- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Latein der weiblichen Anatomie
„Stockwerk?“, fragte der Portier, als Miri mit ihrem Freund den Fahrstuhl betrat.
„Ähm ... Dreiundzwanzig.“ Die Frage war absurd, weil sie den Knopf bereits selber gedrückt hatte. Janik und Miriam schauten sich an, erst still, aber irgendwo zwischen der zehnten und elften Etage konnte das Mädchen nicht mehr anders als zu kichern. Nach einem Jahr in Absteigen, Jugendherbergen, auf Zeltplätzen und in kahlen Berghütten waren sie in der skurrilen Welt der Luxushotellerie angekommen. Eine Nacht im 5-Stern-Hotel – Mamas Geschenk zum Jubiläum.
Das Lachen liess den indisch-stämmigen Portier kalt. Er stand steif da und wartete auf das Erreichen des 23. Stocks.
Im menschenleeren Flur angelangt zog Janik seine Freundin an sich, liess sie weiter grinsen und küsste dabei ihr Haar, die Stupsnase, und schliesslich, das Lachen erstickend, ihren Mund.
Als sie zum Atmen abliess, sagte der Junge: „Deine Zunge schmeckt anders, heute.“
„Nach Kaviar?“
„Sehr elitär, jedenfalls.“
Sie schmunzelte. „Probier nochmals!“ Auf Zehenspitzen stehend hing sie sich um den Jungen. Seine Hand fand den Weg unter ihr Leibchen, den Rücken hoch. Miri genoss die Berührung, die Zärtlichkeit, die Leichtigkeit, mit der Janik immer verstand, was sie von ihm brauchte. Ein paar Sekunden träumte sie.
Später wollte sie von Janik wissen: „Was machen wir jetzt?“
„Was willst du?“
Nach kurzem Überlegen schlug sie vor: „Lateinlektionen!
„In weiblicher Anatomie?“
„Was sonst?“
„Kannst du es noch?“
„Ich ja. Du?“
„Keine Ahnung.“
„Wenn du Fehler machst, muss ich dich bestrafen.“ Ein neckisches Grinsen, gefolgt von einem Küsschen. „Komm, gehen wir ins Zimmer.“
23-07 stand auf der Schlüsselkarte. Wegweiser führten durchs Labyrinth der Gänge. „Bist du gespannt?“
„Ja“, nickte Miri. „Mach auf!“
Janik brauchte drei Anläufe, bis er endlich kapierte wie das Schlosssystem funktionierte. Dann stand die Türe offen und nichts mehr konnte Miri davon abhalten, ins Zimmer zu stürmen, auf das King-Size-Doppelbett zu springen und zu jauchzen. Nur eine Scheibe vom Boden bis zur Decke trennte das Zimmer vom Wolkengewühl über Singapur. Dreiundzwanzig Etagen weiter unten fuhren die Autos wie Spielzeuge durchs Strassengewirr. Die Touristen auf der Suche nach Party, die Busse voller Inder, Chinesen, die Strassenkünstler, alle waren weit weg von Zimmer 23-07, ihre Rufe und Gespräche vom Wind davongetragen. Hier waren nur sie beide.
„Wow“, meinte Janik, vor der Fensterwand stehend. „Ist wie ein UFO, in dem man lautlos über der Stadt schwebt. Ich glaube, ein angemessener Ort für eine Jubiläumsparty.“
„Ist wirklich cool.“ Miriam hockte auf die Matratze. „Komm“, sagte sie und berührte mit dem Zeigefinger ihre Unterlippe. „Sag es!“
„Labium inferius“, riet der Junge. „Richtig?“
Sie klatschte in die Hände und lachte. „Nicht schlecht.“
Janik schnalzte selbstgefällig mit der Zunge. Er dimmte mit der Fernbedienung das Licht, bis einzig das bläuliche Schimmern Singapurs den Raum erhellte. „Wäre cool, wenn das überall funktionieren würde, in jedem Zimmer dieser Welt“, redete Janik vor sich hin, während Miri auf der Matratze die Glieder ausstreckte.
„Hast du Timo geschrieben, vorher?“, fragte sie.
