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Lauf, Igeli, lauf!
Es war einmal eine Igel-Familie: Vater, Mutter und Igeli. Sie waren wie alle Igel nachts unterwegs, liefen viele Kilometer weit und fraßen Schnecken, Würmer, Mäuse und anderes Krabbeltier, die sie unterwegs fanden. Tagsüber schliefen sie.
Die Eltern waren es leid: Immer umherlaufen, die anstrengende Arbeit nachts! Viel lieber würden sie auf Mallorca in einem Hotel wohnen, tagsüber am Swimmingpool liegen und nachts in einem Bett schlafen. Nur wie sollten sie das anstellen?
Eines Tages kamen sie auf die Idee, für Igeli eine Unfallversicherung abzuschließen. Sie mussten dann nur dafür sorgen, dass es unter ein Auto kam, dann konnten sie die Versicherungssumme kassieren. Sie würden dann ein neues Igeli produzieren, sodass sie wieder vollzählig wären. Vielleicht war das neue Igeli auch ganz nett. „Sterben müssen wir alle einmal", dachten die Eltern, warum sollte das Igeli nicht ein wenig früher sterben, wenn es zum Wohle der Hinterbliebenen wäre.
Die ersten Nächte, nachdem die Versicherung abgeschlossen war, waren hart für Igeli. Seine Eltern suchten Touren aus, die über viel befahrene Straßen führten. Igeli tippelte besonders schnell, wenn es Asphalt unter seinen Füßen spürte und entging manchmal nur knapp dem Igeltod. Die Eltern hatten es gut. Sie waren schneller, überquerten als erste die Straße und riefen von der anderen Seite „Lauf, Igeli, lauf!", wenn sie ein Brummen aus einer Richtung hörten; am besten waren die Momente, wenn das Brummen aus zwei Richtungen kam. Und solange Igeli nicht unter Rädern platt gemacht wurde, führten sie ihr Leben weiter.
Dauernd über große Straßen tippeln; von einer Seite auf die andere; die Eltern waren seltsam und gingen Igeli auf den Wecker: „Warum können wir nicht in einer Nacht in einem Garten bleiben und dort abräumen?", fragte es nörgelig.
Der Vater antwortete: „Im Biologiebuch steht, dass Igel jede Nacht ungefähr drei Kilometer weit laufen. Deshalb müssen wir uns auch wie Igel benehmen und von Garten zu Garten wandern. Dazwischen liegen nun einmal viele, viele Straßen."
Igeli hatte herausgefunden, dass es in Etappen die Straße überqueren und so überleben konnte. Es tippelte bis zur Mitte einer Fahrbahn oder bis zum Mittelstreifen und wenn es ein Brummen hörte, rollte es sich ein, bis das Auto vorüber war, dessen Räder rollten rechts und links vorbei. Sollten seine Eltern von der anderen Straßenseite rufen, so laut sie wollten. (Diese Taktik war zwecklos, wenn ein Auto genau an der Stelle zum Überholen ansetzte. Igeli wusste es nicht und überlebte nur deshalb, weil nachts kaum ein Auto überholen musste.)
Igeli hatte großes Glück. - Und es war sozusagen ein Experte im Überqueren von Straßen geworden.
Seine Beine waren schneller geworden als die seiner Eltern und einmal, als sie, wahrscheinlich zum hundertsten Mal, über die gleiche Straße tippelten, waren die Eltern damit beschäftigt, Igeli unter die Räder irgendeines Autos zu bugsieren. Und als sie das gewaltige Brummen hörten, das gerade über sie kam, riefen sie: „Lauf, Igeli, lauf!" - und hatten drei Dinge nicht beachtet:
Erstens, Igeli war längst auf der anderen Seite; zweitens, sie befanden sich noch auf dem Asphalt; und zu allem Unglück drittens, näherte sich ein LKW in hohem Tempo und beförderte Vater und Mutter Igel aus dem Leben.
Der Igel trauerte um seine Eltern, so wie es sich für Igel gehörte, wunderte sich über die Unfallversicherung, und zwanzig Mallorca-Prospekte und änderte sein Leben. Er zog in ein Naturschutzgebiet um (da fuhren nicht einmal tagsüber LKW). Er fand eine Frau, produzierte mit ihr viele Igelis und erzog sie zu Marathonläufern. Bei Marathon-Veranstaltungen standen die Eltern am Wegrand und riefen: „Lauft, Igelis, lauft!"
Sie schlossen keine Unfallversicherung ab: „Die brauchen Igel im Naturschutzgebiet nicht und sterben müssen wir alle irgendwann", sagte der Igel, „oder leben wir noch heute?"