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Hätte man ihm gesagt, dass dieser Tag der schlimmste seines Lebens werden würde, er wäre wohl nicht in die alte Propellermaschine gestiegen. So aber lächelte er der leicht übergewichtigen Stewardess zu und redete sich ein, dass der Mann mit dem Flachmann nicht der Pilot war.
Schließlich musste er froh sein überhaupt noch diesen Flug bekommen zu haben, sonst wäre sein wohl wichtigster Geschäftstermin nicht einzuhalten gewesen und den damit verbundenen Auftrag hätte er vergessen können. Wenn er die Dame am Ticketschalter nicht mit Engelszungen bekniet hätte.......Nicht einmal dann wollte sie ihm ein Ticket verkaufen. Erst als er mit der Aufsichtsbehörde, der Polizei und ähnlichen Institutionen gedroht hatte, war sie auf sein Drängen eingegangen. "Wenn sie unbedingt darauf bestehen...." hatte sie gesagt und so hinterhältig dabei gelächelt, dass es ihm eiskalt den Rücken runterlief. Aber was soll's? Mit der nötigen Hartnäckigkeit geht eben alles.
Es waren noch fünf andere Passagiere an Bord, die bereits ihre Plätze eingenommen hatten, und so quetschte er sich auf den einzig freien Sitz neben einen bärtigen, älteren Herrn der auch locker noch für die Hälfte seines Flugpreises hätte mitbezahlen können. Zumindest konnte er nur die Hälfte seines Platzes wirklich nutzen. Den Rest hatte der Dicke in Beschlag. Die mittlere Armlehne hochgeklappt, so dass er sich in aller Wonne ausbreiten konnte.
"Geht's so?", fragte er dann noch mit russischem Akzent.
"Nein, eigentlich nicht," antwortete er dem Dicken. "Aber wir können sie ja wohl kaum über Bord werfen, oder?"
"Haha, ein Spaßvogel – das gefällt mir – quetsch dich rein Junge." Und mit einem herzlichen Lachen und einem gut gemeinten Hieb seiner Pranke auf die rechte Schulter hatte der Dicke ihn auch schon eingedost in das Stückchen das ihm als Sitz zugedacht war.
"Jelzin, mein Name." Freundlich streckte er ihm die Hand hin. "Boris Jelzin."
Verwirrt schaute er ihn an. "Richter, angenehm – Jochen Richter."
"Sehr schön Jochen, nein ich bin nicht der Wodka-Präsident," sagte der Dicke, seine Gedanken erratend. "Nur ein Namensvetter."
"Okay Boris, wie kann ich mich jetzt anschnallen?", fragte er, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass er sowieso nicht aus dem Sitz geschleudert würde, so festgekeilt war er.
Der Russe lachte schallend. "Bis zum Schluss noch auf Sicherheit bedacht, was? Ich denke es wird auch so gehen auf diesem Flug."
Bevor er noch nachfragen konnte was er damit meinte rollte die Maschine auch schon zur Startbahn und hob schließlich schwerfällig ab.
"Noch ungefähr eine halbe Stunde bis zu den Bergen," sagte die Dame im Sitz vor ihm. "Genießen wir es."
"Sind sie noch nie über die Berge geflogen?", fragte Jochen um ein wenig Unterhaltung zu haben.
"Oh doch, aber noch nie so bewusst," antwortete sie. "Seit ich weiß dass ich Krebs habe und nicht mehr geheilt werden kann, sehe ich die Dinge etwas bewusster, wissen sie?"
"Oh, tut mir leid, das wusste...."
"Nein, nein. Kein Problem. Woher sollten sie denn wissen?" sagte sie. "Ich habe mich schließlich damit abgefunden und weiß jetzt, dass meine Kinder abgesichert sind wenn ich nicht mehr bin. Das ist gut." Mit einem Lächeln wandte sie sich ihrem Sitznachbarn zu, der mittlerweile eine Flasche Champagner aus seiner Tasche hervorkramte.
"Lasst uns feiern," sagte er. Keineswegs freudig, eher etwas melancholisch und nachdenklich. "Auf baldige Erlösung," rief er, als der Korken knallte. Und während er direkt aus der Flasche trank, konnte Jochen sich die Frage nicht verkneifen:
"Was meinen sie mit.......baldige Erlösung?"
"Nun, ich bin HIV-Positiv und die Krankheit ist bereits ausgebrochen. Und nun trinke ich auf baldige Erlösung von den Schmerzen, von der Behandlung, von der Abhängigkeit..."
