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Lasst mich einfach hier zurück
Der wohl dämlichste Satz, der jemals in einem Film gesprochen wurde.
Ihn zurücklassen? Oh nein, er wollte ganz bestimmt nicht , dass sie ihn zurückließen. Er wollte hier nicht sterben. Nicht so, unter höllischen Schmerzen und im Dreck. Und nicht jetzt! Er hatte sich immer vorgestellt, steinalt zu werden. Um dann irgendwann einmal, müde vom Leben, in seinem Bett friedlich einzuschlafen. Stattdessen war er hier und wand sich in seinen eigenen Eingeweiden. Und sie würden die Nerven verlieren und ihn hier seinem Schicksal überlassen. Klar, was denn sonst?
Oh Gott, er hatte Angst, große Angst.
„Marcus?“ Die Stimme war die eines kleinen Kindes.
„Sch-sch. Was ist?“ Ein schmales Gesicht erschien über ihm, das Ohr fast an seinem Mund.
„Du, ich hab dir damals das Leben gerettet, weißt du noch?“
Als ob Marcus das vergessen könnte. Nur Paul war zurückgekommen, als er ihn schreien gehört hatte. Zwei Tage lang hatte er ihn getragen. Das würde er nie wieder gutmachen können, so tief stand er in Pauls Schuld. Marcus suchte Pauls Augen, vermied es, irgendwo anders hinzusehen.
„Ja. Ja, ich weiß. Versuch, möglichst ruhig zu liegen, okay?“
Ein Krachen. Erde spritzte in alle Richtungen, eine Feuerwelle fegte über die drei Soldaten hinweg. Marcus und Philipp warfen sich zu dem stöhnenden Verwundeten auf den Grund der Grube, in der sie in Deckung gegangen waren. Für einen langen Moment lagen sie alle dicht nebeneinander. Zitterten. Die Luft stand in Flammen.
„Es. Tut. Weh. Marcus, ich will nicht sterben.“ Paul wurde jetzt schnell schwächer und er wusste es. Und er wollte, dass sein Freund Marcus es ebenfalls wusste. Paul klang weinerlich, aber zum ersten Mal in seinem Leben war ihm das egal. Die Schmerzen, so schreckliche Schmerzen, waberten von der Körpermitte in Arme und Beine.
Der Boden bebte erneut. Erde rieselte hinab, stäubte auf Marcus’ angstverschwitzte Uniform und fiel in Pauls klaffende Wunde. Von irgendwo kam Rauch, aber die Hitze ließ allmählich nach.
„Viel Zeit bleibt uns wohl nicht mehr“, stellte Philipp gewohnt nüchtern fest, richtete sich vorsichtig wieder auf und spähte über den Grubenrand. Eine graubraune Wüste mitten im Nirgendwo, eine trostlose Mondlandschaft bot den Hintergrund für diesen gottverdammten, namenlosen Krieg, der Philipp alles, aber auch alles, kaputt machte. Staubschwaden zogen über den Kratern dahin.
Heimweh packte Philipp mit kalter Hand um die Brust. Marie-Celine war gerade im vierten Monat schwanger, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Die Vorstellung, dass seine Zwillinge inzwischen zwei Jahre alt sein mussten, erschien Philipp vollkommen absurd. Er hatte Marie geschworen, dass er zu ihnen zurückkehren würde. Und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dieses Versprechen halten zu können.
Konzentrier dich, du hast dringende Probleme, rief Philipp sich selbst zu Ordnung. Das Gelände war uneben und so sah er wenig, aber das Triumphgeheul vor ihnen hörte er bereits erschreckend laut. Einen Moment später war Marcus neben ihm.
„Wir müssen unbedingt aus diesem Loch raus, sonst werden wir das hier nicht überleben“, sagte Philipp mit gesenkter Stimme zu Marcus.
„Weißt du denn, wohin?“, fragte Marcus ebenso leise zurück, er zitterte noch immer. „Wir sind im Dunkeln aufgebrochen letzte Nacht. Ich könnte beim besten Willen nicht sagen, von wo wir gekommen sind.“
Kaum merklich nickte Philipp zu einem verkohlten Waldgerippe westlich von ihnen. „Wir lagern dort drüben, ich bin mir sicher.“
Marcus starrte lange zu den Baumleichen, die sich schwarz von dem dunstigen Himmel abhoben. „Ich sehe nichts. Das Lager ist weit weg, oder?“
„Ja. Ich seh’s selber auch nicht, aber ich kann mich an den verbrannten Wald dahinten erinnern.“
„Wie sollen wir … ich meine, wir können nicht …“ Marcus machte eine verstohlene Bewegung in Richtung des Verletzten.
