stunden geschlafen. Und die haben mich hier eingesperrt!
Ich springe auf und stopfe meine Unterlagen in meine Tasche. Feuerschutztüren müssen aber immer nach außen aufgehen. Feuerschutztüren müssen immer nach außen aufgehen, man kann nicht eingesperrt werden, sondern nur ausgesperrt! Ich schwinge mir die Tasche auf die Schultern und -
Was war das? Ich wirble herum.
Toktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktok
Es hört sich an, als würde jemand mit einem Stift die Buchrücken in den Regalen entlangfahren. Doch ich kann niemanden sehen.
„Ist da jemand?“
Das Geräusch verstummt.
Ich spüre, wie sich eine Schweißperle auf meiner Stirn bildet. Ich halte die Luft an, um zu hören, ob sich jemand in meiner Nähe bewegt. Doch da ist nur Stille. Ich schnappe meinen Autoschlüssel vom Tisch und gehe Richtung Ausgang. Ich bin so oft in der Bibliothek, dass ich mich blind auskennen würde. Mein Auto steht auf der anderen Seite des Campus. Zehn Minuten, wenn ich mich beeile. Zehn Minuten. Ich beschleunige meine Schritte, weil ich dieses Gefühl habe, angestarrt zu werden. Jetzt mach dich nicht verrückt. Dreh nicht -
Toktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktok
Dieses Mal lauter. Schneller. Näher.
Mir entfährt ein leiser Schrei. Ich drücke die Tasche gegen meine Brust und stürme auf die Ausgangstür zu, über der das Notausgangsschild matt grün leuchtet.
Toktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktoktok
Ich höre meinen Puls in meinem Ohr pochen. Ich werfe mich gegen die Tür und drücke die Klinke nach unten. Geh auf, geh auf, geh auf, bitte, bitte, bitte! Die Tür schwingt auf, ich stürze aus dem Saal hinaus und werfe die Tür hinter mir wieder zu. Ich lehne mich gegen sie und keuche und rechne jeden Augenblick damit, dass sich jemand von innen gegen die Tür wirft. Doch nichts geschieht. Du bist ein feiges Huhn. Zu viele Horrorfilme in letzter Zeit, da war nichts.
Auch hier ist es nicht sonderlich hell. Wie auch in der Bibliothek wurde das Unigebäude um diese Zeit nur von einem schwachen Notlicht beleuchtet. Von draußen fällt das Mondlicht herein, das jedoch auch nicht sonderlich hell ist. Ich löse mich von der Tür und gehe zwischen den Reihen aus Schließfächern hindurch, solange, bis ich zur Treppe komme, die an einer Cafete vorbei ins Erdgeschoss führt. Ich setze gerade meinen rechten Fuß auf die erste Stufe, als mein Herz einfriert. Die Bibliothekstür! Ich springe nach oben und sehe, wie die Tür ins Schloss fällt. Doch es ist keine Menschenseele zu sehen.
„Ist da wer?“, frage ich noch einmal. Doch nur Stille antwortet mir. „Das ist nicht lustig, Mann!“
KUFF
Ich stolpere zurück. Jemand hat gegen eines der Schließfächer geschlagen.
KUFF
FUCK! Ich renne die Treppe hinunter und überspringe die letzten paar Stufen. Im Stockwerk über mir ertönt ein lautes, kreischendes Lachen, gefolgt von einem „Huiii!“. Was zur Hölle, was zur Hölle! Ich stoße eine der Schwingtüren auf und stolpere ins Freie. Der kürzeste Weg ins Parkhaus ist ins Unigebäude gegenüber hinein, dort durchlaufen und dann geht’s links eine Treppe runter. Doch ich erstarre, als ich die dreißig Meter zu dem Gebäude vor mir laufen will.
Der Mond scheint hell genug, dass ich den Mann sehen kann, der hinter der Schwingtür steht. Er ist ganz in schwarz gekleidet, nur der Kopf ist strahlend weiß. Eine grinsende, weiße Fratze. Ich sehe, wie er die Hand hebt und mir zuwinkt.