„Ja, aber nur ein paar Zeilen. Nur wo wir sind und dass er uns gerne besuchen kann, wenn er im Januar wirklich nach Indien reist. Und du? Hast du telefoniert?“
„Mit Mama, ja.“ Sie richtete sich auf und begann den Rucksack auszupacken. Ein einziges schönes Kleid hatte sie auf die Reise mitgenommen neben ausgebleichten Jeans, verwaschenen T-Shirts und Wollsocken. Ein schwarzes Seidenkleid, das genug Haut durchschimmern liess um Janik nicht mehr klar denken zu lassen wenn sie es trug. Vorsichtig nahm sie es aus der Plastikhülle und legte es über die Sofalehne. „Gehen wir jetzt gleich essen?“, fragte sie.
„Wollen wir nicht zuerst etwas spielen?“
„Lateinlektionen?“ Sie kicherte. „Na gut: Collum?“
Janik trat hinter das Mädchen und massierte ihren Nacken. Sie spielte ein sexy Stöhnen vor und lachte. „Lobulus auriculae“, flüsterte sie und liess sich das Ohrläppchen anknabbern. „Nicht das ganze Ohr abbeissen, du Trottel!“
Sie drehte sich um und bedankte sich mit einem glücklichen Strahlen für die Liebkosungen. Sie fragte: „Darf ich mal auf die Toilette?“
„Technisches Timeout?“
„Physiologisch bedingt.“
Sie kletterte übers Bett und zog dabei schon mal das T-Shirt aus. Beim Anblick ihres Rückens rief Janik: „Dorsal.“
„Dorsum“, kam die Korrektur der Medizinstudentin.
„Scheisse“, fluchte Janik zu sich selber. Er zog sein Ausgangshemd an und tauschte die dreckigen Jeans gegen das zweite Paar, das er gestern gewaschen hatte, extra um heute vornehm auszusehen. „Hat deine Mutter eigentlich etwas Interessantes gesagt am Telefon“, fragte er in Richtung Badzimmer. Durch den Türspalt konnte er die Knie seiner Freundin sehen. Articulatio genus – Kniegelenk, dachte er bei sich.
„Sie hat gesagt, es sei schön zuhause. Die Sonne scheint.“
„Hier ja auch.“
„Na ja, nicht wirklich.“
„Heute früh schon.“
„Jetzt regnet es.“ Sie zog ihre ausgefransten Jeans hoch und drückte die Spülung. „Und ausserdem ist es schwül die ganze Zeit. Zuhause schneit es jetzt. - Kannst du mir mein Necessaire bringen? Ich muss mich etwas herrichten wenn wir wirklich in dieses Restaurant wollen.“
Janik trat hinter sie ans Lavabo und überreichte den Beutel. Über den Kopf des Mädchens hinweg betrachtete er sich und seine Freundin im Spiegel. „Wir sehen sexy aus, irgendwie“, stellte er fest.
„Na ja, kein Wunder, ich bin schliesslich eine glatte Zehn auf der Sexiness-Skala.“ Sie richtete sich den BH.
„Hm, ja. Da kann ich nicht widersprechen.“
Sie grinste. „Übrigens, Mama findet, dass du dein Haar mal wieder schneiden sollst. Auf den Fotos siehst du aus wie ein Hippie.“
„Hat sie das echt gesagt?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ich glaube sie mag dich nicht mehr so.“
Janik machte ein trauriges Gesicht. „Das tut weh“, jammerte er. „Und was findest du, soll ich die Haare schneiden?“
„Wenn sie dir gefallen wie sie sind, finde ich sie auch schön, also scheissegal. - So, jetzt zieh Leine, lass mich schminken.“
Janik kehrte ins Schlafzimmer zurück und zappte durch die Fernsehsender. Er mochte es, wenn im Hintergrund ein guter Film lief während er mit Miri rummachte. Manchmal gab es diese magischen Momente, wenn die Musik im Film passte, der Held das Mädchen umarmte und er zugleich Miri zuflüsterte, wie sehr er sie liebte. Miri schmolz dahin wie Schokolade an der Sonne wenn das geschah. Dann war sie nicht mehr frech und vorlaut, sondern ganz still, vollkommen glücklich. Aber heute kam nur Tennis.
Zum Glück brauchte Miriam nie lange fürs Schminken. Sie kehrte als dieselbe zurück, nur die Augenbrauen waren dunkler und die Schramme an der Stirn überdeckt. Sie sah hübsch aus, wie immer. „Gefällt's dem Herrn?“
„Oh ja, Mylady.“
„Okay, dann schau jetzt weg, ich zieh mich um.“
Janik schaute nicht weg, sondern hockte vor ihr auf die Bettkante als wäre diese ein Kinosessel und sie die Leinwand.
