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Laub ist Laub
„Hier stinkt's!“, ruft Eric von der Türschwelle aus und hält sich die Nase zu.
„Alte Häuser riechen nun mal“, antwortet sein Vater aus dem schummrigen Dunkel des Flurs. Erst der dritte Schalter, den er probiert, erhellt eine nackte Glühlampe an der Decke. „Das ist weg, wenn die Handwerker fertig sind.“ Aus dem Augenwinkel heraus sieht er Eric in den Flur stapfen, die Kapuze seines abgewetzten Pullis ins Gesicht gezogen. Mit den Händen tief in der Bauchtasche sieht er aus wie alle Teenager auch.
„Ich will nicht wegziehen!“ Mit einem Fuß klappt Eric eine lose Teppichecke um.
„Jetzt fang‘ nicht wieder damit an!“ Sein Vater packt ihn an den Schultern, hält ihn auf Armeslänge vor sich. „Ich habe es dir hundertmal erklärt. Wir haben ... “ Sofort dröhnt Erics Schrei in seinen Ohren und er lässt reflexartig los. Stille. Eric hebt die Teppichecke erneut an und lässt sie zurückflappen. Immer wieder.
„Ich öffne ein paar Fenster und hole dich gleich. Dann zeige ich dir den Rest.“
Während er mit dem Rechen über die Terrassenplatten kratzt, sieht Eric's Vater die Tochter der Nachbarn am Zaun entlanggehen.
„Hallo“, ruft er und wendet sich ihr zu. Doch sie hat nur Augen für ihr Handy. Spinnengleich huschen Finger über die Oberfläche. Einen Moment später ertönt rhythmisches Zischen, das an eine Spielzeugdampfmaschine erinnert. Die rechte Hand gleitet mit dem Handy in die Jeans, die Linke reißt die Baseballmütze herunter. Sie schüttelt ihre schulterlangen Haare und faltet sie mit flinken Griffen wieder unter ihre Mütze. Der Rhythmus wechselt und Nicole lässt ihren schmalen Körper mitwippen. Sie geht kurz in die Knie, bindet den neongrünen Schnürsenkel neu und zieht den Orangen fest. Als sie um die Hausecke verschwindet, legt Eric's Vater den Rechen zur Seite, beginnt Laub in einen Sack zu schaufeln, blickt zum Ende des Gartens. Von dort erklingt schon seit einer Stunde das regelmäßige Quietschen der Schaukel.
Auf der Terrasse stehen vier Säcke Laub. Ahorn und Weißdorn. Warum hat er das Laub eingesammelt? Das sieht doch schön aus, wenn es im Sonnenschein gelb leuchtet. Außerdem brauchen die kleinen Tiere das Laub als Schutz. Die Säcke sind so leicht, dass Eric zwei auf einmal tragen kann. Über die Treppe an den Beeten vorbei. Auf der zweiten Tour reißt ein Rosenzweig ein Loch in einen Sack. Laub purzelt heraus. Aber das macht nichts. Der Wind wird es schon an die richtigen Stellen blasen. Genau wie das restliche Laub, das Eric mit vollen Händen im Garten verteilt. Schön gleichmäßig.
Etwas ist falsch. Unter dem Ahorn muss doch mehr Ahornlaub liegen, als unter den Weißdorn-Büschen, und unter die Büsche gehört Weißdornlaub und kein Ahornlaub. Warum musste er auch das Laub einsammeln? Jetzt ist alles durcheinander. Ein paar Blätter wirbeln hoch, als Eric dagegen kickt. Das Mädchen im Nachbargarten blickt zu ihm rüber. Kann sie nicht mal woanders hingucken? Warum immer in unseren Garten? Kopfschüttelnd hockt Eric sich hin, sammelt Ahornblätter und legt sie an die richtige Stelle. Unter dem Ahorn sammelt er Weißdornblätter und füllt damit die leeren Flecken unter den Büschen, wo die Ahornblätter lagen. Oder guckt sie den Ahorn an? Aber der steht ja schon ein paar Jahre, und warum sollte sie ihn sich jetzt angucken, wo sie doch schon länger hier wohnt. Vielleicht sieht sie das Nest an? Das wurde bestimmt gerade erst gebaut.
Beim Schwung nach vorne ist der Ton höher, als beim Schwung nach hinten. Gleichmäßig bewegt Eric die Beine vor und zurück, bis er genügend Schwung hat. Vor und zurück. Vor und zurück.
Sie steht schon wieder im Garten und blickt herüber. Diesmal hat sie eine Zeitschrift in der Hand, eine von denen mit vielen Köpfen auf der Titelseite. Immer wieder blättert sie kurz drin, und sieht dann in seine Richtung.