„Hilfe!“, schreie ich in die Nacht hinaus und laufe nach links. Ich muss um das Gebäude herum ins Treppenhaus. „HILFE!“ Schweiß läuft mir in die Augen und brennt. Ich wische ihn mir mit dem linken Handrücken weg, meine rechte Hand hat meine Tasche fest umklammert. Hinter mir höre ich zwei Schwingtüren aufgehen und wieder zufallen und das irre Lachen schneidet durch die Stille. Oh Gott, bitte hilf mir! Ich springe die kleinen Stufen hoch und laufe nach rechts. Ich kann das Treppenhaus schon sehen. Noch ungefähr hundert Meter. Hundert Meter! LAUF SCHNELLER!
Ich laufe zwischen zwei Fahnenstangen hindurch und merke, wie mir meine Füße unter dem Körper weggezogen werden. Eine Schnur. Zwischen den Masten gesp -
Ich schlage der Länge nach auf dem Boden auf und die Luft wird aus meinen Lungen gepresst. Mein Kinn rammt den Boden so stark, dass ich kurzzeitig den Gedanken habe, mir das Kiefer gebrochen zu haben. Hinter mir höre ich das kreischende Lachen näherkommen. „Hiiingefallen!“, hörte ich eine andere Stimme singen. „Hiii Hiii!“ Ich hole tief Luft und rappele mich auf. Blut tropft mir vom Kinn. Ich lasse meine Tasche, die einen Meter weiter geflogen ist als ich, liegen und sprinte los. Jeder Schritt schießt beißende Schmerzen durch mein rechtes Knie und ich spüre, wie mir Blut das Schienbein runterläuft. Zähne zusammenbeißen, weiter laufen! SCHNELL!
Als ich das Treppenhaus endlich erreiche, ist aus meinem Sprint ein Humpeln geworden. Ich stütze mich mit einer Hand auf den Handlauf und versuche so schnell wie möglich, die Stufen hinabzusteigen. Meine Hose spannt sich mittlerweile über meinem rechten Knie und ich kann es kaum noch abwinkeln. KOMM SCHON! Erstes Untergeschoss. WEITER! Zweites Untergeschoss. EINES NOCH! Meine Verfolger hämmern mit irgendetwas metallischem auf den Handlauf ein. „Lauf, Schätzchen, lauf!“, schreit mir einer der beiden hinterher. Seine Stimme hallt durch das ganze Treppenhaus. Drittes Untergeschoss. Und jetzt raus hier! Ich stoße die schwere Eisentür auf und falle ins Parkhaus, als mein Knie nachgibt. Ich schaffe es gerade noch, die Tür hinter mir zufallen zu lassen. Jetzt steh schon auf! STEH AUF! Ich ziehe mich an einem Geländer hoch und versuche, mein Gewicht auf meinem linken Fuß auzubalancieren. Mein rechtes Knie ist ein einziger, gewaltiger Ball aus Schmerz. Da drüben steht dein Auto, das sind keine zwanzig Meter! LOS!
Ich springe auf einem Bein in kleinen Sprüngen auf meinen Fiat zu. Jeden Moment wird die Tür hinter mir aufgehen und die beiden Irren werden mich holen. Kleine Sprünge. Jetzt keinen Fehler. Hopp! Hopp! Ich drücke auf den Schlüssel und mein Auto blinkt. Noch drei Sprünge! Hopp! Hopp! HOPP! Ich reiße die Fahrertür auf und springe in den Wagen. Die Eisentür ist immer noch geschlossen. Vielleicht haben sie aufgegeben, die Wixxer. Ich schlage die Fahrertür zu und verriegele alle Türen.
Beruhig dich, du bist sicher. Wenn sie jetzt reinkommen, fährst du sie um. Lang eiiiinaaaaatmen und ausatmen. Eiiiin und aus. Eiiiiiin und aus. Ich hieve meinen rechten Fuß aufs Gaspedal. Wird schon gehen. Muss gehen. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss.
„Nicht so klug, seinen Schlüssel herumliegen zu lassen, wenn man schläft.“
Etwas Kaltes wird an meine Kehle gedrückt. Ich sehe, wie die Eisentür aufschwingt und die zwei maskierten Männer ins Parkhaus treten. In ihren Händen tragen sie große, silberne Messer.
„Wieso macht ihr das?“
Der Mann hinter mir lacht.
„Wieso nicht?“