„Hey, ich mein's ernst“, sagte Miri. „Wir sind mit den Lateinlektionen beim Ohrläppchen, nicht bei Brüsten und so.“
Widerwillig folgte der Junge und starrte statt ihrem Körper die Wand an. „Willst du nicht die Vorhänge schliessen?“
„Komm schon, wir sind im UFO, mit Tarnkappe. Und wenn tatsächlich so ein alter Typ da unten mit Fernglas zum Himmel schaut und mich nackt sieht, der glaubt doch glatt, er sähe Engel.“
„Und dann bekommt er 'ne Herzkrise, super.“
Miris BH flog an die Wand und Janik musste sich zurückhalten, um nicht doch einen Blick über die Schultern zu werfen. Bei Miri war das so, er konnte sich nie satt sehen an ihr. „Weisst du, was Mama auch gesagt hat“, erzählte sie in der Zwischenzeit. „Sie hat gesagt, Zara heirate im Februar.“
„Echt? Die Arme.“
„Wieso?“
„Na ja, wieso wohl? Wie alt ist sie jetzt? Dreiundzwanzig?“
„Sechsundzwanzig! Wir sind nicht mehr so jung.“
„Und wer ist der Glückliche? Remo?“
„Ja. Sie freuen sich, hat Mama gesagt. Sie sind jetzt ja schon vier Jahre zusammen.“
Wenig beeindruckt zuckte Janik mit den Schultern. „Und wo wollen sie leben?“
„Bei ihm halt, er hat eine kleine Wohnung in Zürich. – Du darfst übrigens wieder schauen.“
Wie sie dastand im Dämmerlicht, barfuss, hoch über Singapurs Lichtermeer, gekleidet in einen Hauch von Seide, die eine Schulter frei. Es raubte Janik den Atem.
„Und?“, fragte sie erwartungsvoll.
„Du bist – du bist ein Meisterwerk“, war alles, was er hervor brachte.
„Danke.“ Einen Moment lang klang sie schüchtern und mädchenhaft, bevor sie ihre Rolle weiter spielte. Sie deutete auf die nackt gebliebene Schulter.
„Umerus“, sagte Janik. „Umerus feminae.“ Er trat zu ihr und zupfte das Kleid zurecht. Wie im Tanzunterricht drehte er sie einmal um die Achse und bewunderte dabei die Eleganz, mit der sie sich bewegte.
„Kein BH?“, fragte er. Sie grinste: „Heute nicht. In edlen Restaurants, da bin ich gerne etwas versaut, du nicht?“
„Jedenfalls sieht man deine, ähm, papilla mammaria, ...“
Sie schaute an sich runter und musste lachen, als sie die beiden vorstehenden Brustwarzen entdeckte.
„Glaubst du, das ist zu viel Sex für Singapur?“
„Ich weiss nicht ob irgendein Land in Asien bereit ist für dich.“
„Hm.“ Das Mädchen hockte aufs Bett, den Blick über Singapur gerichtet. „Ich habe eh keine Lust auf Luxusrestaurants. Hier ist es schöner.“
Janik lag zu ihr und eine Weile lang betrachteten sie still die Stadt. In der Ferne das Riesenrad, in dem sie morgen fahren wollten. Es bewegte sich träge im Gegenuhrzeigersinn über die Einkaufszentren und Boulevards. „In dem Fall bleiben wir hier“, schlug der Junge schliesslich vor. „Wir sind in einem Fünfsternehotel, da können wir sicher Essen ins Zimmer rufen.“
„Super Idee!“, war Miri sofort begeistert. „Ich ruf den Zimmerservice.“
Sie bestellte Nudeln und Crevetten für beide und fragte, ob es ein Problem sei, wenn sie mit Gabel und Messer statt Stäbchen assen. Schliesslich sah im Zimmer ja niemand zu. Die Antwort fiel emotionslos aus: „Sie können in ihrem Zimmer essen wie sie wollen.“
Die Wartezeit vertrieb sich Miriam damit, auf der Sofalehne zu sitzen und zu behaupten, sie steuere ein UFO über Singapurs Dächer.
