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Lass uns etwas Schuli machen
Wütend riss sie den Geschirrspüler auf. Die untere Lade krachte aus ihrer Halterung.
„SCHEIßE!“
rief sie und fuchtelte mit den Armen in der Luft.
„Wegen dir mach ich hier alles kaputt!“
Katrin fühlte dieses altbekannte Schuldgefühl an ihr nagen, obwohl sie wusste, dass sie nichts dafür konnte. Sie hatte Angst, dass ihre Mutter noch mehr ausrastete.
Aufgebracht griff Andrea nach dem Brotmesser –ein Schrei. Das noch kochend heiße Messer klirrte zu Boden.
„Aua! Ich hab mich verbrannt!“
Wieder überkam Kathrin eine seltsame Art des Mitgefühls mit ihr und der Angst um sich und auch eine Sorge um ihre Mutter Andrea. Zusammengekauert saß sie auf dem Stuhl, die Vokabelmappe lag aufgeklappt neben ihr auf dem Tisch. Es war früher Abend. Ihr Vater sollte jeden Moment von der Arbeit zurückkehren.
Sie musste sich zusammenreißen nicht aufzuspringen, als ihre Mutter schrie:
„Wegen dir hab ich mich jetzt auch noch verbrannt!“
Die Teller im Geschirrspüler klirrten, als Andrea versuchte, einen vor Hitze dampfenden Becher herauszunehmen und ihn wieder fallen lies und erneut
„Aua!“
rief.
„Das TUT WEH! Du willst dass ich sterbe! Du willst mich umbringen!“
Kathrin fühlte einen kalten Stich in ihrem Herzen und klammerte sich am harten Stuhl fest. Die Sorge um ihre Mutter wich Kälte und Angst. Andrea fasste einen heißen Teller an.
„Au! Scheiße! Ich kann nicht mehr!“
und griff nach einem zweiten
- „Hör auf! Hör auf!“
schrie Kathrin panisch.
„Du tust dir ja selbst weh! Der Geschirrspüler ist noch gar nicht fertig gewesen, warum machst du das?“
Tobend und schluchzend zeigte Andrea ihr die frische Brandblase, eine große rote Wunde am Zeigefinger.
„Siehst du, was du mir antust? Verbrannt habe ich mich! Wegen dir! Du faule, dumme Nuss! Was heißt ‚ein Gürtel’ auf Französisch?“
Kathrin schwieg. Andrea wusste doch, dass sie die Vokabel nicht konnte.
„Was? Was sagst du?? Ach wieder nicht! Also? Was heißt das? Du sollst mir-“
Sie nahm die Mappe und Kathrin stand voller Panik vom Stuhl auf, rannte um den Tisch herum und einen Meter in den Raum hinein als ihre Mutter ihr völlig aufgelöst folgte und nach ihr schlug „ANT-WORTEN!“.
Da stand sie armselig und vor Angst gelähmt im Wohnzimmer, Kathrin, ein Mädchen von 22 Jahren. Mit 19 von der Schule geflogen wegen einer schweren Depression. Danach 3 Jahre Fernschule. Eine gescheiterte Existenz. Sinnlos das ganze.
Die Illusion dass ihr Vater sie verteidigte hatte sie schon seit einiger Zeit aufgegeben auch wenn eine leichte Hoffnung sie einfach nicht verlassen wollte.
Die Tür fiel ins Schloss. Er war da. Auch das noch. Ihr Vater, Ralf, war nach Haus gekommen.
“Ralf, komm mal!“ schrie Andrea.
Er kam in die Wohnzimmertür und sah Kathrin mit dieser Mischung aus Trotz, Zorn und Verzweiflung an, die sie so oft fälschlich zu ihren Gunsten gedeutet hatte.
"Deprifresse"
flüsterte er im Vorbeigehen in ihr Ohr.
Noch mal Glück gehabt, Kathrin atmete auf, sie sah, dass er sie diesmal nicht wütend angreifen wollte.