"Mein Gott," dachte Jochen, als er sich erschrocken abwandte, vor allem da er nicht wusste was er erwidern sollte. War er denn hier in einen Krankentransport geraten? Die Tatsache, dass der rechte Propeller kurz aussetzte riss ihn jäh aus seinen Gedanken.
"Puh," sagte er erleichtert als die Maschine wieder ansprang. "Das hätte auch schief gehen können."
"Ja," antwortete Boris. "Das wäre ein bisschen früh gewesen um abzutreten, obwohl man nicht so kleinlich sein sollte."
"Du hängst wohl nicht so sehr am Leben, was?", fragte er den lachenden Dicken.
In einer Mischung aus Staunen und Amüsement schaute der ihn an. "Ist das dein Ernst? Du weißt wohl nicht wo du hier bist, oder? Bist du aus Versehen hier herein geraten?"
"Nun, zumindest in letzter Sekunde als Notlösung. Es war der einzige verfügbare Flug heute."
"Und sie haben dir nichts gesagt?" fragte er ungläubig.
"Nein, die Dame am Schalter hat sich zwar ein wenig gesträubt, hatte den Flug auch gar nicht gelistet, habe nur zufällig ihren Plan gesehen, sonst hätte sie mich auch nicht mitfliegen lassen. Ich musste all meine Überzeugungskraft einsetzen........"
Boris lachte immer noch ungläubig. "Sachen gibt’s.........Schau dich mal um...Die Dame vor dir leidet unheilbar an Krebs, ihr Nachbar hat AIDS, der Junge da vorn hat eine Viruserkrankung, sein Nachbar hat einen Genfehler der ihn vorschnell altern lässt und mein Herz ist so fertig, dass es schon an ein Wunder grenzt dass ich es die Gangway hochgeschafft habe."
"Ein.......ein Flugzeug voller......Todkranker?" stammelte Jochen. "Fliegt ihr in den letzten Urlaub oder was führt euch hier zusammen?"
"Nun ja, so könnte man es nennen," antwortete die Dame vor ihm. "Sogar die Besatzung ist betroffen. Der Kapitän mit dem Flachmann hat Lungenkrebs und die Stewardess Leukämie. Unser aller Schicksal ist besiegelt."
"Mein Gott," sagte Jochen, "das tut mir wirklich leid.....ich weiß gar nicht was ich sagen soll,........als Nicht-Betroffener ist das alles leicht gesagt......"
"Als Nicht-Betroffener?", unterbrach ihn der Dicke und lachte schallend. "Er hält sich für einen Nicht-Betroffenen Leute, habt ihr das gehört?" Und die anderen stimmten in das Gelächter mit ein.
"Hast du denn immer noch nicht begriffen?" fragte Boris, als sich wieder beruhigt hatte. "Du bist genauso betroffen wie wir. Unsere einzige Chance unsere Hinterbliebenen abzusichern ist, wenn uns etwas zustößt......ein fremdverschuldeter Unfall oder so.......dann würde die Versicherung des Schuldigen zahlen, verstehst du?"
"Noch nicht ganz," sagte Jochen vorsichtig.
"Wenn wir zum Beispiel mit einem Flugzeug abstürzen würden, dann würde die Versicherung der Fluggesellschaft Schadenersatz leisten müssen. Für uns bzw. unsere Familien und für die Fluggesellschaft selbst, die für ihre alte Mühle noch was bekommt. Außerdem lassen sie sich von uns für diese >Dienstleistung< auch nicht schlecht bezahlen."
"Soll das..........soll das heißen..?" Jochen starrte den Dicken entsetzt an.
"Ja, mein Junge," sagte er. "Du sitzt in einem Seelenverkäufer. Und nun sprich dein letztes Gebet. Wir sind gleich da."
"Neeeiinnn," schrie Jochen. "Das könnt ihr doch nicht machen......."
"Ladies and Gentleman," kam die leicht säuselnde Stimme des Kapitäns über Lautsprecher. "Ich danke ihnen für ihr Vertrauen auf unserem letzten gemeinsamen Flug und wünsche uns allen, dass uns dort wo wir gleich landen werden, eine schönere Welt erwarten wird. Machen sie's gut."
Ein letztes Knacken im Lautsprecher, dann setzte die Maschine zum Sturzflug auf die heranrasenden Berge an.......