„Deine Mutter hält dich für verrückt, nicht?“
„Ja, klar, aber sie liebt mich.“ Miri zuckte mit den Schultern, als würde das alles erklären. „Jedes Mal wenn ich anrufe, fängt sie zu weinen an und fragt, wann wir endlich zurück kommen.“
„Was sagst du dann?“
„Dass wir es nicht wissen.“
„Wieso sagst du es nicht einfach?“, fragte Janik. „Erklär ihr doch endlich, dass wir nicht zurückkommen.“
Miriam zuckte mit den Schultern. „Wir wissen es ja nicht sicher. Kann ja vieles passieren. Vielleicht, ich meine, keine Ahnung.“ Sie liess sich von der Sofalehne auf den Boden gleiten und trat zur Minibar. „Champagner?“
„Hm, nachher.“
„Wir haben ja nicht mehr so viel Geld“, meinte das Mädchen, wieder an die Reise denkend. „In drei vier Monaten reicht es vielleicht nicht mehr.“
„Bis dann hast du diesen Job beim roten Kreuz in Indien und ich finde auch was. Ein paar Monate arbeiten wir dort, dann nach Tibet oder Sri Lanka, keine Ahnung, nach Afrika. Wir haben darüber geredet. Es gibt viele Ziele.“
„Ja, schon.“ Miri mochte diese Gespräche nicht. Sie stellte die Champagnerflasche aufs Tischchen und trat an die Fensterwand. „Aber – ich weiss nicht, ich meine, irgendwann ...“ Ein Jahr, das war schon eine lange Zeit. Sie musste an diesen Moment denken, vor genau 365 Tagen, in Kloten, am Flughafen, als sie an der Passkontrolle vorbei geschritten war und sich ein letztes Mal nach Mama umgesehen hatte. Der Gedanke tat weh, tief in ihrem Herzen.
„Zara ist ein komisches Mädchen“, redete derweil Janik an ihr vorbei, „die ganze Schulzeit hinweg hat sie Rebellin gespielt, Drogen genommen und gesoffen. Und jetzt?“
„Jetzt ist sie halt erwachsen“, meinte Miriam, noch immer an der Scheibe stehend. „Ich meine, ist doch schön für sie. Jetzt hat sie jemanden, der immer für sie da ist. Früher war sie oft einsam, glaube ich.“
„Aber gleich heiraten? Ich meine, ich liebe dich ja auch, aber diese Verträge – ich weiss nicht. Wir wollen doch frei sein und so, durch die Welt reisen wann und wie wir wollen.“ Janik schaltete den Fernsehsender um auf der Suche nach Musikvideos. Miri schaute ihm eine Weile zu, ohne wirklich zu realisieren, was er tat. Sie dachte an Zaras Hochzeit. Wie das sein musste, plötzlich den Rest des Lebens verplant zu haben. Es wurde sicher ein schönes Fest. Die kleine Dorfkapelle, vor der sie als Kinder immer gespielt hatten. Tanja, Alexandra, Lorena, die Freundinnen, alle schön gekleidet bei der Feier. Die Strassen schneebedeckt, die Walliser Berge als imposante Szenerie im Hintergrund. Bestimmt eine Traumhochzeit, nur sie, Miriam, fehlte, wie immer. Bei dem Gedanken konnte sie nicht anders als zu murmeln: „Janik, kannst du mich etwas halten?“ Sie schaute hilfesuchend zu ihm. „Ich glaube, ich habe wieder Heimweh.“
„Ach herrje!“, seufzte der Junge und nahm sie in den Arm. „Das liegt alles am Telefonieren. Dann bist du immer traurig. Dabei ist alles super mit uns, nicht?“
„Ja, schon“, gab Miriam zu.
„Wir leben eben richtig, in vollen Zügen. Ungebunden und frei. Willst du wirklich jemals wieder in diesen Zug steigen, morgens um halb sieben, an die Uni, Knochennamen auf Latein lernen, am Abend müde nach Hause, Mikrowellenfood essen und tot ins Bett fallen? Willst du danach ein Leben lang durch die immer gleichen, nach Desinfektionsmittel riechenden Spitalflure schlurfen, Leuten beim Sterben zusehen und dabei selber verrotten?“ Er streichelte sie in seiner väterlichen Art, die er immer hatte, wenn Miri es brauchte. „Hier erleben wir jeden Tag was Neues, treffen kluge Menschen, sehen Naturwunder und – und leben eben.“
„Ja, schon“, gab sie zu. „Aber ich denke manchmal, wir haben schon so viel gesehen und ... Keine Ahnung. Ich bin müde.“ Sie seufzte und liess sich von Janik streicheln. Trotzdem war sie froh, als bald der Zimmerservice anklopfte. Ein junger Angestellter schob den Wagen mit Porzellangeschirr und abgedeckten Tellern in den Raum, ganz wie in alten Kinofilmen.