Vor und zurück. Vor und zurück. Jetzt hockt sie sich hin, legt das Heft auf den Rasen und macht irgendwas an ihren Schuhen. Vor und zurück. Vor und zurück. Erst am rechten Schuh, dann am Linken. Nein, falsch, erst am Linken. Rechts ist ja links bei jemandem, der vor einem steht und einen ansieht. Wenn derjenige mit dem Rücken zu einem steht, bleibt Links links und Rechts rechts. Vor und zurück. Vor und zurück. Wenn man vor einem Schrank steht, dann gilt das nicht. Vor und zurück. Vor und zurück. Ein Schnürsenkel ist grün, der andere orange. So weiß sie immer welcher Schuh an den linken Fuß und welcher an den Rechten gehört. Das ist praktisch. Vor und zurück. Vor und zurück. Endlich ist sie weg. Nur das Heft liegt noch auf dem Rasen. Wenn es heute Nacht regnet, wird es nass.
Vor und zurück. Vor und zurück.
Was tut man nicht alles, um seine Ruhe zu haben. Eric's Füße finden gerade so Halt in der Astgabel. Mit einer Hand hält er sich am Stamm des Ahorns fest. Doch egal wie sehr Eric sich streckt, das Nest ist zu weit entfernt. Was musste die Amsel ihr Nest auch so weit außen bauen.
Eric bricht einen kleinen Ast ab, stochert in Richtung Nest, aber der Zweig ist zu kurz. Eric schleudert ihn zu Boden. Wenn er doch nur irgendwie an das Nest kommen könnte. Dann könnte er es ihr geben, und sie würde ihn in Ruhe lassen, statt immer nach dem Nest zu glotzen.
Eine Windböe lässt die Äste schwanken. Eric klammert sich mit beiden Händen an den Stamm, schließt kurz die Augen. Er ist zwar nicht hoch im Baum, aber das Schwanken fühlt sich furchtbar an. Als es nachlässt, atmet Eric tief durch. Nochmal. Dann legt er sich mit dem Bauch auf den Ast und robbt langsam vorwärts, während sich der Ast spürbar absenkt. Das Nest ist nur noch eine Handbreit entfernt. Der Wind frischt auf und Eric klammert sich wieder fest, schließt die Augen. Der Ast schwankt, knackt und plötzlich geht es abwärts.
Für einen Moment spürt Eric nichts, dann tut auf einmal alles weh. Mit offenem Mund liegt er auf dem Rasen, aber er hört seinen eigenen Schrei nicht. Er kann sich nicht bewegen.
Es wird kühl im Rücken und der Schmerz ist nur noch im rechten Fuß. Eric öffnet die Augen, stützt sich vorsichtig auf, sieht sich um. Neben ihm liegt das Nest. Unversehrt und sogar richtig schön. Die Zweige sind gleichmäßig ineinander gesteckt.
Mühsam steht Eric auf und humpelt mit dem Nest in der Hand ins Haus zurück.
„Bis nachher“, ruft Nicole, während sie mit einer Hand die Haustür aufzieht. Auf dem Trittstein liegt vor ihren Füßen ein Vogelnest. Mit spitzen Fingern hebt sie es auf, betrachtet es von allen Seiten, sieht sich um. Vor dem Haus steht doch gar kein Baum, aus dem es herausgefallen sein kann?
Stirnrunzelnd geht sie weiter, hält das Nest weit von sich. An der Mülltonne hebt sie den Deckel und wirft es hinein. Als der Deckel zufällt, entdeckt sie eine Bewegung an einem Fenster im Nachbarhaus. Sie schaut hoch, sieht einen Vorhang wackeln, und geht weiter zur Straße.
Die Haustür knallt ins Schloss. „Die Schaukel ist kaputt.“ Zwei Schuhe fliegen in eine Ecke.
„Eric, das ist kein Grund zu randalieren.“ Die Hände an einem Handtuch trocknend kommt er aus der Küche. „Was soll denn kaputt sein? Gestern Abend war sie noch in Ordnung, als ich sie geölt habe.“
Eric steht auf der Treppe, den Blick auf die Stufen, eine Hand am Geländer festgekrallt. „Sie singt nicht mehr!“
„Die Nachbarin hatte sich über das Quietschen beschwert. Mir ging es auch auf die Nerven.“
„Alles machst du kaputt! Alles!“ Eric stampft die Treppe hoch, „Ich will wieder nach Hause!“ Noch eine Tür knallt.