Jetzt flüsterte Philipp: „Hör zu, ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben. Wir müssen -“
„Philipp, ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich kenne ihn, seit wir Kinder waren. Ich kann nicht einfach -“
„Und wenn schon“, zischte Philipp zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wozu soll es gut sein, bei ihm Wache zu halten? Er kommt hier nicht mehr weg, er stirbt so oder so. Aber du und ich, wir haben noch eine Chance. Und die müssen wir nutzen. Das bist du deiner Familie schuldig. Denk an Oma und Opa. Du bist verheiratet, du hast einen Sohn. Um Gottes Willen, denk an deinen Kleinen. Gerade er sollte nicht ohne Vater aufwachsen.“
„Paul ist mein bester Freund.“
„Schön, und ich bin dein Bruder. Du kannst mir später die ganze Schuld geben, wenn du willst. Aber bitte, sei in dieser Sache vernünftig. Es geht nicht anders. Anders kann ich uns nicht hier rausholen, verstehst du?“
Marcus kämpfte mit sich und verlor. „Ich … wir müssen ihm Wasser da lassen, ja?“
„Ja, natürlich.“
Beide fuhren herum, als sie das Wimmern hörten.
„Lasst mich nicht hier liegen! Marcus, du würdest mich doch nicht hier zurücklassen! Lasst mich nicht hier verrecken, hört ihr? Hört ihr? Nach allem, was … Marcus, wie kannst du nur …“ Die Worte gingen in ein so klägliches Schluchzen über, dass es selbst Philipp den Magen herumdrehte. Er sah auf das zerfleischte Bündel Mensch hinab, das zu seinen Füßen lag.
Dabei ist es nicht mein Magen, der nicht mehr an seinem Platz ist, dachte er grimmig.
Marcus wechselte einen Blick mit seinem Bruder, dann ging er neben Paul auf die Knie. „Paul, Paul beruhige dich. Niemand wird hier irgendwen zurücklassen, in Ordnung?“, sagte er und legte Paul eine Hand auf die Schulter.
Paul schrak erst unter der Berührung zusammen, doch dann ergriff er Marcus’ Arm und richtete sich auf. „Versprich es mir! Bitte!“
Blut rann aus Pauls Mund. Marcus war entsetzt über die Kraft, mit der Paul sich plötzlich an ihn klammerte. Beinahe hätte er ihn grob zurückgestoßen. Er beherrschte sich und packte Paul stattdessen an beiden Schultern, um ihn zu stützen.
„Bitte, bitte. Bitte hilf mir. Lass mich nicht alleine.“
„Ich schwöre es. Ich gebe dir mein Wort. Leg dich wieder hin. Und du solltest ab jetzt versuchen, nicht mehr zu sprechen“, sagte er mit so fester Stimme, wie er konnte.
Paul entkrampfte sich. Sein Mund versuchte ein Lächeln. Marcus ließ Pauls Oberkörper behutsam zurücksinken, bis dieser wieder auf dem Boden lag. Gegen die schwarze Erde sah Pauls Gesicht scheußlich weiß aus.
Philipp sah ihnen zu, seinem viel zu netten kleinen Bruder und dessen nichtsnutzigem Freund. Es kam Philipp vor, als wäre er von beiden sehr weit weg. Er lehnte mit dem Rücken am Rand der Grube. Sein Körper war steif vor Angst und Anstrengung.
Wie soll das weitergehen, dachte er. Kurz nach der Verzweiflung kam die Wut.
Wir können ihn hier nicht rausschaffen. Und mit ihm zu warten, nützt ihm nichts. Und uns noch weniger. Das Beste wäre doch, wir würden es für ihn beenden, schnell und schmerzlos. Ein Akt der Gnade. Das Beste für uns alle.
Da hob Marcus den Kopf und sah ihn an, etwas Endgültiges in den Augen. Und er verstand. Marcus würde Paul nicht im Stich lassen, jetzt nicht mehr. Guter, alter Marcus. Dann mussten sie wohl alle drei hier ausharren. Bei diesem Gedanken füllten sich seine Augen mit Tränen.
Der Nachmittag, den sie in der Grube verbrachten, schien für immer dauern zu wollen. Widerwillig neigte er sich der Nacht entgegen, die Schatten wurden lang und das Licht orange. Noch immer Kämpfe ringsum. Metallische Geräusche, kleinere Explosionen, einige in weiter Ferne, andere ganz nah. Marcus war tatsächlich - es musste eine Folge der extremen Erschöpfung sein, dachte Philipp – eingeschlafen. Er weinte im Schlaf. Philipp lag auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch verschränkt, und starrte in den kupferfarbenen Himmel empor. Gierig trank er den Anblick in sich hinein. Für später. Innerlich sagte er Marie und den Zwillingen Lebewohl.
Allein Paul fand keine Ruhe. Es war beeindruckend, wie hartnäckig der sich ans Leben klammerte, dachte Philipp. Soviel Ausdauer hätte er einem verwöhnten Sohn reicher Leute eigentlich gar nicht zugetraut. Beinahe völlig ausgeblutet und trotzdem versuchte der immer noch zu sprechen.
