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Lass uns von der Brücke springen
Vor einigen Jahren lud mich ein Freund, den ich beim Flusssurfen in Bremgarten getroffen hatte, zu seiner Wohnungsparty in Zürich ein. Es war ein Samstagabend Anfang Juli, als ich an der angegebenen Adresse an der Langstrasse klingelte. Eine Frau öffnete die Tür und musterte mich prüfend.
„Du bist ein Freund von Marco? Du bist früh, wir sind noch am Vorbereiten, Marco ist beim Einkaufen.“
Sie war etwa gleich alt wie ich, fünfundzwanzig Jahre, und blickte mich herausfordernd an. Ich deutete etwas verunsichert auf meine Sporttasche.
„Ah, soll ich in einer Stunde wiederkommen? Wollte sowieso noch schwimmen gehen.“
Da lächelte sie.
„Nein, komm rein. Es ist sowieso fast alles fertig. Ich heisse Madeleine, aber alle nennen mich Maddie. Ich kann dir schon mal die Wohnung zeigen.“
Sie drückte mir ein Bier in die Hand und führte mich durch die Räume, welche ziemlich ungepflegt aussahen: Staub, jahrzehntealte Möbel, Regale aus Backsteinen und Brettern, eine alte Tischtennisplatte als Esstisch. In ihrem Zimmer hingen Zeichnungen, Gebäude und Räume in ungewohnten Formen, dazwischen Personen und Gesichter. Sie studiere Architektur an der Technischen Hochschule und sei erst vor einer Woche hier eingezogen. Zurück im Wohnzimmer blickte sie auf meine Sporttasche am Boden.
„Wo wolltest du denn hier Schwimmen gehen?“
„An der Limmat, nicht weit von hier. Kennst du den Ort nicht?“
„Nein. Am besten zeigst du es mir gleich kurz. Die Leute kommen sowieso erst gegen zehn Uhr.“
Ohne meine Antwort abzuwarten, ging sie in ihr Zimmer und packte ihr Badezeug in eine Tasche.
Wir gingen die Langstrasse entlang Richtung Fluss, vorbei am Limmatplatz und geradeaus weiter über die Kornhausbrücke. Mitten auf der Brücke blieb Maddie stehen und lehnte sich über das Geländer. Es war bereits fast dunkel, unter uns lagen auf beiden Seiten der Limmat die Bars und Holzstege, immer noch voll mit Leuten.
„Lass uns von der Brücke springen!“ sagte sie plötzlich.
„Wie, von hier? Kann man das überhaupt, ich meine, ist das Wasser tief genug?“
„Keine Ahnung. Wir versuchen‘s einfach.“
„Aber dann gehen wir erst mal runter an den Fluss, ziehen uns um, und dann schauen wir nochmal, ok?“
„Ok.“
Wir stiegen hinter der Brücke die Treppe hinunter an den Fluss und zogen uns um. Maddie lief gleich wieder los Richtung Treppe. Besorgt folgte ich ihr, schaute auf die Brücke und auf den Wasserstand. Das Brückengeländer lag etwa acht Meter über dem Wasser. Oben auf der Brücke gingen wir in Badehosen auf dem Gehsteig bis zur Mitte der Brücke, der Verkehr direkt neben uns. Zwei Fahrradfahrer hielten etwas entfernt an und schauten uns zu. Ich lehnte mich über das Geländer und sah in einiger Entfernung den dunklen Fluss.
„Maddie, du bist echt verrückt.“
Sie nickte, kletterte über das Geländer und hielt sich hinter dem Rücken mit den Händen fest. Vorsichtig kletterte auch ich auf die andere Seite. Sie schaute mir zu und lachte:
„Bist du nervös?“
„Hör mal, wir haben keine Ahnung, wie tief das Wasser hier unten ist.“
Da wandte sie, ohne das geringste Anzeichen von Anspannung, den Blick zurück nach unten und stiess sich von der Brücke ab.
Ich atmete tief durch und sprang hinterher, als ich sie unten wieder auftauchen sah. Das Wasser war tief genug, ich tauchte einige Meter neben ihr wieder auf. Wir blickten uns an und lachten los, so dass ich mich kaum über Wasser halten konnte.
Etwas weiter flussabwärts stiegen wir aus dem Wasser, immer noch laut lachend, und gingen dem Ufer entlang zurück. Plötzlich hörte ich, dass sich Maddies Lachen änderte und in leises Schluchzen überging. Ich blickte mich um und sah, dass sie weinte.
„Was ist los, Maddie?“
Keine Antwort. Sie weinte auf dem ganzen Weg zurück zum Holzsteg, wo wir unsere Sachen zurückgelassen hatten. Ich ging schweigend neben ihr. Sie sprach erst wieder, als wir uns abgetrocknet und angezogen hatten.
„Lass uns feiern gehen. Ich will jetzt Party machen. Gehen wir in eine Bar an der Langstrasse oder so.“
„Wie jetzt, in eine Bar? Ich gehe zurück an die Party in deiner Wohnung. Aber erst bleibe ich noch eine Weile hier und trinke etwas, wo’s hier draussen endlich mal schön warm ist.“
Ihr launisches hin und her nervte mich, ich setzte mich auf den Holzsteg. Schweigend setzte sie sich neben mich. Es war mittlerweile dunkel geworden.
„Was ist eigentlich los? Erst springst du von der Brücke, dann lachen wir uns fast tot, und dann weinst du. Erklär mir das bitte mal.“
Und da begann Maddie, ihre Geschichte zu erzählen. Sie sei verzweifelt, wisse nicht mehr weiter. In der Nacht schlafe sie nicht, am Morgen bliebe sie am liebsten im Bett. Vor etwa einem Monat hatte sie ihre Stelle im Architekturbüro gekündigt und ihr Studium abgebrochen. Sie habe es einfach nicht mehr ausgehalten, den ganzen Tag im Büro, die ewiggleichen Projekte. Dabei war sie nur deswegen nach Zürich gezogen. Architektur sei ihre ganze Motivation gewesen, sie habe so viel dafür getan. Um einmal erfolgreich zu sein, es den anderen zu zeigen. Seither arbeitete sie als Aushilfe in einem Restaurant und war in die billige Wohnung an der Langstrasse gezogen. Ihren Eltern hatte sie nichts erzählt, sie habe sowieso kaum Kontakt zu ihnen. Denn sie war als Jugendliche nach Chur gezogen, zu einer Freundin ihrer Mutter, da es in der Schule in ihrem Dorf einfach nicht mehr ging; sie sagte nicht weshalb. Es habe damals keine andere Möglichkeit gegeben, es gäbe in dem kleinen Bergdorf, wo sie aufgewachsen war, nur eine Schule.
Bis spät in der Nacht sassen wir an jenem Samstagabend auf dem Holzsteg an der Limmat und redeten. Danach habe ich für Jahre nichts mehr gehört von Maddie. Bis ich vor einigen Wochen im Zug gedankenverloren durch das Gratismagazin Friday blätterte und auf ihr Foto stiess. Gemäss dem Artikel neben ihrem Foto ist sie jetzt erfolgreich als Künstlerin tätig, arbeitet für ein bekanntes Modeunternehmen und stellt erstmals ihre Werke in einer Zürcher Kunstausstellung aus.