„Komm, stossen wir an, ich muss was trinken“, schlug Miri vor und ihr Freund öffnete die Champagnerflasche. „Auf ein Jahr reisen!“
„Und auf's nächste Jahr!“, fügte Janik hinzu. Die Gläser klirrten und beide tranken leer ohne einmal abzusetzen. Alte Tradition. Danach ein Küsschen, bevor sie Teller und Besteck nahmen und damit aufs Bett hockten.
Sie assen still und in Gedanken versunken. Als Miri satt war, schob sie den Rest ihrer Nudeln auf Janiks Teller, der gerne etwas mehr ass. Es war schon merkwürdig: Sie beide taten jeden Tag genau das gleiche, aber er benötigte doppelt so viel Kalorien. Miri hatte ihn nie darauf angesprochen und jetzt war nicht der Augenblick dazu, aber sie merkte es sich, um ihn später damit zu foppen.
Beim Champagner hielt sie gut mit. Der Alkohol vertrieb die Gedanken an Mama und zuhause und machte es leichter, sich auf den Augenblick zu konzentrieren. Immerhin war ein Spiel im Gange: Latein der weiblichen Anatomie.
Als Janik die letzte Crevette geschält und verspeist hatte, hielt Miri ihm ihre baren Füsse ins Gesicht. Er kitzelte die Zehen und sagte: „Digitus pedis – Finger des Fusses.“ Dann nahm er den ganzen Fuss in die Hand und massierte die Ferse: „Talus.“
Miriam schmunzelte: „Tu nicht so eingebildet!“
Er beugte sich über sie, küsste sie und berichtigte: „Ich tue nicht eingebildet, ich bin einfach gut.“
„Dann zeig's mir doch.“ Einen Moment lang war es still. Sie schaute ihn an, er sie, und beiden war klar, dass der interessante Teil des Spiels nun begann. Janik liess ihren Fuss los und fuhr den Beinen entlang hoch bis zum Saum des Kleids und darunter, wo die Oberschenkel begannen. „Femur“, sagte Janik.
„Gut“, antwortete das Mädchen. „Weiter!“ Sie stützte sich auf die Ellbogen und schaute zu, wie die Hände des Jungen unter der Seide verschwanden. Die Berührung liess sie angenehm erschaudern. Sie konnte nicht anders als kurz die Augen zu schliessen und im UFO über Singapur schweben wie eine verwöhnte Göttin.
„Mamma“, flüsterte sie und schob das Kleid über ihre Brust. Janik musste grinsen. „Mama? Oder Mamma wie Brust?“
„Tu nicht so blöd, mach schon!“
Er kniete neben sie und half ihr, das Kleid auszuziehen. Als sie danach bis auf das bisschen Stoff um ihre Hüften unbekleidet zwischen Porzellangeschirr und Kissen lag, musste er sich an den Anblick erst gewöhnen. Sie wirkte auf eine Art zerbrechlich, schutzlos im gedimmten Licht des Zimmers 23-07. Dabei war sie ein starkes Mädchen. Sachte berührte Janik ihren Körper.
Miri schaute zu und fragte: „Brustbein?“
„Sternum.“
„Und Bauchnabel?“ Sie bedeckte ihren Nabel mit dem Unterarm, während Janiks Hände zwischen den Brüsten nach unten wanderten. „Irgendwas mit 'Umbi'“, sagte er, aber das genügte Miri nicht. Es war Teil des Spiels: Sie stoppte Janik und sagte mit Lehrerinnenstimme: „Umbilicus.“
„Hab ich ja gesagt.“
„Hast du nicht.“
„Jetzt komm schon!“
„Nein!“ Sie schüttelte streng den Kopf, rollte unter ihm weg und sass auf das Sofa um fernzusehen. Janik zog in der Zwischenzeit sein Hemd aus. Er hockte zu Miri, aber ohne sie zu berühren.
