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Lauf
Schon lange hatte sie nicht so viel auf einmal gesagt. Warum sie ihr Schweigen gebrochen hatte, wusste sie auch nicht genau. Dieser Junge hatte es mühelos geschafft ihr Vertrauen zu gewinnen.
„Lisa, alles klar bei dir?“ Er schaute sie besorgt an. Erschöpft brachte sie ein Nicken zu Stande und versuchte sich zu sammeln. Unzählige Bilder stürmten auf sie ein; Erinnerungen, die sie schon zu lange todgeschwiegen hatte. Ein Zittern überfiel ihren Körper und ihre Knie gaben nach. „Lisa..?!“
Ihr Vater, wie er über ihr steht. Groß, stark, mächtig. Schmerzen, Angst, Hass. „Du Schlampe willst es doch nicht anders!“ Ein Schlag nach dem Anderen landet zielsicher in ihrem Gesicht.
Tränen traten ihr in die Augen; langsam wurde ihr wieder bewusst, wo sie sich befand. Er starrte sie erschrocken an: „Komm, ich helf‘ dir. Ganz langsam, okay?“
Behutsam half er ihr auf die Bank. „Du zitterst ja!“ Mit besorgtem Blick zog er seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Lisa schaute ihm in die Augen. Einen kurzen Moment schien es ihr, als kenne sie diese Augen, dann schüttelte sie den Kopf.
Schwarz. Alles schwarz; der Himmel schwarz, ihre Seele schwarz, der Friedhof schwarz. Erstarrt stand sie da; blickte mit einer roten Rose in der Hand auf das Grab ihrer Mutter hinab. Trauer, Verzweiflung, Hass. Der Mörder steht direkt neben ihr.
„Lisa!“ Erschrocken zog sie die Schultern hoch. Ohne es zu merken war sie aufgestanden und auf den See zugegangen. Er war ihr auf Schritt und Tritt gefolgt; immer bereit, sie aufzufangen. Ihre Augen sahen so verzweifelt und traurig aus, dass er nicht anders konnte als sie in den Arm zu nehmen. Willenlos und unfähig sich zu bewegen ließ sie es geschehen.
Sein Geruch … Alles erinnerte sie an …. Unsinn. Er war tot. Nicht mehr hier. Konnte ihr nichts mehr tun. Sie würde ihm keine Kontrolle mehr über ihr Leben geben.
Blaulicht. Ein Polizist, der ihr behutsam das Messer aus der Hand nimmt. Alles so verschwommen, so gedämpft. Rettungssanitäter, die beruhigend auf sie einreden, sie vorsichtig aus der Wohnung bringen. Rot. Alles rot. Seine Starren Augen scheinen sie zu verfolgen. Nie wird sie diesen Blick vergessen können. Nie.
„Nein!“ Mit tränenüberströmtem Gesicht löste sie sich aus der Umarmung, wich einige Schritte zurück und schaute ihm in die Augen. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Nicht er.
Bestürzt schaute er Lisa an. Was war denn nun los? Er hob die Hände, trat einige Schritte auf sie zu: „Was …. Was ist los?“
Eine fremde Frau. „Was wollen Sie?“ Prüfende Blicke der Frau: „Ist dein Vater da?“ Durch die Zimmertür hört sie die Frau mit ihrem Vater reden. „Ich bin schwanger. Es ist dein Kind.“ Ihr Vater, wutschnaubend, die Hand erhoben. Ihre Mutter, die stumm in der Tür steht. Die Fremde, wie sie schreiend aus der Wohnung läuft. Schnell schließt sie die Tür, verkriecht sich unter der Decke und fängt an zu beten.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Jungen an. „Du … Du …“ Unfähig weiter zu sprechen wich sie noch ein paar Schritte zurück; versuchte so weit wie möglich von ihm wegzukommen. Hilflos hob er die Hände; versuchte herauszufinden, was geschehen war.
„Du … Du bist sein Sohn. Deinetwegen hat er meine Mutter umgebracht, deinetwegen musste ich ins Heim und deinetwegen musste ich ihn töten!“ Ihre Stimme war leise, leiser als ein Flüstern.
Und er wusste, sie hatte es verstanden. Sein Plan hatte nicht funktioniert. Eigentlich schade um sie. Sie war hübsch, vielleicht hätte er sie noch gebrauchen können. Und vielleicht sollte er ihr einen Vorsprung geben; immerhin war sie seine Halbschwester.
Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht; das Spiel war nicht vorbei, es hatte gerade erst begonnen.
„Lauf.“