„Eric!“
Ein kleines bisschen singt sie noch, aber Eric hört es nur, wenn rund herum alles ruhig ist.
„Hy, ich bin Nicole.“ Diesmal steht sie am Gartenzaun, beide Hände umklammern den oberen Draht.
Vor und zurück. Vor und zurück.
„Kommst du mal?“
Die Erde staubt ein wenig, als Erics Schuhe den Boden berühren. Er steht auf, hält die Schaukel fest. Erst als sie nicht mehr schwingt, geht er zu ihr rüber.
„Ich bin Nicole. Wie heißt du?“
„Ich heiße Eric. Ich bin vierzehn.“
„Ich auch.“
„Nein, du hast eben gesagt, du heißt Nicole.“
Sie verdreht die Augen. „Ich meine, ich bin so alt, wie du.“
Erics Blick wandert durch den Nachbargarten. „Deine Mütze ist falsch herum. Der Schirm gehört nach vorne. Dann scheint die Sonne nicht in die Augen.“
„Du hast keine Ahnung, was in ist. Caps trägt man so.“ Sie versucht für einen Moment Erics Blick zu fangen, aber es gelingt ihr nicht.
„Das Vogelnest vor unserer Tür war das von dir?“
Eric schiebt beide Hände in die Bauchtasche.
„Danke.“
„Du hast es in den Müll geworfen.“
„Da wusste ich doch nicht, dass es von dir ist.“ Sie blickt auf ihre Füße, malt mit dem linken Schuh einen Kreis. „Ich dachte, der Wind hätte es vor die Tür geweht.“
„Ich habe es extra mit der Mitte auf ein Fugenkreuz gelegt.“
Schweigen.
„Was machst du gerade?“
„Ich stehe am Zaun.“
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Ich finde dich süß.“
„Kuchen sind süß. Und Bonbons.“ Für einen Moment guckt Eric sie an, wendet den Blick aber ganz schnell wieder ab. „Und Lollis.“
„Du bist wirklich schüchtern. Guck' mich doch mal an. Ich beiße nicht.“
„Ja, ich bin sehr schüchtern.“ Das ist das Einzige, was Eric als Antwort einfällt. Warum sagt sie nicht endlich, was sie von ihm will?
„Weißt Du, was man mit Lollis macht?“
„Lutschen.“ Das weiß doch nun wirklich jedes Kind.
„Möchtest Du mein Lolli sein?“ Noch bevor Eric reagieren kann, zieht sie seinen Kopf mit beiden Händen zu sich ran, drückt ihren Mund auf seinen. Eric spürt ihren Atem und beginnt zu zappeln. Sie leckt über seine Lippen und schiebt ihre Zunge in seinen Mund. Eric hält die Luft an, seine Arme wirbeln herum, bis sie auf Nicoles Brust aufsetzen. Er versucht Nicole von sich zu drücken, aber sie hält fest. Seine rechte Hand rutscht in den Ausschnitt ihrer Bluse, spürt ihre Wärme.
Sie lässt so plötzlich los, dass er stolpert. „Hey!“
Für einen Moment sitzt Eric auf dem Boden, starrt sie an. Er atmet schnell und flach.
„Was ist denn los mit dir?“, fragt sie, während sie ihre Bluse zurechtrückt und mit einer Hand ihre Mütze herunterreißt und wieder aufsetzt. „Das war doch nur ...“
Den Rest hört Eric nicht mehr. Er hat sich längst aufgerappelt, rennt über den Rasen zur Treppe, stolpert auf der zweiten Stufe, fängt sich und rennt weiter zum Haus. Das Glas in der Haustür scheppert.
Schaukeln geht nicht, solange sie im Garten ist. Eric lässt den Vorgang zurückfallen und setzt sich wieder vor sein Bett, Knie an die Brust gezogen, Augen geschlossen. Sein Mund schmeckt nach Zahnpasta. Sie hat doch gesagt, sie würde nicht beißen. Sie soll das auf keinen Fall nochmal machen. Warum macht sie so was? Das ist doch ekelig.
Endlich ist sie weg. Vor und zurück. Augen geschlossen. Zwischen den Wolken kommt die Sonne hervor und wärmt. Vor und zurück.
„Hallo, Eric“
Er reißt die Augen auf. Nicole steht vor ihm. Eric holt Schwung und schaukelt höher. Solange er schaukelt, kommt sie nicht an ihn dran und er muss sie immer nur für Sekunden sehen.
„Halt mal an.“
„Nein!“
„Ich will mit dir reden.“
Keine Antwort.