„Ich mache mich aber nicht schlecht, insgesamt? Immerhin sind es dreizehn Monate seit den letzten Prüfungen.“
„Fehler ist Fehler. Du solltest wieder mal alles repetieren, sonst wirst du nie Arzt.“ Sie klang so schrecklich ernst, dass sie selber darüber lachen musste.
„Ich habe es auch gar nicht mehr vor“, erwiderte Janik. „Ich bin nicht mal mehr eingeschrieben.“
„Hm, wie schade. Wäre so schön, dann wären wir Herr Doktor Janik Jäckel und seine Frau, Doktor Miriam, Ärzte auf Reisen. - Kannst du nicht irgendwas an mir diagnostizieren? Schau mich mal an!“
Er musterte ihren Körper. „Lepra?“
„Idiot!“
Nach einem Grinsen musste er zugeben: „Ähm – nein. Du bist gesund.“
„Verdammt.“ Sie zog die Beine an und schaute auf den Fernseher. „Ein guter Arzt findet immer eine Krankheit, weil wir sind alle krank, nicht, sonst wären wir tot. Du bist ein schlechter Arzt.“
„Frierst du eigentlich nicht?“, fragte Janik, der den Blick nicht lösen konnte von seiner Freundin. „Soll ich dich halten?“
„Es geht schon.“ Sie lächelte weil sie wusste, dass es für Janik genauso schwer war zu warten, wie für sie. „Weisst du, eigentlich ist es absurd: Das einzige, was wir aus vier Jahren Studium machen, sind Sexspiele.“
„Aber gute Sexspiele.“
„Schon, aber ... Ich habe mal Ärztin werden wollen um Leuten zu helfen, Leben retten und so.“
„Du hast angefangen wegen Grey's Anatomy.“
„Okay, stimmt.“ Sie lächelte ertappt. „Aber auf eine Art würde ich schon gerne mal jemandem wirklich helfen.“ Fast hätte sie hinzugefügt: „Nicht nur rumreisen.“ Aber das ‚nur‘ hätte Janik wütend gemacht und sie wollte nicht, dass er wütend wurde.
„In Indien beim Roten Kreuz kannst du das. Wir rufen morgen nochmals bei denen an“, meinte Janik. Er versuchte einen Vorstoss und zog sie an der Schulter an sich. „Die freuen sich sicher, auch wenn du nur Krankenschwester sein kannst und nicht Ärztin.“
Sie wand sich unter seiner Hand davon. „Pause, habe ich gesagt.“ Sie warf ihm einen bösen Seitenblick zu, lächelte aber gleich wieder und lehnte sich zurück ins Leder des Sofas. „Weisst du, was Mama auch gesagt hat? Dass Zara wahrscheinlich schwanger ist.“
„Oje.“ Er schaute seiner Freundin auf den Bauch und war froh, da keine Spuren einer Wölbung zu sehen.
„Ich find's schön für sie. Damit hat sie etwas, wofür sie da sein kann.“
„Willst du mir sagen, dass du auch einen kleinen Stinker willst?“ Skeptisch beäugte er seine Freundin, aber sie lachte. „Nein“, sagte sie. „Nein, das nicht. Ich bin nicht so die Mutter.“ Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Aber ich stelle es mir schon schön vor, so ein Baby im Arm zu halten und an meinen Brüsten nuckeln zu lassen.“
Janik schaute die Brüste an, an denen das Baby nuckeln sollte. Dann wieder hoch in ihre Augen. „Irgendwann vielleicht“, sagte er. „Wir sind ja noch jung.“
„Zara ist jünger als ich.“
„Aber auch dümmer.“
„Ja, aber, ich meine ...“ Sie spürte Janiks Hände auf ihren Oberschenkeln und dieses Mal liess Miri es zu. Sie murmelte: „Deine Hände sind schwitzig.“
„Ich weiss. Angstschweiss, weil ich mir gerade vorstelle, wie diese Oberschenkel nach einer Geburt aussehen würden.“
„Dummer!“ Sie klatschte ihm mit der Hand ins Gesicht und Janik nutzte den Augenblick um mit der Hand bis zu ihren Lenden und dem Saum ihres Slips vorzustossen. „Grabscher!“, rief sie aus und schlug ihm auf die Hand.
