Lass uns nicht allein in der Wirklichkeit
Vor dem Fenster tanzen bunte Blätter unbekümmert im Wind.
Die warmen Strahlen der Herbstsonne fallen durch das Fensterglas und tauchen den Raum in ein sanftes Gold.
Das Mädchen sitzt im Schneidersitz auf dem Teppich, vor ihr eine Leinwand und neben ihr eine Palette mit einer Vielfalt verschiedener Farben.
Wie von selbst gleitet der Pinsel in ihrer schmalen Hand über die Leinwand und die feinen geschwungenen Pinselstriche vereinen sich zu gelb gefärbten Blättern, dunkel glänzenden Kastanien und dem roten Fell eines kleinen Eichhörnchens, das so lebendig wirkt, als könnte es, wenn es wollte, aus dem Bild heraus hüpfen.
Ein friedliches Lächeln umspielt die Lippen der Künstlerin und ihr Körper wiegt sich sanft hin und her, als gäbe es eine Melodie, die nur sie hören kann.
Von draußen hört man die Schritte einer Person. Das Laub raschelt unter den Schuhen. Wenig später wird eine Tür aufgeschlossen.
Das Mädchen beginnt leise, ihre Melodie zu summen.
Ein Mann öffnet die Tür und tritt hinter dem Mädchen in den Raum. Die leise Melodie verstummt. Ein kalter Luftzug weht herein und das Mädchen beginnt zu frieren.
"Melanie!" Die harte Stimme des Mannes durchschneidet die harmonische Atmosphäre.
Sie dreht sich nicht um. Noch immer wiegt sie sich langsam zu ihrer Melodie. "Hast du sie aus der Schule abgeholt, Melanie? Antworte mir!" Die Spitze des Pinsels in ihrer Hand beginnt leicht zu zittern. Endlich reagiert sie. Langsam wendet sie ihr Gesicht dem Mann zu. Eine Wolke hat sich vor die Sonne geschoben und verwehrt den warmen Strahlen ihren Weg in den Raum. In dem grauen Licht wirkt ihre Haut blass und leblos. Ihre Wangen sind eingefallen und die Augen ohne jeglichen Glanz.
"Melanie! Hast du unsere Tochter abgeholt?"
Die junge Frau schließt die Augen und schüttelt vorsichtig, kaum merklich den Kopf. Der Mann beugt sich zu ihr herunter.
"Sie ist dein Kind. Unser Kind. Du kannst sie jetzt nicht im Stich lassen. Sie trauert ebenso sehr wie du und ich. Lass mich mit unserem Kind nicht alleine, Melanie." Die Augen der Frau sind noch immer geschlossen. Mit ihren dürren Fingern umklammert sie den Pinsel. "Ich brauche dich, Melanie. Du kannst dich nicht einfach in deine eigene Welt zurückziehen und die Wirklichkeit ignorieren." Keine Reaktion. Die Frau öffnet ihre Augen nicht. Sie sieht nicht, wie dem Mann stille Tränen der Wut und Verzweiflung über die Wange rollen. Er verharrt noch einen Augenblick, dann steht auf und verlässt den Raum. Und während er den Flur entlang geht, hört er wie das Mädchen leise ihre Melodie weiter singt.