„Du benimmst dich wie ein Kleinkind, weißt du das?“ Ihre Arme sind verschränkt. „Jetzt halt endlich mal an.“ Eric schaukelt noch höher, so hoch, dass die Ketten am Wendepunkt lose klappern. Nicole springt vor, versucht nach der Schaukel zu greifen, verfehlt sie. Sie versucht es nochmal, die Schaukel dreht sich zu ihr. Ein Knall, dann schneidet ein ohrenbetäubender Schrei für Sekunden die Luft. Ketten klappern. Wimmern. Stöhnen.
Nicole nimmt die Hand von ihrer Stirn. Das Blut daran verschwimmt vor ihren Augen genauso wie Eric, der wie eine Statue neben der Schaukel steht. „Du bist so ein Arsch!“ Die Schmerzen setzen ein, mühsam steht sie auf. „Bleib‘ doch auf deiner beschissenen Schaukel.“ Sie schmeckt Blut auf ihren Lippen, ihr Kopf dröhnt.
Eric wischt das Blut auf dem Schaukelbrett an seiner Hose ab, dann guckt er wieder zu ihr rüber. „In deinem Gesicht ist Blut.“
Ein wenig schwankend und ohne sich umzudrehen, geht sie zurück zum Haus.
Das lang gezogene Quietschen von Nicoles Bremse kennt Eric inzwischen. Nicole rollt auf ihrem Fahrrad zum Schuppen und verstaut es darin. Die Geräusche sind jeden Tag die gleichen, wenn sie aus der Schule kommt. Eric schaut nicht hin, er soll das Laub wieder einsammeln. Ein Blatt nach dem anderen hebt er auf. Ahorn kommt in den linken Sack, Weißdorn in den rechten.
„Hallo, Eric“
Erst will er nicht hinsehen, steht dann aber doch auf und geht zum Zaun, bleibt zwei Armlängen davor stehen.
„Was machst du da?“
„Ich stehe am Zaun.“ Er sieht sie nur kurz an. „Auf deiner Stirn ist ein großes Pflaster.“
„Das habe ich von dir.“
„Ich habe da keines drauf gemacht.“
„Hör doch mal damit auf“, stöhnt Nicole. „Das nervt!“ Sie wendet sich ab, und eilt zum Haus. „Warum musst du so ein Quatschkopf sein!“, ruft sie so laut, dass Erics Vater von der Terrasse herüberschaut.
Beiden Hände zu Fäusten geballt an den Schläfen, rennt Eric im Kreis durch den Garten. „Was willst du von mir? Was? Was?“, brüllt er. „Sag es doch einfach!“ Seine Kreise werden enger, immer enger, bis er plötzlich vor beiden Säcken steht. Mit beiden Händen stößt er hinein und reißt Laub heraus, immer wieder. Blätter fliegen in alle Richtungen, bis er zu Boden sinkt. Endlich ist das Gefühl, zu explodieren, vorbei. So schlimm war es schon lange nicht mehr.
Auf der Terrasse macht sein Vater ein paar Schritte in Richtung Garten. Dann dreht er sich um, und geht mit zusammengepressten Lippen zu den Nachbarn.
„Danke für die Aufklärung. Das kannte ich nicht.“ Die Worte dringen leise an sein Ohr. Eric schaut auf. Oben an der Treppe zum Garten steht Nicole mit seinem Vater. Sie schüttelt seine Hand und kommt herunter, während sein Vater oben stehen bleibt und sich abwendet.
Kann sie nicht mal wegbleiben? Eric will aufstehen, aber er ist noch zu erschöpft. Tränen laufen über sein Gesicht. Jetzt ist ihr Schatten nur noch Zentimeter von seinen Füßen entfernt.
„Du weinst ja!“ Sie streckt ihre Arme aus, zieht sie sofort zurück, als Eric zurückweicht. „Sorry, ich muss mich erst dran gewöhnen, dass du ... äh ...“ Ihre Arme baumeln lose. Während sie noch nach Worten sucht, hat Eric sich wieder dem Laub zu gewendet. Staunend guckt sie ihm zu. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, Ahorn und Weißdorn zu sortieren. Laub ist Laub. Aber sie weiß jetzt, dass Eric darüber ganz anders denkt.
„Wenn du nicht jedes Blatt einzeln aufhebst, bist du viel schneller fertig.“
„Ich weiß“, antwortet er, ohne aufzusehen. „Aber das geht nicht.“
Nicole kniet sich ins Gras, beobachtet Eric und beginnt kurz darauf Ahornblätter zu sammeln. Bevor sie die erste Handvoll in den Sack wirft, zieht sie rasch ein Weißdornblatt dazwischen heraus.