"Was ist denn hier schon wieder los?"
fragte Ralf, unterschwellige Aggression und Verzweiflung im Ton während er Kathrin wütend beäugte.
"Sie hat mir an der Geschirrspülmaschine wehgetan!"
brüllte Andrea und zeigte die Brandblase.
"Ich hab ihr nicht wehgetan! Das war - der Geschirrspüler, der war noch nicht ganz fertig!"
wehrte sich jetzt Kathrin entsetzt.
"Da kann ich doch nichts dafür!"
Nachdem sich ihr Vater einen Überblick über die Situation verschafft hatte, sagte er schwach
"Aber Andie, du kannst doch nicht das Kind so schlecht behandeln. Das ist doch menschenunwürdig.."
-„Ralf! Du musst einkaufen gehen! Ich hab hier zu tun!“
kreischte Andrea voller ernsthafter Verzweiflung.
Und diesmal hätte sie keine Verteidigung erwartet. Kathrin wurde elendig zumute. Sie spürte, dass ihre Mutter sich diesmal auch für die Verhältnisse ihres Vaters zu übertrieben über die zweite Vokabel aufgeregt hatte, die sie nicht gewusst hatte...Ein Gürtel... Sie fragte sich ob ihr Vater manchmal traurig darüber war, wenn sich ihre Mutter derart aufregte. Ein Gürtel... Nicht selten sagte Andrea zu ihr, dass sie eines Tages wegen Bluthochdruck sterben würde, immer bei 'Schuli abfragen': "Du schaffst es noch mich ins Grab zu bringen." Früher hätte Kathrin dann geweint. Oft antwortete darauf ihr Vater "Dass du Mutter schaffst, das denkst du vielleicht. Aber mich wirst du nicht so schnell fertig machen. Und wenn sie stirbt- dann mach ich dich fertig." -"Ach komm, Ralf, lass sie mal." sagte Andrea dann...
"Ich muss jetzt aufpassen."
dachte sich die Tochter und gab sich einen Ruck.
Langsam kam sie wieder in die Realität zurück.
"Ach es ist nichts Ralf. Geh du erstmal einkaufen." beschwichtigte Andrea Ralf mit frustrierter Stimme.
„Wir machen das jetzt ganz schnell zu Ende, nicht wahr, Kathrin? Und du beeilst dich.“
fügte sie plötzlich, diesmal in einem freundlichen Tonfall, hinzu.
Eigentlich war doch ihre Mutter so oft viel freundlicher zu ihr als Ralf. Sie hatte Kathrin oft vor seinen 'üblen Launen', wie sie zu sagen pflegte, verteidigt. Nur wenn es halt um ‚Schuli machen’ ging...
Spät am Abend fragte Kathrin ihren Vater, der völlig abgekämpft und fertig nach Hause kam, wie es ihm ginge. Er sah so armselig aus, dass sie es fühlte, dass er ein liebes Wort gebrauchen könnte:
„Wie wohl. Im Gegensatz zu dir arbeite ich. Gehe danach noch abends einkaufen. Während die einen faul sind, sind die anderen fleißig.“
- „Ich bin nicht faul“
sagte sie
„ich kann es nur nicht gut. Mit meiner Konzentration ist es schwierig und ich kann mir nicht gut Sachen merken. Ich bin häufig abgelenkt, irgendwie unmotiviert und-“
sie sah Ralfs Blick und wechselte das Thema.
„Was denkst du eigentlich über die Sache von vorhin mit Mama? Sie kann oft so lieb sein und dann, wenn es um Schule geht, ist sie auf einmal wie verwandelt...“
- „Weißt du, es ist ganz einfach.“
antwortete Ralf, überraschenderweise ruhig, freundlich aber bestimmt.
„Da ist eine Sache die du dir genau merken musst.“
Freudig hörte sie ihm zu, um sich jedes Wort genau einzuprägen:
„Das alleinige - und ausschließliche - Unglück bist du. -und nur du allein.“