„Sorry.“ Er verschränkte die Arme wieder.
„Du bist ungeduldig, heute!“
„Was erwartest du denn?“
„Etwas Zurückhaltung – wir sind hier im Fünfsternehotel, nicht im Backpacker Puff!“, entgegnete Miriam. Sie stand auf. „Na gut, komm ins Bett!“
Miri winkte dem Jungen zu, er solle ihr folgen. Sie stellte die Porzellanteller auf den Boden und lag zwischen die Kissen. Janik hockte neben sie. „Ich find's komisch, Sex zu haben wenn die Vorhänge offen sind.“
„Niemand sieht uns. Es ist – wie in einem UFO.“ Miri starrte hinaus, plötzlich still. Sie spürte den Atem ihres Freundes im Nacken. Ihr Blick streifte über Singapur, diese fremde Welt, in der sie niemanden kannte, keinen Ort zum zweiten Mal besuchen konnte, ein Alien war. Und sie frage sich, wie das sein musste für Zara, ein Baby zu haben. Jeden Abend nach Hause kommen, Kleider waschen, Windeln wechseln, Geschrei ertragen und – und für den Kleinen da sein.
Vor lauter Gedanken bemerkte sie kaum, wie Janik sie von hinten umarmte und ihr zuflüsterte, was für ein tolles Mädchen sie sei. „Hm, ja“, murmelte sie gedankenverloren und spreizte die Beine. „Vulva.“ Ein Hauchen.
Sie spürte Finger unter ihrem Slip und hob die Hüften an, so dass er das Stückchen Stoff über die Knie nach unten schieben konnte. Das Latein dieser Region des weiblichen Körpers kannte er ganz genau. Er kniete zwischen ihre Beine und sagte: „Clitoris.“ Ein Kuss. Miri dachte an die vielen Gesichter, die sie auf ihren Reisen gesehen hatte, die neuen Freunde und wie schnell sich diese wieder in der Weite der Welt verloren. „Vagina.“ Noch ein Kuss. Miri dachte an die Länder, die Armut, das Leid, das jeden Tag sah und an dem sie nichts änderte. „Labia majora pudendi – Schamlippen“, berichtete Janik, während Miri an ihre Studienkollegen zuhause dachte, die jetzt Ärzte waren und Menschen halfen. Miri dachte an Mama, die Arbeiten ging um ihrer Tochter die Nacht hier zu ermöglichen. Miri dachte an Zara. Ihr Baby. Und an den Sinn des Ganzen. „Introitis vaginae.“ Mit einem Ruck richtete sich das Mädchen auf. „Stimmt alles?“, fragte Janik, aufblickend. Sie nickte. „Mach nur weiter.“ Es war alles nur ein Spiel.
„Regio lumbalis“, sagte Janik und streichelte Miri zwischen den Beinen, während sie sich den Schweiss von der Stirn wischte. Sie wusste nicht genau, wie es dazu gekommen war, aber sie lag auf dem Boden, direkt an der Fensterwand. Der Junge neben ihr. Auf den Scheiben waren noch ihre Fingerabdrücke und Flecken von Kondenswasser. Sie hatte sich aufs Glas gestützt, aber wann und wieso? Die Erinnerungen waren verschwommen.
„Bestanden?“, fragte der Junge in die Stille.
„Irgendwie schon.“ Sie schaute ihn an. Seine Haare waren zerzaust, die Augenbrauen nass vor Schweiss. „Janik“, murmelte Miri und küsste den Jungen sachte auf die Wange. Dann flüsterte sie: „Ich glaube, wir sind zu weit gereist.“
„Wie?“
„Wir wissen gar nicht mehr, wo wir hin wollten.“
Janik schwieg einen Moment. Er streichelte ruhig ihre Oberschenkel. „Was sagst du da?“
Das Mädchen zögerte. „Nichts“, murmelte sie und schloss die Augen. Sie blieben lange liegen, nackt im Nachtglanz Singapurs. Schliesslich fragte Janik: „Wenn Zimmer 23-07 wirklich ein UFO wäre, wohin würdest du dann fliegen?“
Das Mädchen öffnete die Augen und schaute in den Himmel. „Wie E. T., wahrscheinlich.“
„Zu den Sternen“, nickte Janik. Und Miri dachte: „Nach Hause.“