„Wieso. Versuchen. Wir. Nicht. Hier. Weg…. Müssen. Doch. Hier. Weg….“
Beeindruckend, aber nervtötend war es außerdem. Überhaupt nahm er Paul dieses ganze Heldengetue einfach nicht ab. Er hätte seinen Bruder schon selber getragen, damals, bei dieser Sache mit Marcus’ Bein. Wenn er die Chance gehabt hätte. Aber da kam dieser Typ, der in seinem Leben noch nie Verantwortung für irgendwen übernommen hatte, und spielte sich so auf. Klar, irgendwo sollte er Paul dankbar sein, dass der Marcus gerettet hatte. Aber ganz ehrlich, er hatte Paul nie gemocht.
„Paul, halt den Mund. Wir würden liebend gerne hier weg, aber so wie ich das sehe, bist du im Moment nicht besonders gut zu Fuß.“
Es schien beinahe so, als zitterte Pauls Stimme vor Zorn und nicht vor Erschöpfung: „Tragt. Mich.….“
„Dich tragen?“, höhnte Philipp und setzte sich auf. „Dich tragen? Du hast es doch nicht mal ausgehalten, als wir versucht haben, dich aus diesem Loch hier zu heben. Bei deinem Gekreische ist es ein Wunder, dass sie nicht schon längst jemanden geschickt haben, um uns hier aufzuspießen. Das ist es übrigens, was sie tun werden. Uns aufspießen wie die Ratten“, setzte er bitter hinzu.
Und mit einer plötzlichen Grausamkeit, die aus dem Nichts zu kommen schien, spie er dem Sterbenden ins Gesicht: „Du weißt, dass das deine Schuld ist, oder Paul? Du weißt, dass du uns alle umbringst? Und es ist dir egal, nicht wahr? Oh, du dreckiger Scheißkerl, du elendes Arschloch, du -!“
Er bereute es, sobald es ausgesprochen war, aber es war zu spät. Er war laut geworden. Jetzt sah er in die geweiteten Augen seines Bruders.
„Hör auf damit“, sagte Marcus leise, „hör sofort auf damit.“
Die Worte schnitten schmerzhaft durch Philipp hindurch. Einen Moment war von Philipp nichts übrig, doch dann begegnete er zufällig Pauls Blick. Was er sah, war grauenvoll.
Marcus beugte sich jetzt über Paul. „Und du, Paul, hör endlich auf zu reden. Die Blutungen werden davon jedes Mal stärker.“
Paul sah hoch in Marcus’ ehrlich besorgtes Gesicht. Du Träumer, dachte er ungläubig, als wenn das jetzt noch einen Unterschied machen würde. Die Schmerzen strahlten von seinem Bauch bis in die Fingerspitzen, warum konnte es nicht endlich aufhören, warum … Marcus war so ein Idiot! Warum eigentlich hatte der nichts abgekriegt? Marcus war doch sonst auch immer der Verlierer gewesen, als kleiner Junge schon. In der Schule, bei den Mädchen, Paul hatte immer die Nase vorn gehabt. Doch Paul war es jetzt, der den Tod vor Augen hatte. Und sobald er selber gestorben wäre, würde sich Marcus in Sicherheit bringen. Das war nicht fair. Wer hatte denn hier wen gerettet, hm? Wer hatte denn wen tagelang durch die Wüste geschleppt? Scheiße, ohne ihn wäre Marcus doch längst krepiert!
Es war einfach nicht gerecht. Dutzendfach hatte er in diesem Krieg sein Leben für andere riskiert, er wollte seine Belohnung, verflucht. Zumindest wollte er wenigstens überleben, das war doch wohl nicht zuviel verlangt.
Wer war Marcus überhaupt? Was für ein Leben wartete denn schon auf den?
Ein Verlierer war der, jawohl. Straßenreiniger oder irgendsowas, irgendwer, der ständig im Müll wühlte. Marcus’ Frau sah aus wie eine Seekuh und der Sohn war ein Krüppel! Dann schon lieber gar keine Familie.
Aber Marcus würde leben. Und er, Paul, würde hier ersaufen in seinem eigenen Blut.
Marcus, der Idiot, würde leben. Marcus würde leben. Er nicht.
Wer hatte diese alberne Entscheidung getroffen? Hatte er da nicht ein Wörtchen mitzureden? Er verdiente das Leben mehr als Marcus. Selbst dieses Weichei von einem Bruder hatte das eingesehen. Philipp und Paul hatten sich gegenseitig durchschaut. Nur Marcus durchschaute natürlich nie jemanden.
Nein, so konnte Paul nicht sterben. Nicht, wenn Marcus überlebte.
Die Dunkelheit kam abrupt, der Himmel war schwarz und ohne Sterne. Die Soldaten in der Grube lagen regungslos und lauschten auf die plötzliche Stille. Zwei kämpften um den Schlaf und einer dagegen. Mit unendlicher Anstrengung bewegte Paul seinen Arm. Ihm war furchtbar kalt. Marcus warmer Körper lag gleich neben ihm, auf der Seite, aber das Gesicht von ihm abgewandt. Wie eine enttäuschte Geliebte. Jede Bewegung war schwer. Mühsam, das Messer aus dem Gürtel zu ziehen. „Tut mir leid“, flüsterte er. Dann trieb er die Klinge tief in den Rücken seines Freundes.